Den achten Jahrestag des Euromaidans begeht das Land mit einer neuen Kräfteverteilung, die nur entfernt an die Ereignisse des Jahres 2013 erinnert. Zu viele Spaltungslinien haben sich seitdem in unserer Gesellschaft aufgetan.
Die vergangenen acht Jahre haben wir beflissen ein „Freund-Feind“-Koordinatensystem aufgebaut, doch jedes Mal, wenn die Aufgabe gelöst seint, folgt eine weitere Aufspaltung: Und ein Teil der „Freunde“ wird ausgesiebt und füllt die Reihen der Feinde auf.
Die neuere Geschichte der Ukraine erinnert immer mehr an ein Ausscheidungsspiel. Es erinnert an den berühmten Agatha-Christie-Roman, in dem die politisch unkorrekten Negerlein erst durch zehn kleine Indianer und dann durch zehn kleine Soldaten ersetzt werden mussten.
An ihre Stelle unsere Landsleute setzend, kann man eine groteske, doch ziemlich genaue Chronik der Gegenwart zusammenstellen.
Zehn Ukrainer beschlossen, den Weg in die EU zu gehen,
Einer von ihnen floh nach Rostow und es blieben neun.
Heute ist auf der Welle der Enttäuschung vom Westen die Versuchung groß die Geschichte umzuschreiben und aus dem Wort „Euromaidan“ die Vorsilbe „Euro“ zu entfernen. Doch 2013 konnte die symbolische Rolle der Eurointegration kaum überschätzt werden.
Eben sie trat als der Kompromiss auf, der es dem aktiven Teil der Gesellschaft erlaubte in einem Land mit Janukowitsch & Co. auszukommen.
Der Kurs auf die EU, der offiziell deklariert wurde, wurde als Garantie für die Nichtverwandlung der Ukraine in ein Mini-Russland gesehen und dämmte die inneren Widersprüche ein. Im November 2013 wurde dieser zerbrechliche Minikonsens beendet.
Neun Ukrainer trafen sich mit dem Schwanzgesicht, [Putin]
Einer wurde zum Kollaboranten und es blieben acht.
Die Kreml-Aggression, die unserer Revolution folgte, brachte einen noch umfassenderen Bruch der Weltanschauung.
Millionen von Bürgern wurden vor die Wahl gestellt: Entweder die Ukraine und die ukrainische Sicht auf die Vorgänge verteidigen oder Russland und die russische Version der Ereignisse unterstützen.
Die beiden alternativen Auslegungen der Realität unterschieden sich so sehr voneinander, dass von Berührungspunkten keine Rede mehr sein konnte. Viele von uns mussten sich in der Praxis davon überzeugen, dass ein normaler Dialog mit den ehemaligen Bekannten und Kollegen nicht mehr möglich ist.
Acht Ukrainer begannen auf neue Art zu leben,
Einer versank in der Korruption und nur sieben blieben übrig.
Bereits 2015-2016 wurde die Einheit der proukrainischen und proeuropäischen Partei erschüttert. Es stellte sich heraus, dass die Verteidigung der Souveränität und die Reformierung des Systems nicht in eins gehen.
Es zeigte sich, dass man sowohl kämpfen, als auch stehlen kann. Man kann der russischen Aggression widerstehen und zur gleichen Zeit sich gesetzwidrig bereichern.
Man kann sich vom Imperium emanzipieren, doch nicht auf Korruption, Vetternwirtschaft und Rechtsnihilismus verzichten. Und wenn die einen von uns ein derartiges „Leben auf neue Art“ [Wahlkampflosung von Poroschenko, A.d.Ü.] akzeptierten, so fanden sich andere in Opposition zur amtierenden Regierung wieder.
Sieben Ukrainer gingen in die sozialen Netzwerke,
Einer erwarb sich den Ruf eines Poroschenko-Bots und es blieben nur noch sechs.
Die sich abzeichnende gesellschaftliche Spaltung wurde spürbar durch die modernen digitalen Technologien vertieft. Facebook erwies sich als ideale Plattform für die Klärung der Beziehungen, gegenseitige Beschuldigungen und steigender gegenseitiger Intoleranz.
Dem fünften Präsidenten der Ukraine [Petro Poroschenko] gelang es eine besonders auffällige, aggressive und erfolgreiche Gruppe virtualer Unterstützung zu schaffen.
Doch dabei wurde das Land mit dem Effekt der Informationsblase konfrontiert und die Position der Anhänger Poroschenkos in den sozialen Netzwerken korrelierte nur schwach mit der Kräfteverteilung offline.
Sechs Ukrainer gingen wählen,
Einer nannte die anderen „Selenskyj-Idioten“ und es blieben nur noch fünf.
Die Präsidentschaftswahlen 2019 beerdigten den Euromaidan unumkehrbar als gesellschaftlich-politisches Phänomen. Das gegenseitige Nichtverstehen erreichte den Punkt, an dem es kein zurück mehr gibt.
Ein Teil der gestrigen Maidan-Anhänger sah in der Wahl des Nichtsystemkandidaten Se[lenskyj] eine Chance, der andere Teil begriff dessen Sieg als nationale Katastrophe.
Jegliche Halbtöne und Versuche der Wahrung von Neutralität wurden entschlossen zurückgewiesen.
Alle, welche die Wiederwahl Poroschenkos nicht unterstützten, wurden bereitwillig zu den verachteten 73 Prozent gezählt und alle Kritiker Selenskis zu den verhassten 25 Prozent.
Fünf Ukrainer teilten Vollmachten unter sich auf,
Einer stritt mit [dem Chef des Präsidentenbüros Andrij] Jermak und es blieben nur noch vier.
Die situative Vereinigung des verschiedenartigen Publikums um Wladimir Selenski dauerte nicht lange. Die Spaltung im Lager der Sieger zeichnet sich bereits im ersten Halbjahr der Se-Präsidentschaft ab.
Der gemeinsame Sieg verwandelte sich unbarmherzig in einen privaten und der Kreis der Profiteure verengte sich vor unseren Augen.
Dabei verlor das Regierungsteam nicht nur einzelne Vertreter wie Gontscharuk [gemeint ist der erste Ministerpräsident unter Selenskyj Olexij Hontscharuk, A.d.Ü.], Rjaboschapka [Selenskyjs erster Generaltstaatsanwalt Ruslan Rjabobschapka, A.d.Ü.] oder Geo Leros [Heo Leros, ein Abgeordneter von Selenskyjs Partei Diener des Volkes, der zuletzt durch das Zeigen eines Stinkefingers in Richtung Selenskyj auffiel. A.d.Ü.]: gemeinsam mit ihnen wurden viele andere gewöhnliche Mitstreiter ausgesiebt, deren Illusionen und ungerechtfertigte Hoffnungen unter dem Druck der Bankowaja [Sitz des Präsidenten] zusammenbrachen.
Vier Ukrainer gingen das Sprachgesetz durch,
Einer redete russisch und es bleiben noch drei.
2021 trennte uns endgültig in diejenigen, die eine völlige Liquidierung des imperialen Kulturerbes anstreben und diejenigen, die zu dessen teilweiser Aneignung aufrufen.
Der Zusammenstoß ist lange herangereift und die Einführung eines neuen Sprachgesetzes spielte nicht so sehr eine praktische als eine symbolische Rolle, welche die Positionen der Seiten klar kenntlich machte.
Die einen reden unmissverständlich über die Verdrängung der „Sprache des Aggressors“, für die kein Platz in der neuen Ukraine ist. Und die anderen können nicht mehr so tun, als ob diese Absicht sie nicht betrifft.
Drei Ukrainer gingen zur Impfung,
Einer von ihnen glaubte an Chips und es blieben noch zwei.
Die Hauptspaltung des derzeitigen Jahres ist vergleichbar mit den Erschütterungen der Jahre 2014 und 2019. Der Konflikt zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern ist nicht nur durch den Grad der gegenseitigen Abneigung bemerkenswert, sondern auch der schwachen Bindung an die vorherigen Brüche der Weltanschauung.
Über die Gefährlichkeit der Impfungen und „Faschismus“ kann man sowohl die Wähler Selenskis als auch Poroschenkos reden hören, von Russischsprachigen und Ukrainischsprachigen, von Patrioten und Kreml-Agenten.
Feinde werden unter gestrigen Gleichgesinnten und Gleichgesinnte unter Feinden gefunden, und das kann nur desorientieren.
Zwei Ukrainer wurden von Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung eingeholt,
Einer geriet unter Sanktionen, dem anderen wurde verziehen.
Die Überführung des Landes in das Regime der manuellen Steuerung, die 2021 stattfand, hat eine neue Spaltungslinie hervorgebracht.
Der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung, der Judikative und Legislative ersetzt, ruft in der Gesellschaft widersprüchliche Emotionen hervor.
Für die Einen ist es die einzige Chance auf die Wiederherstellung von Gerechtigkeit, für die Unterdrückung der „fünften Kolonne“ und die Zerschlagung des oligarchischen Systems.
Andere sehen in der Vernichtung von Checks and Balances die Schaffung von gefährlichen Präzedenzfällen, eine Gefahr für selektive politische Abrechnungen. Welche Sichtweise mehr gerechtfertigt ist, ist bisher schwer zu sagen.
Der letzte Ukrainer sah müde aus,
Er reiste für immer nach Polen aus und niemand blieb übrig.
Schlussendlich sind wir zur Grenzscheidung gelangt, deren entscheidende Rolle wir all diese Jahre verspürt haben. Krieg, Korruption, Armut, politische Instabilität, Kränkungen und Enttäuschungen: in dem einen oder anderen Maße haben sie jeden betroffen. Doch für die einen ist es ein Anlass sich vom ukrainischen Projekt zu verabschieden und sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen, für die anderen nicht.
Und die einen haben einen Reserveplatz, anderen wurde er genommen oder verzichten prinzipiell darauf.
Und wenn für die potenziellen Emigranten die gegenseitige Intoleranz nicht kritisch ist, so müssen die Bürger, die an die Ukraine gebunden sind, dennoch einen annehmbaren Modus Vivendi suchen.
Wie verschieden und einander nicht gleichend sie auch sein mögen.
20. November 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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