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Die große ukrainische Anarchie - Warum die Ukrainer den Staat als etwas national und sozial Fremdes auffassen

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die große ukrainische Anarchie
Eingangs will ich sofort warnen, dass es in dem Aufsatz nicht um die Geschichte der anarchistischen Bewegung in der Ukraine geht, auch wenn wir nicht ohne historische Exkurse auskommen werden. Wenn die Rede von der Anarchie in der Ukraine ist, dann wird wahrscheinlich in den Köpfen vieler das Bild von Nestor Machno auftauchen. Das ist wenig überraschend, eben dieser rustikale Typ hat die ukrainische Duftnote fest in die Weltgeschichte des Anarchismus eingeschrieben. Wahr ist, dass später nach seinem Bild verschiedene Propagandisten ziemlich so gut agierten, so dass von der im Prinzip interessanten Erscheinung eine komplette Karikatur übrigblieb. Davon geblieben ist nur noch die auf dem Geldschein verbreitete Aufschrift „Wer dieses Geld nicht nimmt, den verdrischt Väterchen Machno.“ Oder noch die Losung: „Schlage die Weißen, bis sie rot werden. Schlage die Roten, bis sie weiß werden“. Das ist witzig, aber sagt beinahe nichts aus darüber, was die Ukrainer historisch zum Anarchismus hingezogen hat.

Beginnen wir aber nicht mit der Geschichte. In der gegenwärtigen Ukraine sind die alten historischen Geschichten entweder auf Eis gelegt oder sogar solchen Neuinterpretationen ausgesetzt, dass sie ihre anfängliche Bedeutung verloren haben. Und wenn wir heute reden, in der Ukraine herrsche allmählich Anarchie, dann haben wir nicht unbedingt den Sieg der Ideen Bakunins oder Kropotkins im Sinn. Vielmehr ist es umgekehrt, das Wort Anarchie wird unter den gegenwärtigen Umständen als Synonym für eine ganze Reihe von Dingen verwendet, um Regierungslosigkeit, Chaos, Desorganisation zu bezeichnen, oft ohne den geringsten Bezug zur Lehre des Anarchismus. Eben deshalb bedarf dies Thema eines tiefen Überdenkens. Zumindest eines Überdenkens derart, was an diesen Trends historisch verursacht, was eine Neuschöpfung des Oligarchenclan-Systems ist, und was sich als Ergebnis banaler Selbstverteidigung gebildet hat.

Der Staat als Fetisch

Ohne ein Verständnis dessen, wie man auf unterschiedliche Weise, manchmal diametral entgegengesetzt, in der ukrainischen Gesellschaft gerade den Begriff Staat aufgefasst hat, lässt sich das Thema nicht angehen. Es ist klar, dass die Unterscheidung nach dem genannten Kriterium ziemlich willkürlich ist und keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Am deutlichsten sichtbar in der ukrainischen Gesellschaft kann man zwei Gruppen von Menschen herausgreifen, die den Staat einfach als Fetisch begreifen.

Zur ersten Gruppe gehören in der Regel Nationalisten, die meinen, dass die Nation dann, wenn sie keine Unabhängigkeit erlangt hat, keine Nation ist. Deshalb ist nach ihrem Verständnis der Staat ein heiliges Ziel, der höchste Punkt in der Entwicklung der Nation. Für diese Gruppe ist es absolut irrelevant, ob dieser Staat den Bürgern eine gerechte soziale Verteilung garantieren, oder ob er Grundrechte und Freiheit und so weiter gewähren wird. Diese Kategorie von Bürgern ist zufrieden mit der alleinigen Tatsache der Existenz eines unabhängigen Nationalstaates. Sie ist bereit, auf ewig „zeitweilige“ Unannehmlichkeiten zu erleiden, sich abzufinden mit der unqualifizierten und sogar kriminellen Arbeit des Staatsapparates und unablässig die zu verurteilen, die es wagen, vom Staat zu verlangen, die auf sich gezogenen Verpflichtungen zu erfüllen.

Nach ihrem Verständnis ist der Staat nicht ein effektives Managementsystem und Garant für Gerechtigkeit, wofür die Bürger sogar ihr Recht zur Ausübung von Gewalt delegierten. Für sie ist der Staat ein Porzellangott ohne praktischen Nutzen, den man nur unter Glas verstecken und wie einen Augapfel vor den Angriffen innerer und äußerer Feinde schützen muss. Nach dem Verständnis der Nationalisten ist der Staat eine Gottheit, von dem man nichts verlangen darf. Man muss nur ertragen und beten und auf ein würdiges Leben in einer flüchtigen Zukunft hoffen.

Die zweite Gruppe besteht aus Menschen mit einem Bewusstsein, das tief in der sowjetischen Vergangenheit eingewurzelt ist. Für sie ist der Staat ebenso auf seine Weise ein Fetisch. Aber im Gegensatz zu den Nationalisten ist er ein Konsumenten-Gott. Das sowjetische Staatssystem verweigerte seinen Bürgern Grundrechte und Freiheiten, indem es faktisch jedwede Privatinitiative verbot und stattdessen eine Grundausstattung von Wohlstand gewährte: hundertprozentige Beschäftigung, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung. Unter den Bedingungen einer gewissen Gleichmacherei lebend und wütend über dauerhafte Defizite formte sich unter den Menschen die Überzeugung, dass es ihnen „gehörte“ und der Staat „musste“. Grob gesagt: die Wohnungsrenovierung soll das Wohnungsamt machen, und der Staat soll den Arbeitsplatz sichern. Für sie ist der Staat eine abgrundlose Quelle von Wohlstand, die man „ausklopfen“ muss.

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems und vor allem dem Verschwinden der Angst vor den repressiven Staatsorganen ist die Verbraucher-Haltung ist nicht nur nicht verschwunden, sie ist gewachsen und hat sich verstärkt. Diese Fetisch-Verbraucher Einstellung zum Staat blühte besonders heftig und farbenprächtig dort, wo die Menschen sich überhaupt nicht daran erinnerten, was Privateigentum ist und sich nicht besonders den Kopf darüber zerbrachen, ob die Gesellschaft Produktivität benötigt, die sie herstellen, woher der Staatshaushalt gesichert wird und insbesondere wie effektiv die Personen sind, an die sie das Recht delegieren, das staatliche Management zu erledigen. Sie wussten: Die Regierung ist ihre, und deshalb muss sie.

Die fremde / eigene Regierung

Die Einstellung zur Staatsmacht bei den Ukrainern nach dem Prinzip eigene / fremde verdient eine besondere Betrachtung. Erneut ist es wieder so, das Problem liegt darin, in wessen Namen das Narrativ ausgeführt wird. Von nationalistischem Standpunkt aus ist es klar, dass jegliche Regierung fast immer für die Ukrainer nicht nur fremd, sondern ein Feind war. Hier lohnt es sich eine gewisse Anmerkung dazu zu machen, dass sowohl die populistische Schule Mychajlo Hruschewskyjs als auch die sowjetische Konzeption des Antagonismus der Klassen sich weitgehend treffen in der Beurteilung einzelner historischer Phasen.

Entsprechend diesen Konzeptionen sind die Ukrainer, unzufrieden mit der sozialen, religiösen und nationalen Ausbeutung der „polnischen Herren“, bis ins Wilde Feld geflohen und versuchten dort „ihren“ gerechten Staat zu verwirklichen. Übrigens waren die Ukrainer bei weitem nicht die Ausnahme bei den Versuchen auf eigenem Land etwas reines und unberührtes aufzubauen. Ein eindrucksvolles Beispiel können die englischen Protestanten sein, die in die „Neue Welt“ gingen (der Name spricht für sich selbst), um in den von den Indianern „befreiten“ Ländern ein neues Jerusalem zu erbauen, ihr verheißenes Land. Es ist einleuchtend, dass das Leben an einer Grenze, die nicht von einer Kraft kontrolliert wird, zur Bildung von paramilitärischen Organisationen anstößt. Es tauchte die Saporiska Sitsch auf, die zu einem großen Teil von Diebstählen lebt. Um in einer „Übergangs“-Zone zu leben, braucht man aber nicht nur ein spezielles Organisationssystem, sondern auch eine entsprechende Hierarchie.

Mit der Zeit führt das dazu, dass nicht nur die Ältestenschaft die Fixierung ihres Status beim König wollen, sondern auch die Kosaken (Abkömmlinge von Ausreißern) sind bereit, reguläre, das heißt registrierte Truppen zu werden. Es war so, dass die Kosaken eingeschlossen waren zwischen drei staatlichen Zentren: dem katholischen Polen, dem orthodoxen Russland und der muslimischen Türkei. „Das Eigene“, also die Kosakenherrschaft, in diesem Dreieck galt es nicht aufzugeben. Letztlich fiel die Wahl auf denjenigen Herrscher, der bereit war, den Adelsstand für die Ältestenschaft und einen freien Status für die Kosaken anzuerkennen. Das hieß an der Seite von Russland, mit allen Konsequenzen.

Wenn wir diese Geschichte vom nationalen Gesichtspunkt betrachten, dann gab die „eigene“ Regierung plötzlich aus unerklärlichen Gründen resignierend ihren selbstständigen Status auf und unterwarf sich dem Willen einer fremden Kraft. Dies wiederum wirft ernsthafte Fragen nach den Kriterien des „Eigenen“ dieser Regierung für die damaligen Ukrainer auf. Um nicht zweimal sich den Kopf zu zerbrechen, landeten die Ukrainer anschließend bei der poetischen Definition dieses Vorgangs durch Taras Schewtschenko und stimmten zu, dass Bohdan Chmelnyzkyj vielleicht nicht klug, aber doch ein Sohn sei.

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Vom Standpunkt der Klassen rechtfertigten sie diese Wahl damit, dass gerade die polnischen „Herren“ die Ukrainer rücksichtslos ausgebeutet hatten, aber jene einen Aufstand gemacht und sich dem „brüderlichen russischen Volk“ angeschlossen hatten, als fühlten sie, dass im fernen Jahr 1917 sie gemeinsam die sozialistische Revolution durchführen und auf ewig den Ausbeutern ein Ende setzten würden.

Schreitet man mit dem Prisma eigenes / fremdes weiter durch die Geschichte, so sah sich die Macht niemals irgendwie vom Standpunkt der Effektivität einer staatlichen Organisation an. Die zwei Extreme – nur ein Nationalstaat kann für die Ukrainer gerecht sein oder entsprechend nur ein sozialistischer Staat kann den ukrainischen Werktätigen ein würdiges Leben garantieren – haben sich für lange Zeit im Bewusstsein der Ukrainer verschanzt. Dementsprechend wurde jede weitere Regierung von ihnen als im wesentlichen fremde wahrgenommen. Die Niederlage der Westukrainischen Volksrepublik im polnisch-ukrainischen Krieg verwandelte für ein Jahrzehnt die Polen und den polnischen Staat in den schlimmsten Feind der Ukrainer. Die Niederlage der Ukrainischen Volksrepublik und der Sieg der Bolschewiki verwandelte die UdSSR sogar in der Periode der Ukrainisierung zu einem verhassten antiukrainischen Monster.

Die Tatsache, dass die städtischen Arbeiter kein ukrainisches Nationalbewusstsein hatten, sich aber schnell zurechtfanden mit der beherrschenden Stellung ihrer sozialen Klasse und ihren Vorteilen, interessierte die ukrainischen Nationalisten nicht. Sie fanden es nützlicher, mit den Begriffen äußere Aggression zu arbeiten als mit dem Fehlen einer sozialen Basis für das vollwertige Existieren eines ukrainischen Nationalstaates. Eine weitere Verwerfungslinie in der ukrainischen Gesellschaft war dies, dass die Hauptträger des Nationalbewusstseins nur einige wenige Intellektuelle und Bauern waren. Das Verständnis des Begriffes „ukrainische Nation“ führte fast ausschließlich die Bauern zu Versuchen der Umsetzung falscher Konzepte und hatte immer fatale Folgen.

Betrachten wir beispielsweise die Periode 1917 bis 1922. Die tragende Säule beim Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine konnten nur die Bauern sein. Sobald die Zentralregierung in Petersburg geschwächt war, eilten die Menschen aus den Dörfern die Grundstücke der Herren auszurauben und illegal Land wegzunehmen. Die damaligen Politiker mussten eines begreifen: für die Bauern ist das Land eine Art Gott. Sie arbeiteten das ganze Leben lang schwer, um Land zu kaufen. Sie nahmen bei Banken Kredite auf. Aber hier war jetzt eine Gelegenheit: der Staat kann nicht mehr die Großgrundbesitzer schützen. Die Banken können nicht mehr Kredite geben. Man muss keine Steuern zahlen. So sind die Bauern also nicht verpflichtet, ihr Land zu bearbeiten. Die sozialistischen Führer der Ukrainischen Nationalrepublik wagten es lange nicht, ein Machtwort zu sagen. Der zaristische General Hetman Skoropadskyj konnte eine solche Anarchie nicht tolerieren, beeilte sich zusammen mit den deutschen und österreichischen Truppen den Bauern das Land der Gutsherren wegzunehmen.

Erkundigungs-Einheiten reisten durch den gesamten Staat, um den Gutsherren das Geraubte zurückzugeben und dazu die requirierten Produkte zu übergeben. Konnte eine solche Regierung in den Augen der ukrainischen Bauern die „eigene“ sein? Klarerweise nein. Zusätzlich zu dem gibt der Bolschewik Lenin Dekrete über den Frieden, kostenloses Land für die Bauern und Fabrikarbeiter aus. Die Bauern, die selber zugaben, dass sie nie so gut und viel gegessen hatten, wie zur Zeit der Revolution wurden einfach von den leeren Versprechen der Bolschewiken gekauft, wofür sie anschließend schrecklich zahlten. Umfassende Kollektivierung und Enteignung, künstliche Hungersnot, Sklavenarbeit für Plackerei in den Kolchosen, das war die Rache der Arbeiter-Bauern-Regierung.

Es gab ebenso Versuche einer anarchistischen Lösung der Probleme. Hier ist Nestor Machnos Bewegung ein eindrucksvolles Beispiel. Die Anhänger Machnos glaubten aufrichtig, dass die Dorfbewohner von der „Stadtregierung“ befreit werden müssen. Sie identifizierten die Stadt mit dem Staat und meinten, dass diese Stadt den Bauern Steuern auferlegt, dass es die Stadt und nicht der Staat ist, der den Bauern Gewalt antut. Daher erklärt sich das Hinundhergerissensein Nestor Iwanowytschs zwischen den Bolschewiken und dem Anarchismus.

Bei dieser gesamten Geschichte ist es wichtig zu verstehen, dass der Anarchismus nicht ein Spezifikum der Ukrainer ist, das sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet hat. Der Anarchismus ist ein Versuch, eine Beziehung zwischen dem Menschen und der Staatsregierung herzustellen, die oft nicht nur als traditioneller Gewaltapparat wahrgenommen wird, sondern auch als national und sozial gegenüber den Ukrainern als fremd.

Im folgenden Artikel wird die Rede davon sein, warum es in der Ukraine eine so mächtige Schattenwirtschaft gibt, über die Gründe, warum man dafür keine Steuern zahlt und darüber, warum die Ukrainer sich mit einem derart ungerechten, asozialen Staat arrangiert haben.

24. März 2017 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

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Übersetzer:    — Wörter: 1964

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

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