Parteien und Leader: Kann „Holos“ ohne Wakartschuk leben und welche Partei brauchen wir?
Letzte Woche wurde Wakartschuk [gemeint ist der bekannte Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk von der Band Okean Elsy, der im Juni zum zweiten Mal nach 2008 nach kurzer Zeit sein Parlamentsmandat wieder abgab, A.d.R.] für kurze Zeit zum Internetstar. Seine Entscheidung, das Mandat als Abgeordneter zurückzugeben, löste einen Sturm unterschiedlicher Emotionen aus. Manch einer bezichtigte den Sänger enttäuscht der Feigheit, andere spotteten über seine Unentschlossenheit und wiederum andere versuchten sogar, ihn vor ungerechten Angriffen zu verteidigen. Die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber seiner Person lösten unterschiedliche Reaktionen aus, doch all diese Resonanzen verband ein gemeinsames Schlüsselmerkmal – sie drehten sich alle um die eine Person.
In Wahrheit möchte ich in dieser ganzen Geschichte am wenigsten über Wakartschuk selbst sprechen. Manchmal ist es eine undankbare Angelegenheit, zu versuchen, einen Künstler zu verstehen. Doch wir alle verstehen ausgezeichnet, dass Wakartschuk in seiner Seele immer ein Künstler war. Ob das Swjatoslaw selbst verstanden hat, als er entschied, Abgeordneter zu werden, ist eine offene Frage. Doch das ist hier nicht die Hauptsache und das lassen wir besser seine persönliche Sorge sein.
Schließlich gibt es an dieser Geschichte etwas Wichtigeres als Wakartschuks bescheidene (oder nicht so bescheidene) Persönlichkeit. Es ist das Team, das er zusammengestellt hat und dem noch einige Jahre der parlamentarischen Aktivität bevorstehen – doch auch die Kommunalwahlen sind nicht mehr fern. Ich denke, die Mehrheit würde zustimmen, dass das eine Gruppe sehr professioneller und ehrlicher Menschen ohne jeglichen Hang zur Korruption hinterrücks und – was am wichtigsten ist – mit den richtigen politischen Richtlinien ist. Es ist offensichtlich, dass diese Leute ohne die Marke Wakartschuk heute nicht im Parlament wären. Es ist wenig wahrscheinlich, dass viele leugnen werden, dass dieses Parlament, in dem es Kompetenz und Entschlossenheit zum Goldpreis gibt, ohne diese Menschen erheblich verarmen würde. Also sind im Moment genau diese in der einen Partei vereinten Menschen der Hauptwert dieses politischen Projekts.
Daher schlage ich vor, in allen Diskussionen rund um Wakartschuk von der Sprache des Individuums zur Sprache der Institutionen überzugehen.
In all den Jahren nach dem Majdan war die Rede davon, dass die Ukraine, ihr politisches System, dringend eine politische Kraft eines neuen Typs benötigt, um einen qualitativen Sprung nach vorne zu machen. Diese Kraft sollte zwei Kriterien entsprechen.
Erstens müsste es eine Partei sein, die sich an den Interessen der Mittelschicht orientiert und maximal vom oligarchischen Kapital abgrenzt. Die auf einen pro-westlichen außenpolitischen Kurs, eine pro-ukrainische Innenpolitik, sowie liberale Strukturreformen abzielt. Kurz gesagt, eine Partei, die eine liberale reformistische Nische an der pro-europäischen Flanke besetzen würde.
Zweitens sollte eine solche Kraft – im Unterschied zu der bereits in der Ukraine gebildeten Tradition – idealerweise keine Partei des Typs Leader-Partei sein. Eine Partei, die in ihren Positionen, Entscheidungen und vor allem von der Popularität einer charismatischen Person an der Spitze unabhängig wäre. Die ein Kreis von Menschen, die durch Ansichten und Ideen vereint sind, und kein typisches politisches Projekt für die Bedürfnisse einer Person und ihrem Umfeld wäre. Eine solche Partei hätte potenziell die Chance, den Aufstieg und Fall eines einzigen Politikers zu überleben und sich wirklich zu einer langjährigen politischen Kraft und nicht zu einem einmaligen politischen Vorwahlprojekt zu entwickeln.
Es sieht so aus, dass von allen politischen Kräften der Postmajdan-Ukraine gerade „Holos“ [A. d. Ü. „Stimme“] dem Bild einer solchen neuen Partei am nächsten kommt. Zumindest dem ersten Kriterium scheint das letztes Jahr von Wakartschuk versammelte Team zu entsprechen. Sie treten in der Tat konsistent für Systemreformen ein (zu den wichtigsten gehören zum Beispiel Medizin und Strafverfolgung) und man kann sie im Moment wirklich nicht des Lobbyismus von irgendjemandes Interessen verdächtigen. Aber mit der Frage der Führung ging etwas schief.
Das Problem ist, dass der Erfolg einer solchen Partei – nicht-oligarchisch und gleichzeitig führerlos – in der Ukraine praktisch unmöglich ist. Erstens ist es ein Land, in dem die Hauptinformationsquelle für die Bevölkerung immer noch das Fernsehen ist und beinahe alle Fernsehkanäle von Finanz- und Industriegruppen kontrolliert werden. Zweitens ist es ein Land, in dem die Mehrheit Politik gerade wie ein Kaleidoskop glänzender und attraktiver Gesichter und nicht als Kampf der Ideen und Institutionen wahrnimmt. Zum politischen Olymp vorzudringen, ist in der Ukraine über zwei Wege möglich: Entweder durch die direkte Unterstützung des Großkapitals, das für entsprechende Fernsehbilder sorgt, oder mit einem strahlenden und erkennbaren Leader an der Spitze mit einem vorhandenen Medien-Background, der auf seinen „Schultern“ das Team an die Macht hievt (obwohl hier zu landen auch ohne TV-Begleitung schwierig ist).
Es scheint, dass auch Wakartschuk im letzten Jahr nach diesem Szenario gehandelt hat (hier erwähne ich ihn wieder für einen Moment). Obwohl Swjatoslaw deklarierte, dass er eine Partei eines neuen führerlosen Typs gründen würde, knüpfte man die gesamte Kampagne vor der Wahl in Wahrheit an seine Person. Die Tournee vor der Wahl wurde zu einer Konzerttournee von Okean Elsy, wo der Höhepunkt der Show eine brennende Rede und ein nicht weniger brennender Gesang des Frontmanns war. Von der Seite sah es so aus, als ob sich das Team mit einem echten Headliner aufwärmen würde und nicht umgekehrt – der Leader versammelte das Publikum als Gelegenheit, um das Team kennenzulernen und zu akzentuieren. Der finale Akkord auf der Kontraktowa ploschtscha [Kontraktowa-Platz in Kyjiw] wandelte sich generell in ein vollwertiges Rock-Konzert mit dem so bekannten entblößten Oberkörper.
Zunächst schien eine solche Taktik vielleicht auch gerechtfertigt gewesen zu sein. Wahrlich, auf welche Weise könnte man über einen begrenzten Zeitraum noch die maximale Aufmerksamkeit auf sich ziehen als mit einem Auftritt des Poprock-Idols des Landes? Jedoch beginn die Bindung der Partei an den Leader zu irgendeinem Moment nicht für, sondern gegen ihren Erfolg zu arbeiten. Um nach der Dynamik der Vorwahlumfragen letzten Jahres zu urteilen, die sich gleichzeitig mit dem Beginn der politischen Rock-Tournee eingeschlichen hat – praktisch ganz plötzlich. Aus irgendeinem Grund dachte Wakartschuk, dass seine musikalischen Argumente ausreichen würden, um politische Sympathisanten zu finden, und er hatte gar kein Gefühl für seine Kernwählerschaft, die in Wahrheit ein aufmerksames und klares Gespräch wollte. Ein Gespräch, das sein Team bieten könnte, aber nicht der Leader selbst.
Ob rechtzeitig oder eher zu spät, aber Swjatoslaw und seine Parteimitglieder haben das Problem scheinbar endlich erkannt und wagen es jetzt bloß, die Nabelschnur zu durchtrennen, die sie vereinte und verband. Die anfangs als führerlos deklarierte Partei bleibt jetzt tatsächlich ohne einen klar herausragenden Führer zurück – und das scheint eine völlig neue Erfahrung für die ukrainische Politik zu sein. Paradoxerweise zeigte sie gerade jetzt, nachdem sie „verwaist“ war, ihren Charakter und ihr Gesicht am deutlichsten – was von ihr bereits vergangenen Herbst erwartet wurde.
Doch die Notwendigkeit einer Partei ohne Leader und der plötzliche Erfolg von „Holos“ nach der Selbstentfernung Wakartschuks bedeutet nicht, dass die Person des Leaders als solche ihre Rolle in der Politik verloren hat. Die jüngsten Tendenzen bezeugen gerade das Gegenteil: Nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf der ganzen Welt gewinnen Charismatiker wie der britische Boris oder der amerikanische Donald häufiger mehr an Sympathie und gelangen an die Macht. Ganz zu schweigen von den offensichtlich autoritären Regimen Putins oder Lukaschenkos, sogar im demokratischen Polen wird die Macht der PiS so lange in Abwesenheit einer Persönlichkeit, die oppositionelle Wähler vereinen und mobilisieren würde, gehalten.
Umso mehr halten in der Ukraine fast alle führenden Parteien am Rating ihres Leaders und der von ihm gewählten Rhetorik fest. Was bleibt von SN, WOB und JeS ohne Selenskyj, Tymoschenko und Poroschenko? [A. d. Ü. Gemeint sind hier die Parteien „Sluha Narodu/Diener des Volkes“, Wseukrajinske objednannja „Batkiwschtschyna“/Allukrainische Vereinigung „Vaterland“ und „Jewropejska Solidarnist/Europäische Solidarität“.] Wenn man sie mit ihnen vergleicht, scheint „Holos“ den Vorteil zu haben, dass – wie letzten Monat ersichtlich wurde – ihre „Stimme“ nicht von der einen Person an der Spitze ausgeht. Alle wirklich aktiven Handlungen und die klare Position kamen zu einem Zeitpunkt auf, als der Leader in den Schatten und das Team in den Vordergrund getreten war.
Aber andererseits kann gerade das Fehlen eines eindeutig prononcierten medialen Anführers, der das Gesicht eines Teams werden kann, in der Welt der Selenskyjs und Johnsons zu einem Grundproblem für ein Team wenig bekannter Aktivisten und Reformer werden. Möglicherweise wird die Suche nach einer solchen Person, die in der Lage ist, das Gesicht des Teams zu werden, zu einer der grundlegenden Aufgaben einer noch nicht vollständig formierten Partei. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich eine solche Person in den internen Reserven finden lässt. Wenn man im Wesentlichen eine Partei der Mittelklasse bleibt, warum sollte sich das Image dann wirklich – bereits hier beschrieben – von der Partei eines „unsicheren Mannes“ zu einer Partei der „starken Frauen“ verwandeln? Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Post-Leader-Kraft unter postpatriarchalen und postkommunistischen Ukrainern an Popularität gewinnen wird. Doch das zu beobachten, wird sehr interessant werden.
Zusammengefasst braucht die Ukraine tatsächlich eine reformorientierte bürgerliche Partei, die nicht um eine einzige Person herum aufgebaut wird. Vielleicht gibt es gerade einen Anwärter auf diese Rolle und sein Schicksal wird von seinem eigenen Verhalten, seiner Positionierung und seiner Ersatzbank abhängen. Dennoch sollte man berücksichtigen, dass der Aufbau einer führerlosen Partei nicht ganz und gar bedeutet, eine Partei ohne Leader zu bilden. In der Politik – insbesondere in der ukrainischen – wird eine solche keine Chance haben. Stattdessen sieht ein solches Modell einen völlig anderen Charakter der Beziehungen zwischen dem Leader und der von ihm angeführten Kraft vor. Wo der Leader mit seinem Charisma für den Erfolg und die Popularität der Partei arbeitet, die die Interessen ihrer Wähler fördern, aber nicht die Partei mit ihren Assets für die Interessen des Leaders arbeitet und gleichzeitig dem Wähler schmeichelt.
25. Juni 2020 // Roman Melnyk
Quelle: Zaxid.net