Das provinzielle Leben
Das Leben in der Provinz ist wärmer, aufrichtiger als in der Hauptstadt. Zwei Tage war ich in dem verschneiten Luzk und genoss die Gesichter. Studenten, Lektoren, einheimische Intelligenz. Sie machten mir Freude und strömten Wärme aus. Ich habe dort die Zukunft gesehen, nicht meine, sondern meines Landes, das heute unfähig und gereizt versucht die Mechanismen der Demokratie zu beherrschen.
So war es immer: die Hauptstadt saugt das Intellekt und die Kraft des eigenen Landes ein. Sie vergisst, die Fortschritte mit anderen zu teilen. Ihr, der kalten und noch stärker gesichtslosen Hauptstadt, geht es besser. Hier ist es leichter die Sünde, die Leere, die eigene Dummheit zu verbergen. Hier, in der Hauptstadt, gibt es mehr Brot und mehr Schauspiel. Und weniger echte Menschengesichter.
Ich wurde von den örtlichen Journalisten eingeladen. Zwei Tage haben sie mich mit ihrer Stadt bekannt gemacht, mit ihren Einwohnern. Hauptsächlich mit der Jugend, die unpolitisch ist, die den Kiewer Wohlstand nicht hat, und die Kiewer Sättigung von den Eindrücken. Sie haben das gleiche Fernsehen, die gleichen pseudopolitischen Shows im Fernsehen, das Ergebnis ist aber ein anderes – die Bewahrung der eigenen Reinheit. Aufrichtige, unpolitisierte Fragen (ich habe dort das Buch über meine Gefängniserinnerungen präsentiert), taktvolle Reaktion auf eine offensichtliche Müdigkeit und das Unwohlsein des Autors. Und, ein weicher, nicht aggressiver, im Vergleich zu Kiew, taktvoller Wunsch sich zusammen zu fotografieren.
Provinz. Dort, nicht in Kiew, wird die künftige Ukraine gebaut. Wo es mich und die Parteiideologen und Dienstgendarmen, die mich in den jungen Jahren gequält haben, nicht geben wird. Wo sie leben werden, die frei Geborenen, frei von Ideologie und Sozialangst. Die, die weder Lenin, noch Solschenizyn kennen. Ich verstehe, dass einige durch Drogen sterben werden, andere – vom Alkohol. Andere fahren zum fremden Glück, nicht dem ukrainischen. Die Mehrheit wird bleiben. Hier arbeiten, leben, Kinder zur Welt bringen. In Luzk habe ich diese Gesichter, diese Augen gesehen. Ich habe erzählt und gehört, auf ihre offenen Fragen geantwortet, und mit Schmerz im Herzen gedacht: „Wie schade, dass ich diese plötzliche Freude mit meinen gestorben Freunden, Iwan Swetlischnyj und Walerij Martschenko, nicht teilen kann“.
Luzk ist nicht völlig ideal. Ich habe auch ein großes rotes Spruchband am Bürogebäude der örtlichen kommunistischen Partei bemerkt. Alles, wie immer in der Ukraine, es gibt keine Denkmäler von Lenin und Stalin, jedoch deren Geist. Der stinkende Geist der verstümmelten ukrainischen Vergangenheit, der heute ziemlich wohlbehaltene „Kämpfer gegen die Oligarchen“ ernährt.
Ich war sehr müde. Ich wollte nach Hause, zu meinen Büchern, zu meinen Schriften. Zu meiner üblichen Kiewer Bitterkeit. Ich wurde gebeten, mit örtlichen Unternehmern zusammen zu essen. Sie waren nicht viele, vier. Junge Leute, dreißig – vierzig Jahre alt, die sich unter die Studentenmassen während meiner Präsentation gemischt haben. Ich konnte nicht „nein“ sagen. Mein Kopf tat weh von Müdigkeit und hohem Blutdruck, ich sehnte mich nach Ruhe. Ich war höflich und nicht sehr gesprächig. Ich befürchtete eine leere Tischplauderei, mit langweiligen politisierten Fragen…
Es war aber alles anders. Wir sprachen von Rilke, der Übersetzung seiner Werke ins Ukrainische von Stus und Fischbein. Mein neuer junger Bekannter, früher Arzt, erzählte uns, wie er seine Kinder – Erstklässler nach Tscherniwzi gefahren hat, zu den Überresten der früheren Kultur und Architektur dieser heute grauen Stadt. Und er erzählte über Paul Celan, den großen und tragischen Celan.
Ich wollte Luzk nicht verlassen. Der Blutdruck hat sich normalisiert, irgendwie von allein, ohne Medikamente. Ich konnte aber hier nicht bleiben. Danke dir, Luzk! Ich komme wieder!
1. April 2013 // Semjon Glusman, Arzt, Mitglied des Staatlichen Ukrainischen Kollegiums für die Medizinische Versorgung von Strafgefangenen
Quelle: Lb.ua