Ostap Krywdyk: Verunglückte Ethnovereinnahmung
“Die in der Ukraine geführte Linie der Derussifizierung, die forcierte vollständige Übertragung des Bildungs- und Informationsraumes, des Gerichts- und Verwaltungsbereiches in die ukrainische Sprache, stärkt die Abgrenzung der ukrainischen Gesellschaft”. Andrej Nesterenko, Vertreter des Innenministeriums Russlands, am 9. Juli 2009.
Gas ist nicht das einzige, womit der Kreml Druck auf die Ukraine ausübt. Spekulationen der höheren russischen Orden auf dem Boden der Sprache und der Kultur haben für sich sowohl tiefe historische, als auch heutige, konjunkturelle Gründe.
Mit dem Thema der russischen Sprache in der Ukraine versucht der Kreml mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: zu versuchen, die Ukraine von den Händen der Eurokommissare wegzuprügeln, die Aufmerksamkeit von der Verletzung der Rechte der Minderheiten in der Russischen Föderation selbst abzulenken, das Sprachproblem in der Ukraine mehr zu politisieren.
Das ist ein Spiel mit weißen Figuren auf fremden Schachbrett, ohne irgendwelche Verantwortung, mit der Uminterpretierung fremder Termini zu eigenem Nutzen.
Die russischsprachigen Einwohner der Ukraine – sind scheinbar “die Trumpfkarte” des Kremls, mit der man die EU, als auch die Ukraine schlagen kann und mit der man die USA und den Rest der Welt dahin bringen kann, seine Rechte auf das Ukrainertum als”“Zone der ausschließlichen Interessen Russlands” anzuerkennen.
Die innerukrainischen Panikmacher, die dem russischen diskursiven Einfluss unterliegen, veröffentlichen Artikel zu Szenarien der Spaltung der Ukraine oder ihrer unvermeidbaren Teilung in verschiedene Stämme mit diametral entgegengesetzten Werten.
Dies katastrophischen Vergleiche widerlegt die Soziologie, die im Ganzen ein hinreichend hohes Niveau des Patriotismus und der allgemeinen Identifikation bei allen Bürgern zeigt, unabhängig von der Herkunft, darunter auch bei den russischsprachigen Ukrainern.
In diesem Artikel sind “russischsprachige Ukrainer” die Bürger der Ukraine, die sich als Ukrainer sehen, doch für die russisch die Muttersprache ist bzw. die Sprache, welche sie häufiger gebrauchen.
Demographie: Ethnie
“In der Ukraine sind ein Drittel der Bevölkerung ethnische Russen. Gemäß den offiziellen Zählungen sind 17 Mio. von 45 ethnische Russen. Es gibt bestimmte Regionen, wo nur Russen leben, beispielsweise sind auf der Krim 90% der Bevölkerung Russen”, erklärte Wladimir Putin auf dem NATO Gipfel in Bukarest im April 2008.
Der Zählung des Jahres 2001 nach, sehen sich 77.8% der Bevölkerung der Ukraine selbst als Ukrainer, 17,3% als Russen, 4,9% zählen sich selbst zu einer anderen Nationalität.
Der Soziologe Walerij Chmelko, erhält gemäß einer Untersuchung aus dem Jahr 1995 eine andere Statistik: 58% der Bevölkerung sind monoethnische Ukrainer, 28% kommen aus Familien mit unterschiedlicher ethnischer Basis (einschließlich 19% aus ukraino-russischen Familien), 10% sind monoethnische Russen und nur 2% der Bevölkerung gehören anderen monoethnischen Gruppen an.
Eine andere Untersuchung des Kiewer Internationalen Institutes für Soziologie, das von Chmelko geleitet wird, aus den Jahren 2001-2003 gibt dieses regionale Bild bezüglich der ukrainischen und russischen mono- und biethnien:
Herkunft | Westen | West-Zentrum | Ost-Zentrum | Süden | Osten |
---|---|---|---|---|---|
Monoethnisch – Ukrainer | 92.6 | 83.8 | 73.3 | 40.5 | 34.1 |
Russo-ukrainisch biethnisch | 6.0 | 12.8 | 19.6 | 37.3 | 45.0 |
Monoethnisch – Russen | 1.4 | 3.4 | 7.1 | 22.2 | 20.8 |
Wie wir sehen, dominiert die russische Ethnie nirgendwo – sogar im Osten sind sie weniger, als die monoethnischen Ukrainer, die in ihrer Zahl nur hinter den biethnischen ukraino-russischen Familien zurückstehen.
Demographie: Sprache
Gemäß der Zählung von 2001, gaben 67,5% der Bevölkerung der Ukraine ukrainisch als ihre Muttersprache an, 29,6% – russisch, 2,9% – andere Sprachen. Jedoch die Untersuchung des Rasumkowzentrums aus dem Jahre 2007 gibt andere Daten (in Klammern stehen die Werte für das Jahr 2006):
Muttersprache | Westen | West-Zentrum | Ost-Zentrum | Süden | Osten |
---|---|---|---|---|---|
Ukrainisch | 91.3 | 69.0 | 28.9 | 21.2 | 51.4 |
Russisch | 3.2 | 10.7 (13.0) | 43.7 (52.0) | 45.2 (54.0) | 25.7 (30.7) |
Beide Sprachen | 3.2 | 19.5 (14.3) | 25.2 (17.0) | 32.2 (23.5) | 21.5 (15.6) |
Andere | 1.7 | 0.3 | 1.5 | 0.7 | 0.9 |
Ohne Angabe | 0.5 | 0.5 | 0.4 | 0.7 | 0.5 |
Die russischsprachigen Ukrainer bilden die zweite ethnolinguistische Gemeinschaft der Ukraine, die im Osten und im Süden des Landes dominiert. Interessant ist die Tendenz der Verringerung der Anzahl der einsprachigen russischsprachigen Bürger der Ukraine und der Anstieg der Prozentzahl der Bilingualen im Osten und im Süden der Ukraine.
Dank dieser Daten kann man ebenfalls bestätigen, dass es in jeder Region wenigstens 53% derjenigen gibt, für die ukrainisch Muttersprache oder eine aus zwei Muttersprachen ist – was klar die Notwendigkeit der Erweiterung des Bereichs der Benutzung der ukrainischen Sprache bekräftigt.
Soziologie: Werte
Im Jahr 2007 führte das Rasumkowzentrum eine Untersuchung hinsichtlich dessen durch, wie sich die selbstidentifzierten russischsprachigen Ukrainer auf nationale Fragen und politische Anschauungen beziehen und verglich diese mit den Ansichten der monoethnischen Ukrainer.
Die Ergebnisse zeigten, dass es eine direkte Korrelation zwischen dem Niveau des Nationalbewusstseins und dem Niveau des Patriotismus, der Beziehung zur ukrainischen als Amtssprache und der Beziehung zur Spaltung der Ukraine und ebenfalls zu den europäischen Bestrebungen der Ukraine gab.
Die russischsprachigen Ukrainer erwiesen sich im Ganzen als patriotischer als die Russen in der Ukraine (71,6% gegenüber 49,5%) – doch sowohl hier, als auch dort ist die Prozentzahl derjenigen, die sich selbst als Patrioten sehen hinreichend hoch. Die Mehrzahl der russischsprachigen Ukrainer (52,7%) sieht westliche und östliche Ukrainer nicht als unterschiedliche Nationen an und tritt gegen eine Teilung der Ukraine in getrennte Staaten auf (54,9%).
Wie sehen die Kremlleute die Ukrainer?
Der im Anfangsmaterial erwähnte Vertreter des russischen Innenministeriums Andrej Nesterenko erklärte am 29. April 2009: “Ungeachtet dessen, dass in Russland eine große Zahl Ukrainer lebt, gab es fast keine Bitten auf föderaler oder regionaler Ebene, Schulen mit Unterrichtung in ukrainischer Sprache zu eröffnen. Das kann man eindeutig mit der Nähe der ostslawischen Sprachen und Kulturen, der gemeinsamen Geschichte (Kiewer Rus, Moskauer Staat, Russisches Imperium, UdSSR) und dem gemeinsamen orthodoxen Glauben erklären.“
Die Meinungen solcher Imperialen mit ukrainischen Familiennamen und ukrainischer Herkunft führen zur imperialen Maxime: wir sind mit euch identisch – folglich gibt es euch nicht.
“Ein bisschen andere Russen, die zeitweilig die unrichtige Entscheidung der Unabhängigkeit getroffen haben” – das ist der Informationsrahmen, in den die Ukrainer gesteckt werden. Für die Kremlseite existiert der Begriff “russischsprachige Ukrainer” überhaupt nicht , es gibt lediglich “russischsprachige Landsleute”, ohne irgendwelche Differenzierung, ohne historische Rückschau.
Der Kreml versucht zwei Bruchlinien auszunutzen. In erster Linie die Unterteilung der ukrainischen Ethnie in eine russischsprachige und eine ukrainischsprachige. In zweiter Linie ist das die Unterteilung zwischen den monoethnischen Ukrainern und den ukraino-russischen Biethniern. Eben mit diesen Brüchen möchten die modernen russischen Imperialen die “russischsprachige” Nation auf Kosten der Fragmentierung des Ukrainertums gründen.
Die Ukrainisierung, die sich von 1921 bis 1933 zog, stoppte Stalin mit dem Holodomor in den Dörfern und dem totalen Terror in den Städten und dieser Prozess wurde vom Krieg gestoppt, der den Kampf für die Ukraine und das Ukrainische in den Rahmen des “Nationalismus” stellte – einen Verbündeten des Nazismus.
Der Zynismus der heutigen Argumente des Kremls liegt in der Nutzung der demokratischen europäischen Prinzipien für die Erneuerung des Raumes des Imperiums. Er spekuliert mit dem Recht der Minderheit auf Gewährleistung der eigenen Hegemonie, für die Bildung eines einsprachigen und monokulturellen Raumes.
Die jetzige Ukrainisierung, die instabil und unbeständig ist, möchte der Kreml stoppen, indem er mit dem ukrainischen demokratischen Raum spielt, die öffentliche Meinung lenkend, bizarrer weise die europäischen Rechte und die Stereotypen der Breshnewzeit hinsichtlich eben jenes Europas vermischend.
Zu guter Letzt: Es gibt in der Statistik einen signifikanten Unterschied zwischen ethnischen Russen und russischsprachigen Ukrainern. Also ist die Konzeption der “russischsprachigen Landsleute” eine offene propagandistische Manipulation, die wenig mit der ukrainischen Realität gemein hat.
Das Schicksal der Ukraine hängt derzeit in einem hohen Grade davon ab, welcher Vektor von den russischsprachigen Ukrainern gewählt wird – der asiatische, gemeinsam mit Russland oder der europäische – über das Ukrainertum. Eben diese sind der “Haken”, an dem der Kreml die Ukraine hält, auf die Ängste dieser Gemeinschaft spekulierend, künstlich eine Spaltung im Innern der Gesellschaft über das Sprachthema stimulierend.
Das Endziel des Kremls ist es zu zeigen, dass russischsprachige Ukrainer Russen sind, folglich, sind die russische Bevormundung und die russische Anwesenheit in der Ukraine – keine imperialen Launen, sondern der kollektive Wille von 50 plus minus 2-3% der Bürger der Ukraine.
Doch wie die Untersuchungen zeigen, schwindet die Trennung zwischen den Ukrainern ein wenig, die Situation ändert sich. In den für die Ukraine kritischen Fragen ist die Meinung aller Einwohner vorwiegend positiv und die russischsprachigen Ukrainer sind keineswegs politische Bürger der Russischen Föderation, wovon man im Kreml träumt.
Niedergeschrieben auf Grundlage des Vortrages auf der 26. Ukrainistikkonferenz der Universität Illinois, USA, vom 24. – 27. Juni 2009.
Ostap Krywdyk, Politologe
Quelle: Ukrajinska Prawda