Im Rahmen des einen und des anderen Übels
Völlig unerwartet befand ich mich kürzlich in einem längeren Gespräch mit einem ernsthaften und erfahrenen Politologen. Einem aufrichtigen noch dazu, soweit man das innerhalb seiner Tätigkeit eben sein kann. Entspannt saßen wir im Schatten der Parkbäume, tranken Kaffee und Tee, jeder Schluck ein die scharfen Themen und unangenehmen Details “umfließendes” Ritual. Mein Gesprächspartner deckte leicht und dezent (sogar mit Respekt!) mein Unwissen über politische Realien auf, über die personellen Wechselbeziehungen im Innern der sogenannten politischen Elite und meine von Emotionalität geprägten Argumente, hatte ich doch mit Politikwissenschaft noch nie etwas zu tun.
Nein, ich bin kein Politologe. Überhaupt keiner. Mich langweilen jegliche Details zu den Wechselbeziehungen im Innern der “Elite”, mich interessieren die Wendungen im laut und öffentlich geführten Janukowitsch-Timoschenko-Kampf nicht, der die gesamte Aufmerksamkeit Europas auf sich zieht. Außerdem nehme ich ganz naiv an, dass der formelle Beitritt der Ukraine in die Europäische Union mit meiner persönlichen Zukunft und der meiner Familie nichts zu tun hat.
Ich bin ein Bürger der Ukraine, einer, der ehrlich gesagt, kein gutes Verhältnis zu irgendwelchen Gruppen und Clans pflegt, die sich selbst als politische Parteien bezeichnen. Ja, so ist das. Als verantwortungsbewusster und bis zu einem gewissen Grad auch aktiver Bürger der Ukraine fordere ich die Stimmzettel mit der Spalte “gegen Alle” ein. Ich lehne es kategorisch ab, das weniger Böse wählen zu müssen. Weiß ich doch, dass es beim Bösen keine Nuancen gibt.
Darüber sprachen wir auch auf der Parkbank. Ich hörte die genauen und überzeugenden Argumente meines Gegenübers, doch lehnte sie kategorisch ab. Denn ich lehne es kategorisch ab, eine Geisel der Mehrheit zu sein. Oder der Minderheit, die ich, trotz allen Widerwillens, wählen werde, will ich doch die Chancen für die Verfolgten wenigstens irgendwie verbessern.
Ich bin im Endeffekt ein sowjetischer Andersdenkender, einer, der aufgrund seines Dissidenten-Daseins einsitzen musste, einer, der zur KPdSU und zum KGB öffentlich in die Opposition getreten ist, in dem er von seinem persönlichen Bürgerrecht Gebrauch machte und ein deutliches “Nein” formulierte. Deshalb schließe ich mich nun auch der “gegen Alle”-Position an. Und all die “mathematischen” und “politikwissenschaftlichen” Argumente meines Gegenübers – wie aufrichtig und scheinbar logisch sie auch sein mochten – können an meinem Standpunkt nichts mehr ändern.
Denn ich bin es leid in dieser beschnittenen Version von Freiheit zu leben, ich bin es leid von diesem “elitären” Teufelspack manipuliert zu werden. Auf diese meine Gedanken antwortete mir mein Gesprächspartner bitter: “Was soll’s! Zumindest hat jeder von uns die Chance, von hier wegzufahren, die Ukraine für immer zu verlassen.”
Ein ideales Vorhaben. Und ein sehr effektives noch dazu. Wir alle, die gesetzestreuen Bürger (die von einer in der Ukraine regierenden Dame im engeren Kreis als “Biomasse” bezeichnet wurden) verlassen ihr eigenes Land gen Arktis oder Antarktis, lassen all die Steuerzahler – achtbare Männer und Frauen – zurück. Mit anderen Worten lassen wir die Männer und Frauen ohne das Objekt zurück, durch dessen Fleiß ihr persönlicher Reichtum entstanden ist. Ein wirklich ideales Vorhaben. Nur leider unmöglich in der Umsetzung.
Zwanzig Jahre lang wurde die Ukraine gezielt ausgenommen. Zwanzig Jahre voller Lügen, serviert in süßlicher Propaganda-Sauce. Zwanzig Jahre ohne Reformen, ohne Modernisierung von Industrie und Landwirtschaft. Zwanzig Jahre unverschämte, unverhohlene und unersättliche Korruption wie zu Sowjetzeiten. Mein Beileid gilt Raissa Bogatyrjowa, die den Gesundheitshaushalt retten soll, obwohl das Land gerade untergeht. Jemand vor ihr (es ist bekannt, wer) fing einst an, in gutem Glauben zu reformieren. Aber Wunder passieren nicht von allein, sie müssen vorbereitet werden.
In den 1970er Jahren sagte ich mal: “Der König ist nackt!” Daraufhin buchtete man mich ein. Wie naiv ich damals war, wollte ich doch lediglich mitreden, Fragen stellen, Zweifel anbringen. Die Zeiten liegen nun hinter mir. Ich darf jetzt mitreden, sogar schreiben. Doch erneut nur im Rahmen des Erlaubten, im Rahmen des einen und des anderen Übels. Ich will aber “gegen Alle” sein.
18. Mai 2012 // Semjon Glusman
Quelle: Lewyj Bereg