Vor fünf Jahren beschuldigte man den Majdan, dass die Protestierenden die Entscheidung der Wähler mit den Füßen träten. Man sagte: „Wartet auf die Wahlen“ und „Janukowitsch ist ordentlich gewählt.“
Man schimpfte auf den Majdan, dass er das Prozedere missachte, dass man den Präsidenten durch Wahlen austauschen muss, und dass das Staatsoberhaupt über zwölfeinhalb Millionen Stimmen verfügt, die er im zweiten Wahlgang erhalten hat. Man sagte: „Siegt in den Wahllokalen, nicht auf den Straßen!“
Allerdings zählten die Argumente nicht. Die im Jahr 2010 gesammelten Stimmen halfen nicht. Und das Gespräch über die eigene Legitimität musste Wiktor Janukowitschs bereits auf den Rostower Presse-Konferenzen fortsetzen.
Man kann lange die Natur des Majdans erörtern, darüber streiten, was er war – eine Revolution oder ein Aufstand. Man kann über den Unterschied zwischen Legalität und Legitimität diskutieren. Doch weitaus wichtiger ist etwas anderes: Für die Protestierenden hatten alle Ermahnungen, dass Janukowitsch vom Volk gewählt sei, keine Bedeutung.
Yuval Noah Harari schrieb, dass der Mensch die Ergebnisse demokratischer Wahlen nur dann anerkennt, wenn er irgendwelche Gemeinsamkeiten mit der Mehrheit der Wähler sieht. „Wenn mir die Erfahrungen und das Erleben der anderen Wähler fremd sind, und wenn ich überzeugt bin, dass sie meine Gefühle nicht verstehen und meine Lebensinteressen missachten, dann können gegen meine eigene Stimme hundert stehen, aber ich habe keinerlei Veranlassung, dieses Urteil anzuerkennen“, versicherte der Professor der Hebräischen Universität.
Genau das passierte im Winter 2013/2014. Letztendlich gab es bei diesem Widerstand unterschiedliche Bewertungen, die Partei der Regionen gegen die parlamentarische Opposition, die Straße gegen „Berkut“, der Majdan gegen den Antimajdan.
Wenn man das Jahr 1991 als Bezugspunkt nimmt, da hatte die „Ukraine des Antimajdan“ das zahlenmäßig größere Gewicht. In den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten wurde sie kleiner und verschwand. Die „Ukraine des Majdans“ weitete sich im Gegensatz dazu aus und wurde Realität. Ihr Plan für die ukrainische Zukunft verdrängte das nostalgische Weltbild der prosowjetisch eingestellten Leute.
Der Widerstand auf der Straße betraf nicht nur „Janukowitsch“. Es war der Kampf zweier ethischer Systeme.
Die, die den Protest unterstützten und die, die auf dessen Zerschlagung hofften, hatten ziemlich wenige Berührungspunkte. Sie hatten die gleichen Pässe, aber damit endeten die Gemeinsamkeiten und begannen die Unterschiede. Sie hatte verschiedene Beschreibungen der Vergangenheit und unterschiedliche Träume für die Zukunft.
Für die Einen war Europa das „gelobte Land“ und für die Anderen das Königreich der seelenlosen Wüstlinge. Für die Einen war Russland das Gefängnis der Völker und für die anderen eine neue, verbesserte UdSSR 2.0.
In ein und dieselben Worte legten diese Menschen unterschiedliche Gedanken, für dieselben Dinge dachten sie sich unterschiedliche Beschreibungen aus.
Das, was für den Majdan wichtig war, hatte keinerlei Wert für den Antimajdan. Und weil es für die Protestierenden keinen einzigen Grund gab, die Meinung derer zu schätzen, die Janukowitsch die Macht 2010 gaben, taten sie dies auch nicht, in voller Übereinstimmung mit der Formel Hararis.
Der Majdan bestätigte nur: im Jahr 2014 lebten im Land jene, für die die Ukraine wertvoll war, und jene, für die sie nur ein Fakt war. Diese zwei Gruppen hatten ohnehin nicht viele Berührungspunkte und nach dem Eindringen Russlands wurden es noch weniger, genauso wie die Versuche, sich gegenseitig zuzuhören.
Die Annexion der Krim und die Okkupation des Donbass strichen aus der Wählerschaft des Landes ein paar Millionen prosowjetisch gestimmter Bürger.
In ihrem Versuch die Ukraine zu halten, zerstörte Moskau die langjährige Parität zwischen den Lagern. Das Übergewicht erwies sich auf der Seite derjenigen, die vor fünf Jahren auf den Barrikaden standen.
Im Ergebnis wurde das prosowjetische Lager marginalisiert. Ja, ihre Wortführer kandidieren als Präsidenten. Ja, ihre Ideen erklingen in einigen Medien. Ja, ihre Wähler tauchen weiterhin in den Umfragen auf. Aber die Dynamik ist ziemlich vielsagend.
Noch vor zehn Jahren kamen prosowjetische Politiker ohne viel Arbeit in den zweiten Wahlgang. Ihre Programme wurden von den meisten der üblichen Kanäle vorgestellt. Und ihre Wähler verwandelten die Ukraine in Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen erstarrt ist, nicht in der Lage, irgendeine Entscheidung zu treffen.
Heute kann man sich noch nicht einmal einen Majdan vorstellen, wo auf der einen Seite der Barrikaden die Befürworter der Europäischen Union stehen und auf der anderen Seite die der Eurasischen Union. Aber das heißt nicht, dass die Risiken verschwunden sind.
Denn wir könnten auf ein neues Problem stoßen, im Rahmen derselben Formel, die Harari beschrieben hat.
Je näher die Wahlen rücken, desto heißer wird der Streit und umso schärfer die Beschuldigungen. Jedes Lager behandelt diese Wahlen als „die letzte entscheidende Schlacht“. Das Lager des Präsidenten als den Kampf der Ukraine gegen den Kreml. Im Lager Timoschenkos als Wahl zwischen Genozid und Erblühen. Im Lager Selenskijs als Kampf der „alten Eliten“ gegen die „neue Volksmacht.“
Die Wahlen beginnen an ein Referendum über die Zukunft zu erinnern. Und die Hauptfrage ist, wie gerade die Angehörigen jedes Lagers ihre Gegenspieler anerkennen werden.
Es ist eine Sache, wenn sie bereit sind, die Wahl derer anzuerkennen, die für einen anderen Kandidaten stimmen. Wenn sie zulassen, dass deren Entscheidung ein Recht auf Existenz hat.
Und es ist etwas ganz Anderes, wenn sie grundsätzlich alle dämonisieren, die nicht so abstimmen wie sie selbst.
Man kann planen seine Stimme für den amtierenden Präsidenten abzugeben, aber nicht unbedingt alle, die das nicht tun wollen, zu den Befürwortern des Kremls zählen.
Man kann für Julia Timoschenko stimmen wollen, aber bestimmt nicht unbedingt alle anderen für bezahlte Provokateure und für korrupt halten.
Wahlen sind eine hervorragende Möglichkeit Reibereien in der Gesellschaft zu beenden, aber nur in dem Fall, in dem die Wähler sowieso den gleichen Blick auf fundamentale Fragen für das Land haben.
Aber wenn sich das Land in einer Situation der Entmenschlichung der Gegner befindet, wenn die Träger anderer Meinungen als Feinde betrachtet werden, dann muss man nicht darauf warten, dass die Wahlen eine legitime Grundlage für das Geschehen der nächsten fünf Jahre werden. Der Verlierer kann immer diese Prozedur anfechten wollen; vor Gericht oder auf der Straße.
Der Majdan taucht nicht dann auf, wenn Studenten geschlagen werden. Er tritt auf, wenn die Zäune im Inland höher als die äußeren Festungsmauern werden.
17. Februar 2019 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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