Der Putinismus ist ausgereizt – Janukowitsch steckt in der Sackgasse
In den letzten 10 Jahren hat W.W. Putin die Qualitäten, die er im Präsidentenamt und in der Position eines Ministerpräsidenten hat, unter Beweis gestellt. Viele Russen waren mit der autoritären Grenzdemokratie Putins zufrieden. Seine wohl größte Leistung war, dass er den Russen ihr Selbstbewusstsein zurück gab. Die demokratische Entwicklung des Landes, die Förderung einer Zivilgesellschaft und echte wirtschaftliche Reformen, wie eine nachhaltige Förderung des Mittelstandes, Schaffung von mehr Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung der Korruption kann Wladimir Wladimirowitsch sich nicht auf die Fahne schreiben. In diesen Punkten hat der Putinismus versagt.
Dabei ist gar nicht ausgemacht, dass Putin in den genannten Bereichen keine Fortschritte erzielen wollte. Ihm fehlten schlicht und einfach die Mittel dazu.
Toleranz liegt nicht in der Persönlichkeit des russischen Potentaten und die Angst vor Strukturverlust und Anarchie scheint dem Premier und zukünftigen Präsidenten tief eingepflanzt zu sein. Wer aber eine demokratische Zivilgesellschaft haben möchte, muss Selbstorganisationsprozesse zulassen und fördern können. Genau an dieser Stelle mangelt es in Russland am meisten. Die Methode des Putinschen Machterhaltes ist zutiefst sowjetisch, wenn auch mit mehr Sexappeal. Dennoch gilt Stalins Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das Land wird vom Geheimdienst und seinen Helfern beherrscht. Viele kritische Journalisten können ein Lied davon singen.
Genau wie der FSB weist die Partei, Einiges Russland, im Volksmund gelegentlich auch Partei der Diebe und Betrüger genannt, eine ausgeprägte Klankultur auf. Typisch für Klankulturen sind die fehlende Ausrichtung auf Leistung und Wettbewerb und die Dominanz von persönlichen Beziehungen bei der Gestaltung politischer Karrieren. Eine echte Vorwärtsbewegung gibt es in einer Klankultur allerdings selten, die Mitglieder sind zu sehr mit der Verteilung von Besitzständen beschäftigt, als dass sie etwas Neues schaffen könnten.
Eine Partei von staatlichen Bediensteten wird von sich aus niemals dazu tendieren, wirtschaftliche Entwicklungen zu befördern. Im Gegenteil muss wirtschaftliche Prosperität mit ihrer Dynamik den Stakeholdern der Partei eher Schrecken einjagen, weil diese automatisch zu einer Verlagerung der Machtansprüche vom staatlichen in den ökonomischen Sektor führen muss. Die Forderung nach allgemeingültiger Rechtsstaatlichkeit gehört hier hin. Ein starker russischer Mittelstand würde in kürzester Zeit die Privilegien administrativer Fürstentümer angreifen und die Korruption in erheblichem Maße anprangern. Das wäre eine andere Dimension, als die Sonntagskritik von Medwedew und Putin an der Korruption im Lande.
In einer solchen Situation wirtschaftlicher Prosperität, die vom Mittelstand ausgeht, könnte Putin seine administrativen Truppen nicht mehr belohnen. Der Putinismus wäre schnell am Ende. Deshalb muss der künftige Präsident weiterhin auf Oligarchen setzen und die eigentliche Zukunft des Landes, den Mittelstand, vernachlässigen.
Innenpolitisch steht fest. Selbst wenn Putin es wollte, was ihm durchaus zuzutrauen wäre, hat er keine Chance eine wirkungsvolle politische oder wirtschaftliche Reform des Landes auf den Weg zu bringen, ohne seine eigene Machtstellung massiv zu gefährden. Es ist wie die Quadratur des Kreises. Er müsste seine Macht und die Staatsmacht im Ganzen zurückfahren und neue liberale politische Entwicklungen zulassen, sowie einen aufkeimenden unternehmerischen Mittelstand massiv unterstützen ohne dafür politisches Bakschisch zu verlangen. Dazu wird Putin auch in den nächsten zehn Jahren, aus machttaktischen Gründen, nicht in der Lage sein.
Außenpolitisch sieht es etwas anders aus. Russland hat gerade auch unter Medwedew international an Profil gewonnen. Die Glaubwürdigkeit ist gestiegen und Russland ist ein ernst zu nehmender Player im Westen und gerade auch in China geworden. Wirtschaftlich ist Russland aber weit davon entfernt, mit seiner politischen Bedeutung gleich zu ziehen. Seine Rolle als Rohstoffproduzent wird Russland nicht zu einer erfolgreichen Industrienation machen. Genau dies aber könnte die Hoffnung Putins für die nächste Amtszeit als Präsident sein. Mit seinem Oligarchen-Klub schmiedet er Bündnisse mit Weltkonzernen, wenn auch mit deutlichem Schwerpunkt in der Energiewirtschaft. Jedoch sind auch andere Schlüsselindustrien dabei, die er zumindest von außen ins Land geholt hat. Leider werden seine außenpolitisch gebahnten Hoffnungen auf wirtschaftliche Prosperität durch Joint-Ventures mit Weltkonzernen nicht aufgehen, solange die übrige wirtschaftliche Struktur des Landes derart am Boden liegt. Internationale Autokonzerne beispielsweise sind auf ein hocheffektives Netz von mittelständischen Zulieferbetrieben angewiesen. Dieses Netz existiert in Russland faktisch nicht und kann dort unter den derzeitigen politischen Bedingungen auch nicht entstehen. Im Gegenteil sind internationale Automobilkonzerne eher dabei an ihren russischen Produktionsstandorten zu zweifeln. Volkswagen in Petersburg lässt sich hier als Beispiel nennen. Das gleiche wird mit anderen industriellen Wachstumskernen passieren, wenn Russland nicht in der Lage ist, sich unter rechtsstaatlichen Bedingungen weiter zu liberalisieren und vor allem Rechtssicherheit auch für kleinere Wirtschaftsunternehmen zu schaffen.
Russland scheitert aber nicht nur an einer schwer zu schaffenden modernen Infrastruktur. Die Russen scheitern auch an sich selbst. Großmachtphantasien, übersteigerter Nationalismus und äußerste Selbstgefälligkeit führen eben nicht gerade zu der Leidenschaft andere Systeme, Produktionsweisen und Produkte kennen zu lernen und zu kopieren.
Der russische Weg, wie auch der Weg mancher Bruderstaaten, kann nur in einem sich entwickelnden wirtschaftlichen Mittelstand bestehen. Dies gilt auch für die Ukraine. Aber gerade diese Entwicklung widerspricht dem Putinismus grundsätzlich. In Russland ist und bleibt Putin ein Stagnations-Symbol.
Es bleibt zu hoffen, dass Viktor Janukowitsch daraus seine Lehren ziehen kann.
Der im Westen als pro-russisch geltende ukrainische Präsident scheint bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt eine schmerzhafte außenpolitische Läuterung gehabt zu haben. Der Versuch die Ukraine aus dem Würgegriff der Gasverträge von 2009 zu befreien, scheiterte am entschiedenen Widerstand der Russen. Stattdessen ließ sich lediglich eine laue Vereinbarung zur Verlängerung des russischen Flottenstützpunktes auf der Krim erzielen. Gaszahlungen können demnach mit der Miete verrechnet werden. Kein großer Vorteil für die Ukraine.
Janukowitsch dürfte endgültig enttäuscht gewesen sein, als sich Putin im Fall Timoschenko gegen ihn stellte. Der Versuch, die Gasverträge durch ein Amtsmissbrauchsverfahren zu kriminalisieren und damit wieder zu den günstigeren Rahmenverträgen von 2001 zurückzukehren, scheiterte ebenfalls. Putin und Medwedew „solidarisierten“ sich mit Timoschenko und halten das Verfahren für absurd. Es sieht so aus, als hätte der Kreml bereits nach kürzester Zeit Viktor Janukowitsch gezeigt, wo der Hammer hängt. Im Falle Russlands bekommt es Janukowitsch zunehmend mit echter Außenpolitik zu tun, die Ukraine wird nicht mehr als Bruderstaat betrachtet. Einzige Möglichkeit den Kreml gnädig zu stimmen, wäre der Betritt zur Zollunion mit Russland, Weißrussland und Kasachstan, der sich aber mit dem EU-Assoziierungsabkommen wohl endgültig erledigt hätte.
Unter diesem schwierigen bilateralen Verhältnis zu Russland von einem Putinismus in der Ukraine zu sprechen, wäre tatsächlich verfehlt. Janukowitsch bedient sich verschiedener Versatzstücke der russischen Grenzdemokratie und schränkte in einem furiosen ersten Amtsjahr die Meinungsfreiheit in der Ukraine de facto ein. Die Methoden sind auch hier eher durch Klan-Strukturen, politischen Filz und gezielte personelle Schachzüge gekennzeichnet. So ist der ukrainische Geheimdienst mit einem regierungstreuen Leiter zu einer wesentlichen Waffe gegen Oppositionelle geworden. Sogar die Frauenrechtsorganisation „Femen“, die durch ihre Politspektakel bestenfalls Nadelstiche versetzen kann, bekam mehrfach Besuch, wie Femen-Chefin, Anna Hutsol, berichtete.
Wie immer wirkt Zensur vor allem dadurch, dass sie sich herumspricht. In den Medien geht die Angst um, durch unliebsame Berichterstattung seinen Job zu verlieren. Die Regierung übt dabei vor allem Druck auf die Herausgeber von Zeitungen und Besitzer von Fernsehsendern aus, die dann ihrerseits ihre Redaktionen zügeln. Auch bei der Vergabe von Senderechten scheinen Manipulationen zum Nachteil kritischer Sender statt zu finden.
Auch die Anklage der ehemaligen Regierung, im prominentesten Fall Julia Timoschenkos, trägt deutliche Züge eines politischen Schauprozesses, zumal ein Paragraph aus sowjetischer Zeit, der „Amtsmissbrauch“, der bereits nach demokratischen Gesichtspunkten überarbeitet, aber in seiner neuen Form noch nicht in Kraft getreten ist, in anachronistischer Art gegen die Premierministerin in Anschlag gebracht wurde. Dies weckt das ungeahnte Interesse des Westens, der die Ukraine auf dem direkten Weg in die gelenkte Demokratie sieht. Das politische Kalkül dieses Schauprozesses geht aber in keiner Richtung auf. Weder lassen sich die Gasverträge mit Russland auf diese Weise revidieren, noch kann die Opposition wirkungsvoll geschwächt werden.
Stattdessen wächst die Unzufriedenheit im Lande. 60% der Bevölkerung, berichtete kürzlich die Kyivpost, seien unzufrieden mit der Regierungsarbeit. Janukowitsch ist hier weit entfernt von früheren Zustimmungswerten seines russischen Pendants. Ganz nebenbei wächst die Gefahr, seine politische Gegenspielerin zu einer Märtyrerin zu machen. Obwohl viele Ukrainer den Prozess mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nehmen, weil sie sich von der letzten Regierung enttäuscht sahen, kann sich das Blatt im Falle einer drastischen Verurteilung wenden. Timoschenko hat das Zeug in der Öffentlichkeit zu einer „Heiligen der Demokratie“ zu werden, obwohl sie das in der Sache natürlich nicht ist. Der Erfolg, Timoschenko von den Parlamentswahlen abzuhalten, könnte sich somit als äußerst kurzsichtig erweisen. Viel schlimmer allerdings ist die Blockierung des EU-Assoziierungsabkommens durch den Timoschenko Prozess. Damit wäre die gesamte Außenpolitik Janukowitschs gescheitert. Der Präsident ist sichtlich nervös und soll seinem Außenminister schon mit Kündigung gedroht haben, wenn dieser nicht wenigstens den wirtschaftlichen Teil des Abkommens bis Dezember zum Abschluss bringe.
Der Putinismus kann in der Ukraine nur dann funktionieren, wenn eine enge Partnerschaft mit Russland besteht. Genau diese Partnerschaft lässt sich momentan nicht erkennen. Janukowitsch müsste also seinen Kurs ändern, aber genau das ist ihm nicht möglich. Es bleibt bei dem halbherzigen Balanceakt zwischen West und Ost. Die Ukraine hat nicht das dicke Fell Russlands, das sich im Zweifel auf seine Rohstoffvorkommen verlassen kann. Kiew hängt bald wieder am Tropf des IWF und ist auf Europa auch kurzfristig angewiesen. Janukowitsch scheint das zu merken und sucht hoffentlich jetzt nach demokratischen Auswegen aus der verfahrenen Situation. In jedem Falle wird es eng für ihn. Das EU-Assoziierungsabkommen wird wegen der anstehenden Verurteilung Timoschenkos voraussichtlich ausgesetzt, der Gaspreis dürfte in diesem Herbst wohl unerschwinglich werden, es ist von 400$ die Rede, und die Zollunion ist keine Alternative, wenn die Ukraine sich die EU-Option offen halten will. Dabei stehen die Parlamentswahlen vor der Tür. Ganz im Gegensatz zu dem bekanntesten russischen Schauprozess gegen Chodorkowski in dem Putin ungeniert die Rolle des öffentlichen Anklägers gespielt hat und immer noch spielt, dürfte Janukowitsch im Falle Timoschenkos froh sein, seine wichtigste Feindin wieder auf freiem Fuß zu sehen. Ob das klappt, ist äußerst fraglich. Mit einer Intervention im Prozess würde Janukowitsch seine innenpolitische Hardliner-Position aufgeben und die Opposition in den Aufwind segeln lassen. Im Westen würde er die Bestätigung abgeben, dass er der eigentliche Herr des Verfahrens ist und gegenüber dem Kreml würde er seine Erpressbarkeit wie eine schmutzige Unterhose aus dem Fenster hängen. Wenn er sein Gesicht behalten will, wird er den Dingen seinen Lauf lassen müssen und seine Pressesprecherin wird weiterhin beteuern, dass der Präsident mit alledem nichts zu tun habe. Wenn er aber für sein Land noch etwas retten will, muss er aus dieser Nummer irgendwie raus. Vielleicht mit einem milden Urteil für Timoschenko oder noch besser mit einer schnellen Gesetzesänderung, die ja bereits in Vorbereitung ist.
Janukowitsch erfährt jetzt, wie kalt und dickfällig man sein muss, um eine Politik a la Putin durchhalten zu können. Der Ukraine fehlt für den russischen Weg schlicht und einfach die Kraft, denn eigentlich ist das Land ein Fall für die internationale Sozialhilfe.
Obwohl die Ukraine die gleichen postsowjetischen Strukturen aufweist, wie Russland, fehlt ihr der Speck, noch eine Weile darin auszuhalten. Die Leute leben inzwischen von weniger als 170 Euro im Monatsschnitt, Kredite können nicht mehr bedient werden und die Verelendung des Landes schreitet unaufhörlich voran. Nicht einmal mit Großmachtphantasien und einer politischen Weltrolle können sich die Ukrainer trösten. Zu den Sparmaßnahmen die der IWF verlangt, kann man nur noch den Kopf schütteln, weil man sich fragt, was man an 50 Euro monatlicher Rente eigentlich noch kürzen kann?
Die wirtschaftliche Restrukturierung kommt in keiner Weise voran, weil auch in der Ukraine dem Mittelstand jede Rechtssicherheit fehlt und eine Steuergesetzgebung herrscht, die kleine und mittlere Unternehmer geradezu animiert, Mitarbeiter schwarz arbeiten zu lassen. Man kann den größten Teil der ukrainischen Wirtschaft getrost als Schwarzmarkt bezeichnen, an dem keine Steuern gezahlt werden, es ohne offizielle Beschäftigung keine Arbeitnehmerrechte gibt und keinerlei Sicherheiten bestehen. Eine solche Gesellschaft kann nur auf die Füße kommen, wenn klare berechenbare Rechtsnormen im Sinne sozialer Marktwirtschaft herrschen. Daran haben aber auch die Oligarchen des Donezker Klans, wie alle anderen, die sich das Land unter den Nagel gerissen haben, keinerlei Interesse. Unter Korruptionsgesichtspunkten steht die Ukraine als eines der letzten Länder hinter Afrika auf der Liste. Viele deutsche Unternehmer ziehen sich inzwischen aus dem Land zurück, weil sie keine Fortschritte mehr sehen. Wohlgemerkt handelt es sich in der Ukraine nicht um eine Stagnation der Entwicklung wie in Russland, sondern um einen schleichenden Untergang. Wenn jetzt auch noch die Schlüsselindustrien im Stahl, Chemie und Agrarbereich unter die Räder kommen, was angesichts der ungeklärten Energiefrage des Landes und der labilen Weltwirtschaft im Bereich des Möglichen liegt, sehen wir in der Ukraine äußerst unruhigen Zeiten entgegen. Wenn bei weiterer Schwächung der Ukraine eine Assimilation des Landes an Russland verhindert werden soll, dann geht dies jetzt vermutlich nur noch durch eine klare und betonte Orientierung zur Europäischen Union. Vermutlich bedeutet das auch für uns, dass wir die Ukraine viel stärker in den Fokus rücken müssen.
Putins Russland wird in den nächsten zehn Jahren eiskalte hegemoniale Politik betreiben, ganz gleich wie schlecht es im inneren des Landes aussieht. Wenn wir die Ukraine in den Westen hinüber ziehen wollen, müssen wir ihr auch dann die Hand reichen, wenn sie demokratisch nicht mehr ganz lupenrein ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um ein Land in einer verzweifelten Situation handelt.
Wir täten in jedem Falle gut daran, mit der Ukraine ein demokratisches Gegengewicht zu Russland aufrecht zu erhalten und das sollte uns durchaus etwas wert sein. Der hohe Stellenwert, den die Türkei für uns als Brücke und Grenze zur islamischen Welt hat, sollten wir auch der Ukraine in Bezug auf den russischen Kontinent zumessen. Die Türkei prosperiert. Warum soll nicht auch irgendwann die Ukraine prosperieren? Russland wird uns auch in der Zukunft viele Sorgen bereiten. Wir brauchen daher eine unversehrte und starke Ukraine als westlich orientierten Partner, in den wir vermutlich sehr viel investieren müssen.
Sönke Paulsen