Räuber und Gendarm - Justiz in der Ukraine
In der Kindheit war wohl jeder einmal vor die Wahl gestellt gewesen, im Spiel für die Räuber oder für die Gendarmen zu spielen. Und es wird nur von uns abhängen, welche Partei im Spiel unsere eigenen Kinder ergreifen werden.
Vor rund drei Jahren war man in der Ukraine noch begeistert von dem Film Brat 2, ohne dabei zu ahnen, dass der Protagonist dieses Films schon bald zum Prototypen all jener wird, die 2014 ins Donezbecken fahren werden, um dort Ukrainer umzubringen. Wäre der Krieg nicht gewesen, würden wir immer noch den Protagonisten Danila Bagrow und seinen einprägsamen Spruch „die Kraft liegt in der Wahrheit“ zitieren.
Das Thema einer abstrakten Gerechtigkeit ist gefährlich. Wenn das Leben anhand des Gerechtigkeitskriteriums gemessen wird, spaltet sich das Land millionenfach in die Träger einer abstrakten Wahrheit. Innere Gräben machen die Situation nur noch explosiver. Ob ideologische und soziale Grenzen oder die Einstellung gegenüber der Vergangenheit und Zukunft: Egal wie homogen ein Land scheint, werden sich immer Gründe für das Bauen von Barrikaden finden lassen. Der Krieg dient zudem als Multiplikator, der die Schärfe der Gegensätze um ein Mehrfaches vergrößert.
Das Gesetz dagegen ist ein universeller Nenner, der den Unterschied zwischen den einzelnen Zählern neutralisiert. Zu bestimmten Zeitpunkten in der Geschichte kann das Gesetz durchaus ungerecht sein, und hier lassen sich Beispiele in der Geschichte jeder Gesellschaft finden. Doch die Logik eines normalen Staates besteht darin, „Recht“ und „Gerechtigkeit“ weitestmöglich aneinander anzunähern. Widrigenfalls ist damit zu rechnen, dass Menschen auf die Straße gehen, um die Ungerechtigkeit nach eigenem Gutdünken wiedergutzumachen.
Der Maidan ist als genau so ein Aufstand gegen die Ungerechtigkeit der Regeln zu sehen. Janukowitsch mochte in seiner Position noch so legal sein, doch zum Februar 2014 hörte er in den Augen der Gesellschaft auf, legitim zu sein. Es macht also keinen Sinn, den Maidan an der staubtrockenen, mathematischen Logik eines Jura-Lehrbuchs zu messen. Denn das Gesetz verliert seine Kraft, sobald es nicht mehr als Fundament des gesellschaftlichen Wohlergehens angesehen wird.
Die Regierung, die nach Janukowitsch kam, hätte diese Lektion lernen müssen. Dies ist aber nicht geschehen.
Die Geschichte mit den Verkehrspolizisten, die nun eine Gefängnisstrafe fürchten müssen, weil sie eine Richterin festnahmen, die sich weigerte, ihr Auto umzuparken, ist eine perfekte Illustration dessen. Die Kollegen der Festgenommenen betonen, die Polizei habe gegen die richterliche Immunität verstoßen und beschwören harte Strafen herab. Hat man das Kastenwesen des richterlichen Systems vor Augen, dürften diese Strafen ziemlich unweigerlich eintreffen. Doch was die Richterrobenträger nicht verstehen, ist: So legal sie in ihren Positionen sein mögen, haben sie selbst schon längst aufgehört, legitim zu sein. 80 Prozent der Landesbevölkerung vertrauen ihnen nicht.
Vor diesem Hintergrund sieht die Verkehrspolizei, die den fünften Platz unter den staatlichen Organen mit dem größten Vertrauen der Bevölkerung belegt, wesentlich glaubwürdiger aus. Zusätzliche Tiefe verleiht dem Geschehen die Tatsache, dass der wichtigste Leitfaden der Geschichte nicht Einzelpersonen behandelt. Es ist eine Geschichte über den Maidan.
Der Maidan war an sich eine Hoffnung auf Veränderungen. Auf einen neuen Sozialvertrag. Auf Gerechtigkeit, die seit dem ersten Tag der Unabhängigkeit rar war.
Das Problem ist nur, dass in der Erwartung sehr vieler, nach der Flucht Janukowitschs sofortige Veränderungen eintreten mussten. So, wie in Filmen mit einem Happy End, wo die letzte Szene einem klar vermittelt, dass es den Protagonisten von nun an gut gehen wird.
Herausgestellt hat sich hingegen, dass wir nicht in einem Film, sondern in einer Serie leben. Gleichzeitig ist das Narrativ dieser Serie nicht besonders gradlinig. Auch die Flucht Janukowitschs hatte nicht bedeutet, dass zusammen mit ihm all die Regeln verschwinden würden, nach denen das Land funktioniert hatte.
Der Maidan durchdrang das Gewebe des Alltags nicht umfassend, sondern punktuell.
Die Reformen hingen in vielerlei Hinsicht von persönlichen Faktoren ab, von der Durchsetzungskraft und Dickköpfigkeit der Menschen, die beschlossen hatten, ihre Zeit der Umgestaltung des Landes zu widmen. Erschwerend kommt meist hinzu, dass solche Veränderungen für den Normalbürger wenig spürbar sind: Wie könnte man etwa das System der digitalen Staatseinkäufe oder die Verringerung der Korruptionsoptionen greifen? Als Anerkennung hierfür darf man lediglich Punkte des Staatsetats erwarten, sie spiegeln sich in eingesparten Beträgen und sonstigen aus der Perspektive eines normalen Menschen „virtuellen“ Kategorien.
Und wenngleich die Dinge anderswo genau so aussehen, darf man die Verkehrspolizei als spür- und sichtbare Errungenschaft verbuchen: Andere Menschen, andere Autos, andere Dienstuniform und eine andere Art des Auftretens. Die Reaktion des Landes, das sich lange Jahre nach Menschen gesehnt hat, die man lieben dürfte und sollte, war soziologisch spürbar. Zudem werden in der Ukraine als die wichtigsten Marker die Begriffe „gleich gesinnt“ und „fremd“ herangezogen. Hat man die Richter, die Staatsanwälte und den Rest des Horrorzoos vor Augen, blieben für die meisten Bürger als Institutionen, mit denen man sich identifizieren kann, nur die Armee und die Polizei.
Droht aber ein Richter damit, einen Streifenpolizisten hinter Gitter zu bringen, schreit das für die Gesellschaft danach, dass ein „Fremder“ den „Gleichgesinnten“ einbuchtet. Hat man zudem ein gutes Gedächtnis für Geschichten, in denen dieser „fremde“ Teil des staatlichen Systems die dubiosesten Gestalten wieder auf freien Fuß setzte, verschärft sich die Situation aufs Äußerste.
Es macht auch keinen Sinn, auf den destillierten Wortlaut des Gesetzes zu verweisen und darüber zu spekulieren, ob die Polizisten absolut im Recht gewesen sind, oder nicht. Denn „Recht“ darf nicht situativ sein, wenn die Einen mit ihm rechnen können und die Anderen nicht. Ein Beruhigungsmittel für die Gesellschaft ist es nur, wenn es total und allgegenwärtig ist. Ist es wählerisch und situativ, beginnt sich das Volk nach „Gerechtigkeit“ zu sehnen.
Dabei liegt das Problem der Situation eben darin, dass die Grenzen von Gerechtigkeit nirgendwo wirklich festgeschrieben sind. Die Gerechtigkeit der Straße kann gar Pulver- und Blutgeruch und einen stählernen Beigeschmack haben. Die einzige Sicherung vor solchen Szenarien ist eine Dominanz des Rechts.
Eines Rechts, das jedem gegenüber distanziert und gleichgültig ist und nicht nur in Bezug auf die, die gerade zu den größten Unruhestiftern ernannt wurden.
Die Regierung hat eine Reform der Staatsanwaltschaft vergeigt und lässt die Reform der Richterschaft im Sand verlaufen, womit ihr Appell an das Rechtsbewusstsein der Bürger sinnlos ist. Denn die spüren gegenüber beiden Systemen keinerlei Vertrauen. Stattdessen können sie live mitverfolgen, wie die Ämter, die für sie „fremd“ geblieben sind, das Spielchen „Recht“ spielen mit jenen, die für die Gesellschaft bereits zu „Gleichgesinnten“ geworden sind.
Vor drei Jahren haben wir exakt das durchgemacht. Und am wenigsten wünscht man sich, dass die nächste Generation der Ukrainer von Kindheit an lernt, mit dem Protagonisten des Films „Leon“ zu sympathisieren.
28. Februar 2017 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda
Übersetzt von Oleg Pogrebnyak, Russisch-Übersetzer in Nürnberg