Opferkomplex
Jede der Konfliktparteien in der Ukraine möchte sich als Opfer präsentieren. Dabei können nicht alle gleichermaßen überzeugen.
Beinahe gleichzeitig wurde bekannt, dass Dmitrij Bulatow, einer der Anführer der Protestbewegung „Automaidan“, wieder aufgetaucht und ein weiteres Todesopfer in Zusammenhang mit den Protesten in Kiew zu beklagen ist. „Der 30-jährige Polizist erlitt einen Herzstillstand. Dieser ist eine Folge des täglichen Stresses an den Barrikaden auf der Gruschewskij-Straße, wo Dmitrij (der verstorbene Hauptmann der Sicherheitskräfte) zum Schutz der öffentlichen Ordnung Dienst tat“, erklärte der Innenminister der Ukraine Witalij Sachartschenko.
Die Mitarbeiter des Innenministeriums sind überzeugt, dass die Demonstranten mitschuldig am Tod ihrer Kollegen sind. Jede Seite versucht den Gegner als Aggressor und sich selbst als Opfer darzustellen. So berichten zahlreiche russische, gefolgt von ukrainischen Proregierungssendern über jene, die auf dem Maidan umgekommenen sind, als seien sie irgendwelche „Leichen, abgelegt von Unbekannten“. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass diese Menschen an Schussverletzungen starben, die sie im Zuge der bewaffneten Konfrontation mit den Sicherheitskräften auf der Gruschewskij-Straße erlitten hatten. Das ist auch verständlich – nur geht neben dem Spiel „Wer ist der Angreifer, wer ist das Opfer“ auch der Informationskrieg weiter. Jeder normale Mensch fühlt immer mit den Geschädigten und Leidtragenden mit. Daher versucht die ukrainische Regierung das maximale Mitleid für die Soldaten der Sicherheitskräfte zu erwecken. Informationsquellen, die der Regierung oder ihren Fürsprechern nahestehen, veröffentlichen regelmäßig Interviews mit Soldaten der „Berkut“-Einheit (Steinadler) oder berichten, wie „gefährlich und beschwerlich“ ihr Dienst sei. Sie hatten es wirklich nicht leicht: An den brandgefährlichen Tagen wurden sie mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen, einige Soldaten erlitten Verbrennungen. Insgesamt wurden laut den Angaben des ukrainischen Innenministeriums allein in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar ca. 50 Soldaten verletzt.
Allerdings fußt allein der Versuch, Mitleid zu erwecken, auf oberflächlichen Betrachtungsweisen.
Jeder Soldat der Sicherheitskräfte weiß, dass er nach sechs oder acht Stunden ausgewechselt wird und sich in der Kaserne erholen kann. Außerdem berichten Freunde der Mitglieder der „Berkut“-Einheit, dass Soldaten der Spezialeinheit, die am Maidan patrouillieren, 2.500 Hrywnja erhalten, d.h. ca. 300 Dollar. Am Tag. Die Maidan-Aktivisten schlafen auf dem Boden in besetzten Gebäuden, sie machen sich ihre Mittel zur Verteidigung selbst und leben in weitaus größerem Stress als die Polizisten. Anstelle einer Belohnung für ihre Beteiligung an den Protesten riskieren sie lebenslange Haftstrafen. Für sie gibt es nur zwei Wege, entweder sie erringen einen Sieg oder sie gehen nach Hause und warten, bis sie der „Schwarze Rabe“ [Bezeichnung für das Gefangenentransport-Auto im Volksmund – die Übersetzerin] holen kommt.
Kardialer Stress führt regelmäßig zu Hunderten Toten. Nach dem Filmstart von Mel Gibsons „Die Passion Christi“ wurde berichtet, dass übersensible Zuschauer während des Films gestorben sind. Die Ereignisse am Maidan und besonders auf der Gruschewskij-Straße sind nichts für schwache Nerven. Selbst zu Friedenszeiten ist jede Art von Armeedienst – bei den „Berkut“ wie auch bei gewöhnlicher Aufklärungsarbeit keinesfalls stressfrei. Daher ist diese Erklärung von Minister Sachartschenko mit großem Vorbehalt zu sehen. Und wie viele Menschen sind an einem Herzstillstand gestorben, also sie die Nachrichten gesehen haben? Lasst uns in so einem Fall einfach alle den Fernseher ausschalten.
Im Spiel „Aggressor – Opfer“ sind die Siegeschancen für die Regierung weitaus geringer. Es ist eine Sache, die Informationen über den Tod eines Polizisten zu verlesen, und eine andere, einen Youtube-Spot zu sehen, in dem dieselben sensiblen Polizisten einen am Boden liegenden Aktivisten mit Stöcken und Tritten grün und blau schlagen oder einen anderen bei Minustemperaturen entkleiden. Warum empfindet keiner der Mitarbeiter des Innenministeriums beim Anblick dieser Grausamkeiten Stress?
6. Februar // Wlad Golowin
Quelle: Lb.ua