Ins Nichts gehen
Maksim ist 22, schlank, freundlich, vom Alter her noch nicht ernst zu nehmen. Er wuchs im Internat auf und kannte seine Eltern nicht. Seit seiner Kindheit hat er sich Geld verdient: in der vierten Klasse kaufte er ein Telefon, später ein Moped. Früh hat er auch damit begonnen, mit den Mächtigen zu streiten: forderte Schmerzensgeld ein, schrieb Beschwerden über die Qualität des Internatsessens, veranstaltete eine Demonstration von Waisen vor der Gebietsverwaltung, verprügelte einmal sogar einen Beamten, der für die Berufsausbildung verantwortlich war. Maksim fürchtet die Beamten nicht, er hat viele Freunde, für ihn setzen sich Abgeordnete ein und er ist Vorsitzender der gesellschaftlichen Organisation „Vorposten Odessa“.
Die Organisation hilft Heimkindern, eine Wohnung zu finden. Allerdings wohnt Maksim selbst schon das vierte Jahr in einem Zimmer eines Wohnheims am Rand der Stadt. Er hat Autoschlosser gelernt, arbeitet in einer Agrarfirma, studiert an der Universität und hat sogar sein eigenes Geschäft, einen Lebensmittelkiosk im Erdgeschoss. Doch das eigene Leben zu gestalten, wie das Maksim getan hat, sind nicht viele Heimkinder in der Lage.
„Das Internatssystem erzeugt Parasiten“, erklärt Maksim.
Für einige Waisen bedeutet „sein Leben gestalten“, einen Platz in der Berufsschule zu bekommen. Das ist die einzige Chance, die jedem offen steht. Die Ausbildung, die man dort erhält, ist selten eine Quelle für Einkünfte, aber es ist die Möglichkeit, ein selbstständiges Leben zu beginnen.
Das Erwachsenenleben von Maksim und vielen seiner Freunde begann mit 50 Hrwynja und einer Tasche mit Kleidung. Der Lehrer fuhr ihn zur Berufsschule und verabschiedete sich:
„Station „freischaffend“. Spring raus!“
Aus dem Internat in die Berufsschule, aus der Berufsschule wohin auch immer, und häufig ins Nichts. Waisen werden in der Sprache des Gesetzes mit 18 zu „Personen aus der Gruppe der Waisenkinder“ und formal ist weder das Internat noch die Berufsschule weiter für sie verantwortlich. Einigen gelingt es, eine Wohnung zu mieten, manche wohnen kostenlos in einem Sozial-Wohnheim bis sie 23 sind.
Die Leitung von Internaten ist verpflichtet herauszufinden, ob für das Kind ein Wohnplatz am Ort seiner ersten Meldung (woher es bei Eintritt kam) reserviert ist. Und bei Bedarf muss das Waisenkind bis es 16 ist, in der Warteliste für eine Wohnung eingetragen sein. In Wirklichkeit gibt es kein gesamtukrainisches Programm der Versorgung mit Wohnraum. Diese Frage löst jede Region auf ihre eigene Weise.
„Die Beamten sagen, dass Waisen daran gewöhnt sind zu fordern, aber nichts tun. Ich stimme dem zu. Aber im Wohnheim hat einem niemand erklärt, dass es eine Wohnraumerfassung gibt. Alle erfahren davon, wenn sie auf der Straße landen. In Odessa stehen alle diese Programme, und als solche findet keine Versorgung mit Wohnraum statt …“ Maksim wäre auch stolz, über Erfolge der Regierung zu sprechen, aber er findet keine Worte.
Abernds versammeln sich beim Wohnheim die Nachbarn an Maksims kleinem Lebensmittelkiosk: junge Mütter mit Kindern und ihren Freunden, selbst noch fast Kinder. Obwohl das Wohnheim groß ist, kennen sich hier alle: hier bleibt man für länger.
Heute springt Konstantin im Laden ein. In blauem Hemd und Hosen sieht er einem Verkäufer überhaupt nicht ähnlich. Auch er lebte im Internat. Aber Konstantin nennt sein ehemaliges Zuhause lieber Inkubator.
„Das Internat sollte einem sagen, wie es weitergeht. Aber wir haben einfach gelebt und über nichts nachgedacht.“
Konstantin erinnert sich, wie die Lehrer und Erzieher über ihn gelacht haben, Witze machten, dass er ein Versager sei. Aber Konstantin ist es gelungen. Und jetzt ist er in Odessa, studiert an der Universität, lebt in einer Wohnung und träumt vom Unterrichten.
„In der Berufsschule zahlt man den Kindern ein Stipendium von zwei- bis dreitausend Hrywnja. Natürlich, wozu sollen sie noch zum Unterricht gehen. Sie wissen doch, dass sie das Geld sowieso bekommen. Das wird zur Gewohnheit.“
„Und von welchem Geld lebst du jetzt?“ erkundige ich mich bei dem Jungen.
„Ich studiere an der Universität auf dem VI. Niveau der Akkreditierung, sie zahlen ein Stipendium von 5300.“
„Nicht schlecht, bei uns auf Arbeit bekommt nicht jeder soviel Geld.“
„Ja, aber wo in Amerika zum Beispiel sieht man, dass sie Waisen 200 Dollar zahlen?“
Eines von Konstantins Erfolgsgeheimnissen ist es, sich an die Freunde zu halten, die mit ihm den langen Weg gegangen sind. Mit anderen Heimkindern verkehrt er nicht. Er weiß nur, dass Wladimir sich herumtreibt, während in seiner Wohnung Roma wohnen, und dass Stanislaw im Gefängnis ist.
Straßenkinder
Der Haarschnitt an die Null Zentimeter, eine Zigarette in der Hand, am Hals eine silberne Kette – auf dem Foto ist Stanislaw. Mit seinen 20 Jahren sitzt er schon zum zweiten Mal. Er ist in einer Zelle mit 14 Leuten, dreckigen Pritschen und einem verbotenen Telefon für den Kontakt mit der Welt. Manchmal geht Stanislaw ins soziale Netz. Genau dort unterhalten wir uns mit ihm.
„Wenn ich eine Wohnung hätte, dann hätte ich ein Mädchen. Ich hätte den Gedanken, dass mich jemand braucht. Und alles wäre anders.“ Ist sich Stanislaw sicher. (mit Rechtschreibfehlern).
Nach dem Internat ging der junge Mann in die Berufsschule, aber dort hatte er es schwer – das Geld reichte nicht (staatliche Zahlungen erhielt er nach seinen Worten nie), er hatte keine Unterstützung. Eine Wohnung hatte er nicht; übernachtete bei Freunden, mal bei Mädchen. Stanislaw gab auf, schmiss die Lehre und begann zu stehlen. Der junge Mann gibt dem Internat die Schuld an der fehlenden Disziplin:
„Während ich lernte, tat ich, was ich wollte. Den Erziehern war es egal. Und auf sich selbst gestellt, ist es in unserer Zeit schwer zu überleben. Den Erziehern war der Schichtwechsel das Wichtigste. Und um dich hat sich niemand gekümmert.“
Stanislaw mag es nicht „in der Vergangenheit zu wühlen“, aber weil er niemals darüber nachgedacht hat, ist es auch ein bisschen seine Schuld. „Man sollte lieber ehrlich leben“, beteuert er.
Und so lebt Stanislaw. Er fand ein Mädchen in Freiheit, begann eine Telefonbeziehung und markiert die Tage bis zur Entlassung. Ein Jahr ist schon abgestrichen, bleiben noch fünf. „wenigstens kommt das Leben langsam in Ordnung.“ Zur gleichen Zeit treiben sich seine Freunde in Odessa herum, schlafen, wo sie die Nacht überfällt. Sie werden von Freiwilligen gerettet.
Odessa ist ein Umladepunkt. Hier gibt es das Meer und einen frühen Sommer und eine Grenze zu Transnistrien und Moldawien. Schon zwölf Jahre lang hilft an fünf Tagen in der Woche die „soziale Patrouille“ den Straßenkindern, eine Tour von Sozialarbeitern, die Essen anbieten, Kleidung, medizinische Fürsorge und die auch andere Probleme lösen. Vor ihnen hat man keine Angst, man vertraut ihnen. Die Leiterin der Patrouille, Inna Lasarjuk, kennt viele von denen, deren Zuhause Keller, Märkte, Luken, verlassene Häuser und Kollektoren sind. Nach ihren Worten sind es bedeutend weniger Familienkinder auf den Straßen geworden, was man von den Waisenkindern nicht sagen kann:
„Die Zahl der Kids über 18 stieg. Sie haben keine Verwandten, keine Beziehungen. Sie sind es nicht gewohnt, für sich selbst zu entscheiden. Darum ist es für sie viel leichter, auf die Straße zu kommen. Und von dort ist es sehr schwierig und schrecklich wieder wegzukommen. Aber selbst mit den Entschiedenen gibt es ständig Probleme: hier haben sie Dokumente verloren oder noch etwas anderes.“
Inna sagt, dass man in letzter Zeit solche Kinder als Hausmeister einstellt; man zahlt ihnen die Hälfte des Üblichen, aber auch das ist für Einige eine Chance zum Überleben. Nach Innas Worten können die Heranwachsenden, wenn man ihnen auch nur kleinen Unfug durchgehen lässt, es nicht schaffen, die Lösung ihres Wohnungsproblems anzugehen.
„Die Polizei lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Kleinen, besonders auf die in der Fahndung. Aber wenn man abends auf dem Priwos (einer der größten Warenmärkte in Europa – A. d. A.) geht, kann man sehen, wie sich die Waisen an den Metallsammelpunkten, den Abfüllkiosken zusammenscharen, sich mit Alkohol vergiften.
Man kann die Kinder nicht nur abends sehen, sondern auch frühmorgens, die meisten von ihnen auf den Märkten und am Bahnhof. Nur die Gesetzeshüter bemühen sich, sie nicht zu bemerken.
Eine der Polizeistreifen, mit denen es gelang zu sprechen, beschuldigen die Waisen dahingehend, dass sie ihr Leben nicht selbst in die Hand nehmen: sich arm stellen, zu faul zum Arbeiten sind und ständig eine Ausrede für ihr Unglück suchen.
„Das ist der absolute Abstieg. Zuerst beginnen sie Klebstoff zu schnüffeln (werden Staubsauger), und dann lungern sie auf dem Markt rum. In jedem beliebigen Kreis sind unter den Drogendealern Heimkinder. Wenn sie gegen Gesetze verstoßen, nehmen wir sie fest, bringen sie in die Kinderzelle der Polizei, lassen sie aber schnell wieder laufen. Sehen Sie?“ der Polizist führt mich zu einer Umzäunung im Park, hinter der die Steilküste und das Meer sind. „Unter uns ist ein Raum. Wenn die Strandsaison beginnt, sammeln sich hier die Penner. Wenn es fürs Protokoll nötig ist, kam ich her und schlug sie. Aber so braucht diese Kinder niemand.
Mädchen von 16 Jahren arbeiten schon auf der Straße. Irgendwie sah ich eine Neue, die beklagte sich, dass sie vom Land sei, man sie aus dem Wohnheim entlassen hätte, sie nichts zum Leben hat. Wir vereinbarten, dass ich sie ins Wohnheim schicke, gab ihr 500 Hrwynja und zwei Monate Frist“, erzählt der Polizist.
„Wissen Sie, wie es ihr jetzt geht?“
„Nein. Ich möchte mich nicht völlig von den Menschen enttäuschen lassen. Obwohl ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe.“
Hoffe auf dich selbst
Julia trinkt Wein mit Konstantin, Maksim und anderen Bewohnern des Wohnheims. Ihr ganzes Leben gibt sie in zwei Sätzen wieder: „Ich lernte im Internat. Dort war alles sehr schlimm.“
Julias „sehr schlimm“ ist, als die Erzieher sie auszogen und zwangen, den halben Tag in halb sitzender Haltung zu stehen, oder als sie deren Lieblingslieder auswendig lernte, um auf Befehl zu singen; als sie ihr an den Kopf warfen „Willst du aufwachsen wie deine Mutter, die Nutte?“, doch sich zu beschweren war einfach schrecklich.
„Nach der Entlassung schicken die Erzieher die Heimkinder oft aufs Land zum Lernen. Aber diese betrinken sich dort, streichen herum, die Mädchen werden schwanger, die dummen. Zuerst kommt die Zeit der Anpassung. Einfach alles, was sie sah, war neu: Supermärkte, selbst das Essen in den Regalen. Im Unterricht bist du erschlagen, versuchst das Leben zu verstehen und Geld zu verdienen. Ich fühlte mich beleidigt und gehasst“, Weißwein aus einem Plastikbecher nippend marschiert Julia in ihrer Erzählung voran, ohne nachzudenken, als sei sie gewohnt, selbst vor Fremden über ihr Leben zu erzählen.
Im Leben der Waisen, die es schafften, sich minimal im Leben einzurichten, gab es Erzieher, die sie nicht verließen. Auch Julia hatte Glück. Eben diese Erzieherin setzte durch, dass das Mädchen in der Odessaer Berufsschule eingeschrieben wurde: drei Tage lief sie zur Leitung. Julia musste nur ihre Sachen in das Wohnheimzimmer bringen. Nach der ersten, völlig bewährten Ausbildung versuchte sie zwei Jahre lang, auf die Universität zu kommen. Es klappte nicht. Deshalb arbeitet die junge Frau vorerst im Supermarkt.
Auf der Wohnungsliste steht Julia schon das dritte Jahr. Jedoch bot man ihr ein Zimmer im Wohnheim in Ismail an, aber die junge Frau lehnte ab, den Mitarbeitern des Dienstes dies als Variante für ihre eigenen Kinder empfehlend. Julia glaubt nicht an staatliche Geschenke:
„Ich zähle jetzt nur auf meine eigenen Kräfte. Ich hoffe, dass ich bald mit meinem Freund eine Wohnung finde. Es wird Zeit, mein eigenes Leben zu führen. Wie, weiß ich allerdings noch nicht.“
Löcher über dem Kopf
Als letzter stößt noch der hellhaarige Walentin zu der Runde der Nachbarn, kauf im Laden löslichen Kaffee. Der junge Mann wohnt mit seinem Zwillingsbruder Wowa im Haus. Man kann sie nur an der Tätowierung am Hals unterscheiden. Die Brüder sind eine der wenigen, die eine Wohnung vom Staat bekommen haben. Nach mieten sie diese Wohnung. Im Haus sind drei Haupteingänge, neun Etagen, ein kaputter Lift, kalte graue Wände und einen Geruch nach Feuchtigkeit. Zu Besuch kommt man an einer Concierge mit durchdringendem Blick vorbei.
Walentin führt den langen Korridor entlang und öffnet das, was man üblicherweise Tür nennt, aber es ist eher ein Stück zerschlagene Holzplatte. Im Zimmer der Brüder stehen ein Doppelstockbett, Kühlschrank und ein kleiner Schreibtisch mit Computer und Lautsprechern. Die grellen Tapeten haben schon mehrere Familien als Bewohner überlebt. Walentin und Wladimir renovieren nicht, weil sie sich hier nie als Hausherren fühlten. Ständig lebten sie in der Angst, rausgeworfen zu werden.
Der Staat hat ihnen eine Wohnung in einem Kasernenkomplex an der Grenze zu Transnistrien gekauft. Nur kann man darin nicht leben:
„Das Haus ist im Havarie-Zustand. In der Decke sind Löcher, an den Wänden Schimmel. Das Jugendamt hat ihnen erst verlassene Dorfhütten angeboten, aber in ihnen wächst Gras aus dem Boden. Wir haben uns etwa fünf Wohnungen angesehen, aber jede hatte ihre „Besonderheiten“, keinen Strom, keine Dusche, ein Haus zerfällt fast. In unserem gab es wenigstens Gas. Wir hatten Angst, es abzulehnen, dachten, mehr wird man uns nicht vorschlagen. Es jetzt zu verkaufen ist nicht real, dort zu wohnen aber auch, es gibt in dem Dorf keine Arbeit. Wir beschlossen, es als eine Art Ferienhaus zu behalten. Wir begannen, es aus eigener Kraft zu renovieren. Überhaupt, wenn Maksim nicht wäre, der den Beamten ständig einheizt, hätten wir selbst das nicht.“
Maxim beeilte sich so den Brüdern zu helfen, weil es nichts gab, wohin er gehen konnte, als er selbst aus dem Internat entlassen wurde. Im Internat verdienten sie sich Geld: sammelten Schrott, ernteten und verkauften Kartoffeln, gaben Nüsse ab. So kauften sie ein Telefon, einen elektrischen Wasserkocher, verkauften Joghurt, Schokolade und Bananen.
„Mein Bruder und ich wussten wie alle anderen nicht, was nach dem Internat kommt. Aber wenn die Entlassungszeit kommt, machen sie dort keine großen Umstände: ‚Da ist Gott, und dort ist die Schwelle‘. Also gingen wir.“
„Erinnerst du dich, wie dein Erwachsenenleben begann?“
„wir gingen aus dem Tor. Ja….“, überlegt der junge Mann, „wir gingen durchs Tor.“
„Und was weiter?“
„60 Hrwynja in der Hand. Zuerst dachten wir, dass uns alle etwas schulden. Aber diese Überzeugung verflog, als wir unser erstes Stipendium erhielten, und wir unser Leben selbst ordnen mussten.“
Jetzt verdient Walentin dreitausend, bezahlt die Ausbildung und bemüht sich, etwas Geld für Baumaterial zu sparen.
„Ich weiß, dass es gut klingt ‚Ich habe eine Wohnung‘, aber was für eine das ist, das ist schon eine andere Sache“, seufzt der junge Mann verzweifelt.
Auf dem Kühlschrank der Zwillinge steht ein selbstgemachtes Souvenir: eine Tasse, aus der Münzen fallen. „zum Geld“, sagen sie.
Wohnraum löst das Problem nicht
„Sie haben ganz offenkundig Ressourcen, eine Flagge, unter der sie bis zum Ende ihres Lebens schreiten werden“, so spricht Alla Kirijak über die Heimkinder. Aber sie spricht nicht missbilligend, sondern verständnisvoll. Alla Iwanowna begann sich mit sozialer Arbeit zu befassen, als sie selbst über Adoption nachdachte. Jetzt kommen künftige Adoptiveltern zu ihr, vor kurzem wurde Kirijak Leiterin der Abteilung zur Entwicklung familiärer Erziehungsformen.
„Das staatliche System ist nicht in der Lage, den Waisen die Bedingungen zur Integration zu schaffen, weil sie in Einrichtungen aufwuchsen, in denen sie wussten, dass sie auf jeden Fall ihre Suppe bekommen. Kinder in Einrichtungen leben in einer gegensätzlichen Realität. Es ist schwierig mit ihnen“, sagt Alla Iwanowna.
Ihre Kollegen denken, dass Waisen nicht selbständig leben können, weil es lange Zeit nach den Richtlinien verboten war, Kinder im Internat zu Arbeiten heranzuziehen. Jetzt können sie kleinere Aufgaben im Haushalt übernehmen, aber die Richtlinien stellen klare Bedingungen: nicht mehr als eine Stunde am Tag.
Im Jahr 2015 standen auf der Liste des Jugendamts des Odessaer Gebiets 2.504 Kinder ohne Wohnung. Im letzten Jahr wurde aus dem Gebietsbudget ein Programm zur Versorgung mit Wohnraum für 37 Volljährige realisiert. In diesem Jahr ist das Programm noch nicht bestätigt, aber das Amt verspricht Hilfe für weitere 54 Kinder. Aber es wird jedes Jahr mehr gebraucht. Nach den Worten Oksana Ugliks von der Bildungsabteilung der Gebietsverwaltung beginnen jährlich 300 – 400 Kinder im Odessaer Gebiet ein Leben nach dem Internat.
Die Warteliste für Wohnungen ist ein kleines Drama im Leben erwachsener Kinder. Es kommt vor, dass sie in ihr Elternhaus zurückkehren müssen, ohne Rechte, einfach nur weil eben diese Wohnung für sie festgeschrieben ist und sie per Gesetz nicht auf die Wohnungsliste gelangen können. Oder es passiert, dass der Wohnraum nur de jure besteht, man dort faktisch aber nicht leben kann, weil das Haus zerstört ist. (dann muss man sein Anrecht auf staatlichen Wohnraum nochmals nachweisen)
Aber auch der Kauf von Wohnraum löst die Probleme nicht. Es gibt Fälle, in denen die Wohnung mit der Zeit verkauft wird oder in denen aus verschiedenen Gründen (schlechte Bedingungen, Möglichkeit Arbeit zu finden) niemand wohnt, sie verfallen. Außerdem werden Waisen oft Opfer von Wohnungsbetrügern.
Dass sich in der Reihe der Wohnungssuchenden praktisch nichts bewegt, geben die Beamten zu. Kirijak sagt, dass man in erster Linie versucht denen zu helfen, die am dringendsten Hilfe brauchen. Die „Dringlichkeit des Bedarfs“ reguliert nach ihren Worten manchmal die Warteliste.
„Den Zwillingsbrüdern kaufte man eine Wohnung, weil sie für ihre Rechte kämpften und diese einforderten“
Neues Leben
Aleksandra ist 24, aber ihre Geschichte würde für drei Leben reichen. Sie sitzt am Küchentisch ihrer neuen Wohnung, nicht der, die sie sich vom Staat erhofft hatte, sondern der, die sie sich selbst vom Geld aus dem Verkauf der Wohnung ihrer leiblichen Mutter gekauft hat. Gut, bis zum Zentrum ist es fast eine Stunde und in der Küche gibt es kein Spülbecken. Es geht nicht alles auf einmal.
Aleksandra bewirtet uns mit köstlichem Borschtsch. Sie hätte für Seemänner auf Frachtern gekocht, wenn sie nicht schwanger geworden wäre. Damals war sie 19. Bis dahin hatte sie schon einen Ehemann und noch früher starb ihre Mutter und begann ihr Internatsleben, eher ein Kampf ums Überleben. Eine Pflegefamilie bekam Aleksandra, als sie schon groß war, in der 9. Klasse, und ständig versuchte man, sie „umzuändern“. Sie beklagten, dass sie kein Geld verdient, wollten sie einmal sogar zurück ins Internat bringen.
„Die Pflegemutter fuhr mich aus der Stadt und sagte: ‚rechts geht es ins Internat, links nach Hause – wähle!‘ Ins Internat wollte ich nicht, zu ihr nach Hause auch nicht. Ich beschloss, in die Berufsschule zu gehen.“
Als Aleksandra in die Berufsschule kann, schien ihr, dass sich das Leben bessert: Sie hatte Ersparnisse. Später war das Geld weg und mit ihm auch die Freunde. Sie lernte einen afghanischen Jungen kennen und wurde schwanger. Der Vater des Kindes liebte die Drogen mehr als seinen Sohn, und so blieb Aleksandra allein mit 100 Dollar in der Tasche. So kam sie zu einer Stiftung „Swetlyj Dom (helles Haus – A. d. Ü.)“, die ihr zunächst eine Wohnung anmietete, dann bei der Eintragung für die Wohnung half, später bei der Renovierung.
Aleksandra ist sogar ein bisschen froh, dass sie jetzt eine Wohnung bekommen hat und nicht vor dem Internat.
„Ach wie ich gelebt habe. Aber ich habe überlebt, Gott sei Dank. In schwierigen Momenten hat mir keiner meiner „Freunde“ geholfen. Wenn jetzt jemand von den Heimkindern nicht weiß, wo er wohnen soll, lasse ich sie hier nicht herein. Was haben die getan, die klagen, dass man ihnen keine Wohnung gegeben hat? Haben sie Dokumente gesammelt, haben sie sich über Details informiert?“
„Und was hast du getan, um die Unterstützung der Stiftung zu bekommen?“
„Ich bin insgesamt glückhabend im Leben“, lacht Aleksandra, „und durchsetzungsfähig, ja.“
Die junge Frau geht raus zum Rauchen, deckt sich zu und träumt hörbar von der Zukunft. Fragen über das Leben im Internat lässt sie unbeantwortet: zu sehr möchte sie die Vergangenheit schnell vergessen. Jetzt hat sie ein neues Leben. Es scheint, als ob sie selbst nicht ganz glaubt, dass sie jetzt in ihrer eigenen Wohnung sitzt, wo im halbdunklen Zimmer ihr braunäugiger Sohn Trickfilme schaut.
„Ich zahle die Kommunalabgaben jetzt selbst, ich spare“, Aleksandra dreht zwei Glühlampen in die Lampenfassung. Es wird hell. Sie träumt von einem Anbau an den Balkon und davon, ihr eigenes Nagelstudio einzurichten. Und zu heiraten.
„Alles wird anders. Das ist sicher“, verspricht sie mir zum Abschied.
Einige Stunden später, schon im Zug, erhalte ich eine Mitteilung von Aleksandra: „Nie im Leben kommt mein Kind ins Internat!!!“
31. Mai 2016 // Margarita Tulup
Quelle: Lewyj Bereg