Wir haben es geschafft, den ersten Akt dieses Fests der Demokratie zu überstehen und nicht einmal ernsthaft zu streiten. Nun, wir nannten einander wechselseitig am Sonntagabend „Idioten“, aber das war eher im Eifer des Gefechts. Bis Montagmorgen hatten wir uns alle etwas abgekühlt und beruhigt. Die dreiwöchige Pause zwischen den Akten gibt uns die Möglichkeit, die Gedanken zu sammeln, zu überdenken, was passiert ist, und vorherzusagen, was geschehen wird.
Nachdem 100 Prozent der Stimmen ausgezählt sind, haben wir folgendes Ergebnis:
Es unterscheidet sich nicht wesentlich von den Ergebnissen der Nachwahlbefragungen. Und die Befragungen nach Stimmabgabe unterscheiden sich nicht grundlegend von den Ergebnissen der jüngsten Meinungsumfragen (wir berücksichtigen marginale und taschensoziologische Institutionen hier nicht). Und das bedeutet, dass die Gerüchte über den Tod der ukrainischen Soziologie offensichtlich übertrieben waren. Sie lebt, sie arbeitet und gibt angemessene Ergebnisse. Dies ist bereits ein großer Sieg der Demokratie und der Zivilgesellschaft, was die Wahlen am Sonntag gezeigt haben.
Der zweite Sieg der Demokratie ist schon, dass als Führer im Rennen sich ein Mann herauskristallisiert hat, der nicht nur nicht aus dem Machtzirkel stammt, sondern auch nicht aus der Opposition, also nicht aus dem politischen System. Die Politikwissenschaftler haben wiederholt die Aussage bekräftigt, dass unser politisches System so geformt ist, dass kein Fremdkörper dort eindringen kann. Wie die Ergebnisse der Umfragen zeigten, war dies möglich und sogar sehr leicht, als handelte es sich um Öl.
Jetzt kann man natürlich darüber streiten, wie sehr antisystemisch Wolodymyr Selenskyj ist. Ein Antisystemischer grundsätzlich und nicht nur der Form nach. Auf jeden Fall haben die Ukrainer gezeigt, dass sie der Gesichter der politischen Nomenklatur müde sind und etwas Neues suchen. Am Ende ist dieser Trend nicht unsere Ausgeburt, wir haben ihn von den westlichen politischen Trends aufgeschnappt, was einen nicht nur freuen kann.
Man hätte natürlich gewünscht, dass unser „Anti-establishment“ – Führer eine Person würde, die es bereits geschafft hat, sich als Kämpfer gegen Korruption und andere Unvollkommenheiten des herrschenden Systems zu beweisen. So eine Art „Schabunin“ [Witalij Schabunin, Chef des sogenannten Zentrums zur Bekämpfung der Korruption, war 2015-2017 Leiter zivilen Kontrollrates des Nationalen Ukrainischen Antikorruptions-Büros, Anm. d. Ü.]). Nicht ohne Grund haben sich die Behörden bemüht, gerade solche jungen Enthusiasten zu kompromittieren, so dass das Wort „Korruptionsbekämpfer“ eine abwertende Konnotation erhielt. Übrigens haben hier die Medien der „oppositionellen“ Oligarchen mit den Behörden unisono gehandelt. Jetzt haben wir, was wir haben. [„Wir haben, ws wir haben“, Titel der politischen Autobiografie Präsident Leonid Krawtschuks]
Am Ende war der erste Platz des Präsidentschaftsrennens bereits im Voraus festgelegt, so dass am 31. März der Hauptkampf der um den zweiten Platz war. Auf diesen wurde mit unglaublichen Schwierigkeiten der derzeitige Präsident Petro Poroschenko gewählt (15,95 Prozent). Erst auf der Zielgerade gelang es ihm, das Rating auf den gewünschten Wert zu erhöhen. Ob dank des Wahlslogans „Sprache, Glaube, Armee“, ob aufgrund des Wunsches eines bestimmten Teils der Wählerschaft nach Stabilität, man sagt, beim Übersetzen werden die Pferde nicht gewechselt, Krieg, Oberbefehlshaber usw.
Man kann nicht behaupten, dass Petro Olexijowytsch Poroschenko überhaupt nichts unternommen hat, wenn man rein reelle Fälle berücksichtigt. Bereits die Visafreiheit ist was wert. Das mögen zwar nur Ukrainer schätzen, die mehr oder weniger regelmäßig im Ausland reisen, aber diese reichen für den Wahlerfolg eindeutig nicht aus. Man kann seine gründliche Arbeit nicht leugnen, um den Tomos [der kirchlichen Autokephalie aus den Händen des Ökumenischen Patriarchats, Erg. d. Ü.] zu bekommen. Das Ereignis war ziemlich prominent, obwohl eher symbolisch als pragmatisch. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats wirkt weiterhin wie eh und je in der Ukraine, dominiert die herausragendsten Klosteranlagen, und ist nicht besonders darauf aus, die Ortskirche formal zu etablieren.
Die Sprache ist wiederum eine zweifelhafte Leistung, da das Gesetz dazu noch nicht verabschiedet wurde. Und die Hauptschuldigen dieser Verzögerung waren wohl Mitglieder der Parlamentsfraktion des Präsidenten. Um die Armee steht es schlimmer. Die Swynartschuks [Oleh Swynartschuk bzw. Hladkowskyj, Geschäftspartner von Poroschenko, bis zum Skandal Anfang Februar leitender Funktionär im ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrat] bestehlen sie um Hunderte von Millionen und bleiben, ohne dass man ihnen das Handwerk legt. Hat Poroschenko wirklich die Umsetzung all seiner halben Sachen in die zweite Amtszeit verschoben? Vielleicht wird jemand sein Vertrauen daran bis zum 21. April behalten.
Julja Tymoschenko, die bereits zum dritten Mal an Wettbewerben für das höchste Staatsamt teilgenommen hatte, hoffte, dass sie dieses Mal wie bei den beiden vorherigen auch „Silber“ gewinnt. Um so mehr, als die Vorwahlsoziologie diese Möglichkeit angesichts des statistischen Fehlers eingeräumt hatte. Diesmal wendete sich der Erfolg jedoch von der „Gasprinzessin“ ab und sie musste sich mit „Bronze“ (13,40 Prozent) zufriedengeben.
Und dies kann angesichts des anhaltenden Populismus ihres Programms und der Wahlslogans nur trösten. Bereits eine Werbetafel mit dem Versprechen, die Gaspreise zu halbieren, ließ Zweifel an der Realität des „Neuen Kurses“ von Tymoschenko aufkommen. Und nicht umsonst: Unabhängige Wirtschaftsexperten haben dieses Programm analysiert und es Stein für Stein zerlegt.
Was bleibt jetzt Julja Wolodymyriwna? Einen Schrei auszulösen, dass, wie man sagt, Stimmen gefälscht wurden, und dann einen weiteren Majdan zu organisieren? Das ist unwahrscheinlich. [sie akzeptierte die Niederlage relativ schnell und hat die Parlamentswahlen ins Visier genommen, A.d.R.]
Erstens haben die westlichen Wahlbeobachter bereits verkündet, dass die Wahlen offen und ehrlich abgehalten wurden. Innenminister Arsen Awakow versicherte außerdem, dass es am 31. März keine kritischen Verstöße gab, sondern nur einige Vorfälle. Und er hat, wie Sie wissen, fast offen mit Tymoschenko gespielt. Daher erscheint die Klage gegen Fälschungen noch hoffnungsloser als im Jahr 2010.
Zweitens fühlt sich Julja Wolodymyriwna auf dem Feld der Opposition wie ein Fisch im Wasser, aber sie ist keineswegs eine Rebellin, von ihr geht keine „Freiheit auf den Barrikaden“ aus. In ihren Louis-Vuitton-Klamotten würde sie mit dem Majdan-Publikum schwerlich harmonieren.
Den Rest der Bewerber kann man kurz durchgehen. Als vierter ins Ziel kam der Oppositionsblockmann Jurij Bojko. Sein Ergebnis (11,67 Prozent) zeigt, dass das pro-russische Wahlvolk in der Ukraine zwar hartnäckig ist, aber bereits gar nicht ganz zahlreich ist. So kann man zum Prozentsatz von Bojko, der gerade vor der Wahl zur Kreml-Führung geflogen war, die weiteren Ergebnisse von Olexandr Wilkul (4,15 Prozent) hinzuzufügen – und es ist immer noch nicht bedenklich.
Anatolij Hryzenkos Ergebnis – sieben Prozent – war eine Enttäuschung für das sozusagen „demokratische Lager“. Seine fünfte Position hat bereits den ihm bereits aufgedrängten Slogan bestätigt, „der erste nicht weiterkommende“. Hoffnungen auf einen synergistischen Effekt bewahrheiteten sich nicht, der dadurch ausgelöst wurde, dass mehrere bekannte Kandidaten zugunsten des Obersten zurückzogen, insbesondere der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowyj. Wahrscheinlich muss er bereits darüber nachdenken, dieses hoffnungslose Wahlprojekt endgültig aufzugeben und zur politischen Analyse zurückzukehren, wo er weit größere Erfolge hatte. [Hryzenko sagte bereits, dass er nicht mehr bei Präsidentschaftswahlen teilnehmen wird, A.d.R.]
Der sechste Platz von SBU-Ex-Chef Ihor Smeschko (6,04 Prozent) kann für diese Wahlen jedoch als unangenehme Überraschung angesehen werden. Besonders überraschend ist, dass er ohne auf besondere Wahlwerbung zu bauen (im Vergleich zu anderen Teilnehmern des Rennens) ein solches Ergebnis erzielen konnte. Es stellt sich heraus, dass es in der Ukraine Menschen gibt, die bereit sind, für alte KGB-Leute zu stimmen. Sie schreckte nicht einmal die Beteiligung des Antragstellers an der Vergiftung von Wiktor Juschtschenko im Jahr 2004 ab. Es kann davon ausgegangen werden, dass seine Wähler schlafen und auf dem Thron eine Art „ukrainischen Putin“ sehen, der mit eiserner Hand Ordnung im Land schafft. Zumal auf den Werbeplakaten von Smeschko Drohungen sind jemanden einzusperren. Vielen Leuten gefällt es.
Eine weitere, aber schon angenehme Überraschung ist Platz sieben Oleh Ljaschko (5,44 Prozent). Vor nicht allzu langer Zeit, vor einigen Monaten, hatten ihm Soziologen eine der führenden Positionen vorausgesagt. Folglich wird unsere Gesellschaft allmählich erwachsen und beginnt zu verstehen, was es mit solch einem Populismus auf sich hat, zumindest in seinen überdrehten Erscheinungen. Und hier helfen weder Heugabel, noch Küssen von Kühen, noch das Eindringen in Regierungssitzungen.
Wir haben bereits früher Wilkul erwähnt, so dass wir direkt auf den neunten Platz übergehen, den Kandidaten der Vereinten Nationalistischen Kräfte, Ruslan Koschulynskyj (1,62 Prozent). Seine Ergebnisse bezeugen, dass nationalpopulistische Slogans beim ukrainischen Publikum nicht mehr ankommen. Und hier widerspricht die Ukraine erstaunlicherweise europäischen politischen Tendenzen. Österreich, Italien, Frankreich usw. – dort wächst vor dem Hintergrund einer Migrationskrise überall die nationalistische Stimmung. Diese Trends sind extrem gefährlich, da sie eine existenzielle Bedrohung für die Europäische Union darstellen. Nicht umsonst investiert der Kreml so viel Aufwand, Zeit und Geld für die Fütterung der nationalen Populisten in Europa.
Damit schließen wir die Durchsicht der Teilnehmer des Präsidentenrennens und ihrer Ergebnisse. Des weiteren folgen rein technische Kandidaten oder solche, die von vorneherein keine Erfolgschance hatten.
Lassen Sie uns besser überlegen, was uns am 21. April erwarten wird, das heißt bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen. Bislang sagt die Soziologie den Sieg von Selenskyj im Duell mit dem amtierenden Präsidenten voraus. Beide Kandidaten gaben ihre Absicht bekannt, Live-TV-Debatten durchzuführen. [Die TV-Redeschlacht fand am 19. April im Olympiastadion statt] Man kann nicht bestreiten, dass die Waage in Richtung Poroschenko schwingt. Er hat wiederholt seine Diskussionsfähigkeit bewiesen. In der Zwischenzeit vermied Selenskyj immer wieder Treffen mit der Presse. Und wo er ohne die von den Autoren des Drehbuchs „95. Quartal“ vorbereiteten Drehbücher an die Öffentlichkeit ging, zeigte er sich als alles andere als der perfekte Redner.
Aber Selenskyj hat mehr Chancen, Unterstützung von den Kandidaten zu erhalten, die den Kampf bereits verlassen haben (vielleicht sogar Julja Tymoschenko) [Sie hat ihn zwar nicht unterstützt, ging aber zuletzt von seinem Sieg aus, A.d.R.]. Petro Olexijowytsch Poroschenko indes hat hier viel geringere Chancen. Zum einen hat er es bereits geschafft, alle seine Rivalen als „Protagonisten des Kreml“ zu bezeichnen. Und zweitens ist es unwahrscheinlich, dass die Erinnerung daran, mit welcher Hartnäckigkeit Poroschenko vor drei Jahren seinen Koalitionspartner Arsenij Jazenjuk vernichtet hat, potenzielle Verbündete zur Begeisterung beflügeln wird.
Ich würde es auf keinen Fall wagen, die Ergebnisse der zweiten Runde jetzt vorherzusagen. Alles kann passieren. Lasst uns Geduld haben, lasst uns zusehen. [Zumindest die ukrainischen Akteure aus dem Bereich der Kultur, also Künstler und Schriftsteller, Historiker usw., begnügen sich nicht damit, zuzusehen, sondern unterstützen medial intensiv Poroschenko, es gibt hierzu bereits Zusammenfassungen auf Internetseiten, beispielsweise LitAkzent. Anm. d. Ü.]
1. April 2019 // Ljubko Petrenko
Quelle: Zaxid.net
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