Putin mit Kohlensäure
Der russische zivilisatorische – und Fernseh- – Raum gibt in unserem Land langsam, aber sicher Positionen preis. Russische Fernsehprogramme gibt es in der Ukraine bereits nicht mehr. Bald müssen auch die Hauptagenten des russischen Einflusses – solche wie (der Fernsehsender) Inter – sich auf die Produktion eigener Inhalte konzentrieren. Und die Schmuggelware, die auf der Malaja Arnautskaja (in Odessa) produziert wird – das ist bereits eine komplett andere Ware, als die, welche direkt aus Moskau eingeführt wird.
Doch das Imperium gibt nicht so einfach auf. Und es bleibt ihm immer etwas, womit es die vertrauensseligen Provinzler gewinnen kann. Etwas, was selbst gegen das Imperium kämpft, doch nur vorsichtig, um zu überleben. Und gemeinsam damit flößt es Ehrfurcht vor der eigenen Aufrichtigkeit ein – also mit so einem Imperium, wenn es da solche Leute gibt, wäre es für uns gut und angenehm.
Eine dieser Exportwaren ist Leonid Parfjonow. Ein talentierter Fernsehmoderator, Autor der Kultserie „Namedni“ („Neulich“, sowjetisch-russisches Fernsehprogramm von 1990 – 2004, A.d.Ü.) – viele erinnern sich daran bis heute an das Vergnügen, mit dem sie diese Filme über die sowjetische Geschichte sahen. Interessant, wie es sein würde, wenn man sie jetzt noch einmal schauen würde?
Für viele russische Fernsehzuschauer erscheint die Sendung verleumderisch – Parfjonow sprach über die sowjetische Geschichte ohne Ehrfurcht. Doch vielen ukrainischen Zuschauern erscheint sie verlogen – Parfjonow sprach über die sowjetische Geschichte ohne Schrecken. Das Paradox besteht darin, dass als die historische Serie „Namedni“ gesendet wurde, der große Teil ihrer Zuschauer noch im sowjetischen Verständnis der Geschichte und des Lebens verharrte. Von diesem Moment an fanden offensichtliche Veränderungen statt, Russland versank im Revanchismus, seiner Gesellschaft wurden offene Charakterzüge der imperialistischen Nostalgie eigen. Und die Ukrainer reißen sich los von der sowjetischen Vergangenheit, beginnen zu begreifen, dass unser Land lediglich eine Kolonie des Nachbarn war. Und davon, dass die Kolonie lokale Gauleiter führten, und ein großer Teil unserer Landsleute einfach nicht begriff, in welcher Situation sich ihre Heimat befindet und dem Imperium ergeben diente, wird die Situation nicht besser. Nur noch schlechter.
Sie könnten sagen, dass an der Verwandlung der russischen Gesellschaft in ein Monster Putin Schuld hat. Doch ein Mensch kann nicht jählings ein großes Land verändern. Für derartige Änderungen bedarf es eines Nährbodens. Eines Nährbodens der Fälschung.
Russland hätte sich ändern können, wenn seine Einwohner begriffen hätten, dass sie in den Jahren des Bolschewismus in Dreck, Blut und Scheiße lebten. Ja, viele haben nur überlebt. Doch einige haben in dieser Scheiße ausgezeichnet gelebt. Doch stolz auf ein Land zu sein, in dem Blutsauger den Bürgerkrieg gewannen, heißt sich selbst nicht achten. Stolz sein kann man nur darauf, dass man sich der Scheiße entledigt hat, einen wenn auch kleinen, doch den eigenen Sieg über die ehemaligen Sieger errungen hat. Doch wenn du die Geschichte der Sowjetunion für die logische Fortsetzung der Geschichte Russlands hältst, warum dann etwas ändern? Es muss der „große Staat“ gerettet werden.
Also handelte der Zyklus „Namedni“ Parfjonows in mehreren Serienfolgen der Geschichte eben davon, dass man in der Scheiße ebenso schön leben kann. Nach (dem Film) „Pokajanije“ von Tengis Abuladse („Buße“, sowjetischer Film von 1984 der erst 1987 gezeigt wurde, A.d.Ü.), nach (dem Film) „Belyje Odeschdy“ Dudinzews („Weiße Kleidung“, belarussischer Film von 1992 A.d.Ü.), nach den Moskauer Gedenkwochen und dem Begreifen der Russen dessen, in welchem Albtraum sie und ihre Eltern wirklich lebten, gab er dem sowjetischen Leben den Eindruck von Normalität. Doch das war keine Normalität. Das war tägliche Angst, minütlicher Verfall. Und diese Geschichte war eine Fälschung. Sie gab den von der Wahrheit ermüdeten Einwohner Russlands die Gelegenheit innezuhalten, zurückzublicken und sich selbst zu sagen, dass alles schon nicht so schlecht war. Sie gab die Möglichkeit zum geliebten russischen Paradigma des Personenkults um Stalin zurückzukehren – „Ja, es war ein Kult, doch war das wenigstens eine Persönlichkeit!“
Und dann tauchte Putin auf. Er konnte nicht einfach nicht auftauchen. Gott bewahre, ich laste das nicht Parfjonow an. Er war lediglich ein Spiegel der Gesellschaft, die nicht die wirkliche Wahrheit über sich selbst wissen wollte, welche die eigene schreckliche – und schändliche – Geschichte in Form eines Kinderspielzeugs annehmen wollte. Und erhielt das, was sie wollte. Und begriff, dass zu überleben, sich auf Parfjonows Art zu äußern, cool ist.
Dabei hielt sich Parfjonow in seiner Fernsehkarriere eben an diese Regeln des prinzipienlosen Überlebens. Doch wir sprechen nicht über ihn. Wir sprechen von der russischen Propaganda und der Fälschung.
Parfjonow reiste in die Ukraine um den Film mit dem anspruchsvollen Namen „Russische Juden“ zu zeigen. Also selbst die Bezeichnung dieses Filmes ist eine Lüge. Selbst der Name dieses Filmes ist eine Fälschung und Manipulation. Denn es gab niemals russische Juden. Ja, vielleicht hätte es sie gegeben, wenn sie in Russland hätten leben können. Doch sogar nach der Einverleibung der Gebiete der Rzeczpospolita (in den Moskauer Ländern gab es niemals Juden) taten die imperialen Machthaber alles dafür, damit die Juden nicht neben den „Großrussen“ lebten.
Und wenn Sie übrigens wissen wollen, für was die Russen die Ukraine, Belarus, Polen und Litauen immer hielten, dann schauen Sie einfach nach, wo der „Ansiedlungsrajon“ verlief. Dort, wo Russland war, gab es niemals Juden, es wurden allerhöchstens „besonders wertvolle“ Kaufleute reingelassen, doch von denen gab es nicht viele. Am Anfang des XX. Jahrhunderts lebten in Moskau etwa 8.000 Juden, in Petersburg 17.000, doch die Regierung setzte damit fort einschränkende Anordnungen abzustempeln, beispielsweise als sie 1904 den Juden, die sich im russisch-japanischen Krieg besonders hervorgetan haben, erlaubte im „großrussischen Gebiet“ zu leben, wurde ein besonderes Gesetz erlassen, das unterstrich, dass sich diese Regel nicht auf Hauptstädte erstreckt. Derweil lebten im „Ansiedlungsrajon“ Millionen Menschen – ukrainische, litauische, polnische und belarussische Juden. Diesen Leuten standen zu Russland in keinerlei Beziehung.
Sie hatten nicht die kleinste Möglichkeit nach Russland zu reisen. Sie waren niemals mit ethnischen Russen, „Großrussen“ konfrontiert, von denen es in den Gebieten der ehemaligen Rzeczpospolita auch nur sehr wenige gab. Schlussendlich kannte ein großer Teil von ihnen einfach die russische Sprache nicht. Sie sprachen Jiddisch, Polnisch, Litauisch, schlechter konnten sie Ukrainisch und Belarussisch. Doch Russisch blieb (für sie) die Sprache des Adels, eine Sprache, die endlos weit weg vom „Ansiedlungsrajon“ war, eine Sprache der Herren und noch die Sprache der Pogromleute – eben in dieser Sprache wurde zur Vernichtung der Juden von den Führern der schwarzhemdigen „Union des russischen Volkes“ aufgerufen.
Also, wie kommen wir Juden dazu, Russen zu sein? Allein deshalb, weil die „großrussischen“ Imperatoren zusammen mit der Aristokratie und der ergebenen Kirchensynode uns verspottet haben? Doch gebiert Hohn keine Teilnahme, er gebiert nur Hass. Eben deshalb waren so viele ukrainische oder polnische Juden in den russischen revolutionären Parteien – das ist eine Tatsache. Eben deshalb wollten diese Menschen die Vernichtung des Imperiums. Eben deshalb wollten sie sich nicht als Juden sehen. Doch waren sie natürlich von der Herkunft her welche. Die Frage ist nur was für welche. Trotzki (Lew Trozkij, Bolschewik, Mitgründer der Roten Armee, 1940 in Mexiko auf Befehl Stalins ermordet, A.d.Ü.) war ein ukrainischer Jude. Und Kaganowitsch (Lasar Kaganowitsch, einer der Hauptorganisatoren der großen Hungersnot von 1932/33 in der Sowjet-Ukraine, A.d.Ü.) war ein ukrainischer Jude. Und ihre zionistischen Gegner waren ukrainische Juden. Schabotinskij (Wladimir/Wolf Schabotinskij/Jabotinsky, Zionist, Gründer der Jüdischen Legion im Ersten Weltkrieg, die bei der britischen Armee gegen das Osmanische Reich kämpfte, A.d.Ü), war aus Odessa und begriff die Ukraine besser als viele damalige „Kleinrussen“. Golda Meir (Ministerpräsidentin Israels 1969-1974, A.d.Ü.) ist aus Kiew und nicht aus Torschok (Stadt im Gebiet Twer/Russland, A.d.Ü.). Schriftsteller, die auf Jiddisch schrieben, wurden alle hier geboren – Scholem-Alejchem, Mendele (Moicher Sforim), (Leib) Kwitko, (David) Bergelson. Und Schriftsteller, die auf Russisch schrieben ebenso. Übrigens, das Russische vieler „Komsomol“-Poeten des XX. Jahrhunderts, solcher wie Bagrizkij oder Utkin ist gelernt, fremd. Dafür scheint in „Duma pro Opanassa“ Bagrizkijs oder „Poem o ryschem Motele“ Utkins die Sprache durch, in der diese Leute tatsächlich redeten. „Opanass“ ist fast auf Ukrainisch geschrieben, „Motele“ beinahe Jiddisch. Ich halte jede Wette, dass die Leser beider Stücke aus Twer und Tambow nicht einmal die Hälfte verstanden. Ich halte auch jede Wette, dass Parfjonow in diesen Gedichten nicht einmal die Hälfte versteht. Doch dafür ist er überzeugt, dass Bagrizkij und Utkin russische Juden waren. Wie denn sonst.
Es ist klar, warum Parfjonow diesen Film gedreht hat. Er muss leben und arbeiten. Seine Aufgabe der Entweihung der sowjetischen Geschichte hat er mit „ausgezeichnet“ erfüllt. Jetzt hat er einen anderen Auftraggeber – Michail Fridman, übrigens ebenso ein ukrainischer Jude, der offensichtlich den russischen Menschen sagen will, dass die Juden keine Wundertiere mit Hörnern und Hufen sind, sondern überhaupt schon immer Russen sein wollten. Erzählt mithilfe eines talentierten Fernsehfabeldichters. Dass dabei die Erinnerung an die wirkliche Geschichte des ukrainischen und polnischen Judentums in den von Russland eroberten fremden Gebieten verraten wird, interessiert Auftraggeber und Autoren nur wenig. Das ist kein Jazz, kein „Jazz-Fest“ (Anspielung auf das jährliche Jazz-Festival in Lwiw, das von Fridmans Alfa-Bank gesponsert wird, A.d.Ü.).
Also Herr Sponsor und Herr Autor. Die Juden wollten niemals Russen sein. Diejenigen, die es sein wollten, gibt es in Ihrem Film nicht. Bis 1917 ließen sie sich taufen und „verschwanden“, hörten auf Juden zu sein. Oder sie wanderten in die USA aus und hörten auf „Russen“ zu sein, ukrainische (Juden) – was auch immer. Sogar wenn Sie Ihren Film drehen, nutzen Sie Hunderte künstlerische und technische Entdeckungen dieser Menschen, derjenigen, welche die großrussischen Machthaber aus dem Territorium des Imperiums drängten. Davon gab es Millionen.
Und nach 1917 wollten die Juden Sowjetmenschen sein. Damals gab es bereits kein Russland mehr, es wurde vernichtet. Sogar dem Russen war es nicht möglich Russen zu sein und Sie sprechen von Juden. Und sowjetisch wollten diese Juden einfach deswegen sein, um zu überleben. Es klappte, wie Sie wissen, nicht bei allen – doch davon wurde mit Scherzen, schönen Redewendungen und Spezialeffekten bereits im Projekt „Namedni“ erzählt. Und als Russland erneut irgendwie aufzutauchen begann, reiste ein großer Teil der dort lebenden Juden einfach aus, denn es ergab sich die Möglichkeit. Daher gab es keinerlei russische Juden und es wird sie auch nicht geben. Es wird zum Glück niemals geben – Schᵉma Jisrael, rief der ukrainische Jude Grigorij Sinowjew, der Vorsitzende der Komintern und Mitstreiter Lenins, vor seinem Tode aus. Übrigens wurde der rote Führer in der Stadt Kropiwnizkij (ehemaliges Kirowograd, ukrainisch Kropywnyzkyj, A.d.Ü.) geboren, das eben deswegen nach der Machtergreifung der Bolschewiki und der Okkupation der Ukraine Sinowjewsk genannt wurde. Warum eben Kropiwnizkij und nicht Perm, seltsam, oder?
Daher ist der Filmname Parfjonows eine Fälschung. Die Geschichte, die er in seinem Film zu erzählen versucht, ist eine Fälschung. Und unterscheidet sie sich von der Geschichte, die Putin in Versailles erzählte (Anspielung auf die Vereinnahmung der französischen Königin Anna von Kiew bzw. Anna Jaroslawna durch Wladimir Putin als russische Fürstin, A.d.Ü.), lediglich durch ihre Leichtigkeit. Parfjonow – Putin mit Kohlensäure und Sirup.
Ich wollte nicht darüber schreiben, einfach deswegen, weil mich von Anfang an das Erscheinen dieses Filmes anwiderte. Anwiderte, weil ich mich als Mensch fühlte, dem das Portemonnaie gestohlen wurde und er soll sich freuen und so tun, als ob es fremdes Geld sei und er damit nichts zu tun habe. Doch solange sich der Diebstahl auf dem Territorium Russlands abspielte, solange Parfjonow mit seinem Film dort herumreiste, schwieg ich. Jeder Mensch braucht einen Platz, dachte ich, wie in dem alten jüdischen Witz.
Doch jetzt kam Parfjonow hierher. Mit seinen Scherzen und witzigen Wendungen, mit seinen Belehrungen, mit seiner Fälschung. Mit seiner mir gestohlenen Erinnerung an mein Volk und meine Familie. Und ein Teil meiner Landsleute – sowohl ethnische Juden als auch ethnische Ukrainer – fing sogleich dem Moskauer Baron an Beifall zu klatschen, jedem seiner Worte und jedem seiner Bilder. Und davon wird einem gleich doppelt schlecht.
Und zum Schluss. Das betrifft Parfjonow bereits nicht mehr. Das betrifft ausschließlich seinen Mäzenen, Michail Fridman, der auch die Schaffung des Holocaust-Gedenkzentrums „Babij Jar“ zu finanzieren gedenkt.
In Babij Jar, Michail, wurden unsere Verwandten und Nachbarn vernichtet – die Juden Kiews. Und sie waren ukrainische Juden, keine russischen.
Berücksichtigen Sie das.
8. Juni 2017 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg