Das Recht, Opfer zu sein


In dieser Woche wird die Tragödie von Babij Jar 75 Jahre alt.

Eine Tragödie, die nicht nur die Unmenschlichkeit der Nazis offenbart, sondern auch die Herzlosigkeit der Kommunisten.

Eine Tragödie, die für die sowjetische Führung ein unangenehmes Thema wurde und viele Jahre zur Vergessenheit verdammt war – und das nicht nur wegen des in der UdSSR existierenden Antisemitismus.

Der gebürtige Kiewer Schriftsteller und Dissident Wiktor Nekrassow schreibt über Babij Jar: „Man hat befohlen, es zu vergessen.

Nicht einmal befohlen, sondern irgendwo wurde irgendwem gesagt: „Ein Denkmal? Warum ein Denkmal? Menschen, die freiwillig in den Tod gingen? Ohne Widerstand, ohne Protest, wie das Kaninchen in den Rachen der Schlange? Nein, Verzeihung, bei uns errichtet man solchen Waschlappen keine Denkmäler…“ Wem und wann dies genau gesagt wurde, ist nicht so wichtig, das kann man nur vermuten, aber die Saat fiel auf guten Boden. Unter verschiedenen Umständen habe ich von verschiedenen Leuten, vor allem von an der Macht beteiligten die Worte gehört: „sie haben sich ja nicht gewehrt.“

Die sowjetische Doktrin beließ den Menschen nicht das Recht Opfer zu sein – schwach, verwirrt, hilflos. Bürger der UdSSR sollten unbeugsame Helden und Patrioten sein, bis zum letzten Atemzug für die Heimat kämpfend.

Und wenn schon Zehntausende friedliche Mitbürger auf Befehl der Nazis vernichtet wurden – ohne Heldentaten und ohne dem Feind Widerstand zu leisten, hatten sie nach Meinung der sowjetischen Führung kein Mitgefühl verdient, kein Gedenken und keine Trauer.

Selbstverständlich war den Parteibonzen der westliche Neologismus „victim blaming“ nicht bekannt.

Dennoch ist der sowjetische Umgang mit Babij Jar ein typisches Beispiel für victim blaming, die Beschuldigung des Opfers dessen, sich nicht ausreichend stark, klug und tapfer gezeigt zu haben, was bedeutet, dass es einen Teil der Schuld für das Geschehen trägt.

Die Sowjetunion existiert schon lange nicht mehr, das Verhältnis zu den Opfern von Babij Jar wurde überprüft, aber das Konzept des victim blaming ist in unserer Gesellschaft noch immer populär.

Bis 2014 kam es vor allem auf der Ebene der Lebenden zum Ausdruck. Sehr oft musste man hören, dass des Gewaltopfer „den Täter provoziert hat“, der Diskriminierte „diesen Umgang mit ihm verdient hat“, es für den Leidenden „einfach bequem ist zu leiden“ usw.

Und dann begann der Hybridkrieg mit Russland und das victim blaming erreichte eine neue Stufe.

Es stellte sich heraus,* dass viele von uns ungefähr so denken wie die sowjetische Parteiführung. Wir wollen jeden Ukrainer als unerschrockenen Helden und Patrioten sehen, und jeden verängstigten Mitbürger finden wir abstoßend*.

Ihnen wird das Recht, unschuldiges Opfer zu sein, verwehrt. Nach unserer Meinung sind sie selbst schuld daran, dass sie untätig den Putinschen Banden erlauben ihre Städte einzunehmen. Sie sind schuld insofern, als sie nicht an die Ukraine, sondern an sich selbst und ihre banalen Probleme gedacht haben. Sie sind schuld, indem sie sich dumm und schwach gezeigt haben. Wenn der Krieg sie zu Leiden verurteilt hat, dann muss das so sein!

Wie üblich wird der Kult von Stärke und Verachtung der Opfer von Menschen gemacht, die Hunderte Kilometer von der ATO-Zone entfernt vor Computer-Monitoren sitzen.

Der Großteil der Beschuldiger sind Superhelden überhaupt nicht ähnlich, aber das hindert sie nicht daran, von den Bewohnern der okkupierten Gebiete heldenhaftes Verhalten zu verlangen. Die Sofa-Patrioten versuchen noch nicht einmal, eine andere Position einzunehmen, was übrigens nicht verwunderlich ist.

Es ist schon lange bekannt, dass Opferbeschuldigung eine Art unbewusster psychologischer Schutz ist. Sie gründet auf dem Glauben an eine gerechte Welt, in der es keine Zufälle gibt, in der jeder bekommt, was er verdient, und in der man sich vor Unglück schützen kann, indem man sich richtig verhält.

Du willst nicht, dass du oder dir Nahestehende irgendwann Opfer der Verhältnisse werden, in eine ausweglose Situation geraten, unnötig leiden? Rede dir selbst ein, dass so etwas nicht passiert. Niemand leidet umsonst, Opfer sind an ihrer Not selbst schuld, Gott sieht alles, alles ist rechtmäßig, alles gerecht…

Es ist kein Wunder, dass victim blaming während des Krieges aufblüht: Rundum ist viel unerwartete Not, schicksalhafte Zufälle, ungerechtfertigtes Leid. Da kommt die beruhigende Rationalisierung zu Hilfe.

Unsere Mitbürger, die zwischen Ruinen leben, haben sich nicht richtig verhalten, aber wir verhalten uns richtig. Wir lieben die Ukraine, schimpfen auf Putin, liken patriotische Posts, deshalb trifft uns das Unglück nicht, mit dem der Donbass konfrontiert wurde.

Je mehr unser Leben von fremden Verhältnissen abhängt, umso mehr will man glauben, dass die Welt gerecht und rational ist.

Tatsächlich glaubten im Herbst 1941 auch die unglücklichen Kiewer Juden an die rationale Beschaffenheit der Welt.

Sie stellten für die Deutschen keinerlei Bedrohung da und dachten, dass die deutsche Politik von ihrem Verhalten abhängt.

Sie taten genau das, was ihnen in der Logik von Kriegszeiten eine Chance auf Überleben gab – sie gehorchten der Okkupationsmacht. Aber die sie umgebende Welt erwies sich als irrational und das Geschehen entbehrte jeder Logik.

In den gleichen Tagen, in denen in Babij Jar Zehntausende völlig unschuldige Menschen erschossen wurden, verurteilte man im okkupierten Frankreich den 21-jährigen Paul Colette.

Der junge Franzose verübte einen Anschlag auf einen der Anführer des Kollaborations-Regimes, Pierre Laval, wobei er fünf Kugeln auf ihn abfeuerte und ihn verletzte. Am 1. Oktober 1941 wurde Colette zum Tode verurteilt, aber dann… Dann hat man die Todesstrafe aus unerklärlichen Gründen in eine lebenslange Haftstrafe verwandelt. Der Verbrecher saß in französischen Gefängnissen, wurde später nach Mauthausen überstellt, überlebte den Krieg, wurde Kavalier der Ehrenlegion und starb 1995.

Nach der Logik von Kriegszeiten ließ das Verhalten von Colette ihm keine Chance zum Überleben, aber dennoch überlebte er im Gegensatz zu seinen harmlosen Zeitgenossen, die in Babij Jar vernichtet wurden. Sowohl das Schicksal Paul Colettes als auch das Schicksal der Kiewer Juden bestimmten nicht ihre Taten, sondern fremder Wille.

Das ist wohl schlimmer als die Gefahren jedes Krieges: die Verwandlung in ein Spielzeug in fremden Händen, ohne die Möglichkeit der Einflussnahme auf die eigene Zukunft, ohne Logik und Rechte.

Genau das fürchten wir mehr als alles andere. Genau davor versuchen wir uns zu schützen, indem wir rationale Urteile und aggressives victim blaming nutzen.

In Realität ist so etwas wie unser jetziger Hybrid-Konflikt nicht vorhersagbar und jeder kann sein Opfer werden.

Niemand ist in der Lage, die Handlungen des Kreml zu prognostizieren und zu sagen, welche Form die russische Aggression morgen annimmt. Die Mehrheit von uns weiß nicht, wie sie sich Auge in Auge mit dem Krieg verhalten würde.

Und unsere Zukunft wird nicht besser zu bestimmen, wenn wir unseren Landsleuten das Recht nehmen, unschuldige Kriegsopfer zu sein.

30. September 2016 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1076

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