Niedriglohnarbeit – Segen oder Unglück?
Die Arbeitslosigkeit nimmt ab, doch auf das Wachstum der Löhne wirkt sich das so gut wie gar nicht aus. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist zu groß. LB.ua (Lewyj Bereg) hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob Niedriglohnarbeit der Ukraine auf die Beine helfen wird, oder nicht.
Arbeit ohne Einkommen
In den Jahren 2011 und 2012 wird die Arbeitslosigkeit nicht wachsen, sind sich die Ökonomen sicher. In der letzten Konsensprognose heißt es, das Risiko eines Anwachsens der Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren ist gering (die Wahrscheinlichkeit liegt zwischen 10 und 29%). Die Konsensprognose wird regelmäßig von führenden Analytikern des Landes aus Banken, wissenschaftlichen Instituten, Zentren zur Analyse und dem Finanzministerium aufgestellt und korrigiert. In der jüngsten Prognose nennen die Ökonomen kein konkretes Niveau der Arbeitslosigkeit für 2011/12, es heißt lediglich, das Risiko, arbeitslos zu bleiben sei gering. Dafür äußern sie sich direkt zu den Einkünften der Bevölkerung. Es wird angenommen, dass das Realeinkommen 2011 nur um 5,4%, 2012 um 5,6% gemessen am Vorjahr steigen wird. Ist das viel oder wenig? Im vergangenen Jahr betrug das Wachstum 16,2% nach dem durchschlagenden Jahr 2009, als das Einkommen der Bevölkerung sogar um 8,5% sank (Siehe Graphik „Einkommen der Bevölkerung 2000-2010). Nach Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung sowie politischer Konsultationen haben in etwa 17,2% der größeren Unternehmen (mehr als 250 Mitarbeiter) die Löhne zwischen Herbst 2008 und Frühling 2010 gesenkt.
Das heißt, die Zahlen in der Prognose sind alles in allem klein. Der Abbau der Arbeitslosigkeit wird nicht von einem stürmischen Wachsen des Einkommens der Bevölkerung begleitet werden. es sieht so aus, als gäbe es noch keine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, doch die Arbeitsgeber können bereits auswählen. Heutzutage sind etwa 1,8 Mio. Menschen arbeitslos. Bis zur Krise waren lediglich 6,4% (etwa 1,42 Mio.) der Arbeitsfähigen zwischen 15 und 70 Jahren zur Untätigkeit gezwungen. 2009 wuchs ihre Zahl auf 8,8% bzw. 2 Mio. Im vergangenen Jahr ging sie geringfügig auf 8,1% zurück.
Niedriglohnarbeit
Sollte es vielleicht keine Niedriglohnarbeit geben, ist sie so schädlich? Sie lockt Investoren ins Land und erlaubt es, mit dem Ausland zu konkurrieren. Eine Businessvereinigung setzte die Niedriglohnarbeit sogar auf den ersten Platz der Vorzüge der Ukraine für Wirtschaftsunternehmen.
So schloss z.B. die W.E.T. Automotive Systems vor einigen Jahren ihr Werk in Ungarn und eröffnete es in der Ukraine wieder. Den Ungarn bezahlte die W.E.T. 6 € pro Stunde, doch die Ukrainer sind bereit für 2 € pro Stunde zu arbeiten. billige Arbeitskräfte und schnelles Anwachsen der Nachfrage auf dem Binnenmarkt (bis zur Krise) waren die grundlegenden Argumente zugunsten von Investitionen in der ukrainischen Wirtschaft.
Die Arbeitslöhne in der Ukraine sind um mehrere Male niedriger als im restlichen Europa. Selbst, wenn man die Krise mit einbezieht, als die Löhne sanken, so war im für die Ukraine dankbaren Jahr 2007 der Durchschnittslohn in Ungarn 3,8 Mal so hoch wie unserer (195 € im Monat). In Estland war der Durchschnittslohn 3,6 Mal so hoch, in Lettland und Litauen entsprechend 2,6 und 2,9 Mal, in Russland 2,2 Mal, in Polen zwei Mal so hoch. Dabei sind die Preise für eine Vielzahl von Waren in der Ukraine gleichrangig zu Resteuropa.
Auf der anderen Seite sind Niedriglohn und ein hohes Lebensniveau der Bevölkerung unvereinbar miteinander. Die niedrigsten Löhne werden in Ländern mit hoher Armutsrate und häufig autoritären Regierungssystemen gezahlt. Qualifizierte Spezialisten verlassen solche Länder auf der Suche nach höheren Einkommen im Ausland.
Heutzutage arbeitet jeder dritte Absolvent (35,8%) einer ukrainischen höheren Bildungseinrichtung nicht in seinem Fachgebiet. Das belegen die Daten der Untersuchung „Der Übergang von der Ausbildung zur Arbeit“ des Europäischen Bildungsfonds und der Weltbank. Unter den Absolventen eines Colleges ist die Zahl noch höher – 44,5%. Einer der Gründe dafür ist der Niedriglohn.
Mehr als die Hälfte der jungen ukrainischen Spezialisten träumt von einer Arbeit im Ausland (Angaben der Weltbank). Betrug der Durchschnittslohn in der ukrainischen Landwirtschaft zu Beginn des Jahres 1.372 Griwnja (173,60 $), so verdienten Landwirte in Polen durchschnittlich 1.165 $, in Georgien 198 $ und in Russland 315 $.
Die niedrigen Löhne reichen den Ukrainern kaum für Essen und Kleidung. Nur wenige sind noch in der Lage, etwas für schlechtere Zeiten oder eine größere Anschaffung beiseite zu legen. Laut Angaben der Bank Credit Suisse betragen die Wertanlagen (Geld und Eigentümer) eines Durchschnittsukrainers insgesamt 2.731 $. Das ist eine der schlechtesten Zahlen in Europa. Lediglich die Moldawier sind ärmer als die Ukrainer (2.534 $). Es folgen die Länder Asiens und Afrikas.
Wenn wir allerdings den Umfang der Wertanlagen und die Größe des BIP pro Kopf vergleichen (Gegenüberstellung des persönlichen Kapitals und die Menge aller Wertschöpfungen in einem Land pro Jahr), sind wir sogar noch schlechter als Moldawien. In der Ukraine ist die Größe des BIP pro Kopf um 2,3 Mal höher als die durchschnittlichen Wertanlagen. In Moldawien beträgt die Relation lediglich 1,12 Mal. In Lettland, Armenien und der Slowakei sind die Zahlen fast identisch. In den entwickelten Ländern der Europäischen Union ist das Niveau des Wohlstandes (Besitz) höher, als die Größe des BIP pro Kopf.
12. April 2011 // Xenia Korsun
Quelle: Lewyj Bereg