Reservat „Krim“


Ich habe über die Ökonomie auf der annektierten Krim geschrieben, über die Höhe des imaginären Zauns, der unsichtbar an den Grenzen der Halbinsel emporwächst, nicht Tag um Tag, sondern Stunde um Stunde, derzeit noch nicht infolge von Sanktionen, sondern aufgrund der vom allerersten Moment an herrschenden Unklarheit Moskaus darüber, was man nun mit diesem Spielzeug Putins anstellen soll. Niemand vermag die Kosten dafür zu kalkulieren – sie steigen stetig (Putins 100 Mrd. Rubel pro Jahr haben sich im Laufe nur dieser einen Woche auf annähernd 200 Mrd. erhöht). Ich habe darüber geschrieben, wie das „neue Subjekt der Russischen Föderation“ den alten zusetzt – für das Stopfen der Löcher auf der Krim werden weiterhin wichtige Infrastrukturprojekte eingefroren (nach einem Verkehrsknotenpunkt in Murmansk „starben“ eine geplante Brücke über die Lena und der Hafen in Taman).

Ich schrieb darüber, welche Modelle ukrainische und russische Firmen ersinnen, um in den okkupierten Territorien weiterhin zu verdienen ohne unter Sanktionen zu fallen (die Siegerpalme gebührt im Moment dem „schwimmenden Bankautomaten“ der russischen Bank „Sberbank Rossii“, welche ihre Kunden direkt an Bord eines Schiffes in der Bucht Kamyschowaja bedient, ohne somit verbotene Erde zu berühren).

Ich schrieb auch über die Fantasien vom Strom privater Investitionen aus den Offshore-Gebieten, aus denen nun das Kapital, das Staatsbürger Russlands aus der Heimat geschafft haben, zurückkehren wird (in die Sonderwirtschaftszone Krim) …

Aber der Kreml hat uns durch einen Erlass des „amtierenden Oberhaupts der Republik Krim“, Sergej Aksjonow, gezwungen, den Fokus in unserem Material auf etwas anderes zu richten und uns zugleich erneut in der Beständigkeit der Lesart dessen, welche Krim das Russland Putins errichtet, bestätigt zu sehen.

Zwischenflughafen – so wurde die Funktion der Halbinsel in den weiteren Handlungen und Plänen des WWP (Wladimir Wladimirowitsch Putin) zur „Erschließung“ der Ukraine in einer der Publikationen von ZN.UA vor zwei Monaten definiert, also noch vor dem „Referendum“ auf der Krim. Wir haben prognostiziert, dass bei beliebiger Konstellation die Krim für den Kreml die Funktion solch eines Flughafens erfüllen wird: „hier wird Russland Ressourcen jeglicher Art ‚auftanken‘: von ‚prorussischen Aktivisten‘ für Aktionen in Donezk bis zu Diversionsgruppen, von Waffen für die ‚Selbstverteidigung‘ bis hin zum Auslaufen von Schiffen der Kriegsmarine Russlands in Richtung Odessa und Mykolajiw. Alles in allem wird es von hier aus wuchern. Lange.“ Aus der ganzen Liste ist, wie wir jetzt sehen, einzig der Marinefeldzug noch nicht geschehen, sonst aber ist alles – vom „Schützen“ und der Selbstverteidigung bis hin zu den Szenarien der „Verstaatlichung“ der Gebiete – akkurat exportiert worden …

Eigentlich aber ist an solch einer „militärischen“ Bestimmung der Krim-Halbinsel nichts Neues – sie war ein „Zerstörer auf See“ sogar zu den Zeiten, als jeder in der UdSSR sie für den „allsowjetischen Kurort“ hielt. In Wirklichkeit war sie beides. Einfach einen Blick hinter die Umzäunungen der Militäreinheiten zu werfen kam nie einem Touristen auch nur in den Sinn. So wird also der Kreml-Trend „Russland, vorwärts in die Vergangenheit!“ vollständig anhalten. Einzig die Bevölkerungsstruktur ist nicht mehr wie früher: In den Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine waren die Krimtataren aus der Deportation zurückgekehrt und zur Stütze des Staates Ukraine geworden, wofür sich Kiew selten in einer Art bedankte, die dem Medschlis gefallen hätte. Aber Kiew ging auch mit den Ukrainern so unvernünftig um. Nur die Russen wollte es nicht beleidigen …

In der jetzigen, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland äußerst schwierigen Situation ist es für Putin und seine Sonderkommandos auch extrem wichtig, dass jetzt und in Zukunft in keinem der benachbarten und kontrollierten Gebiete Herde eines, selbst potenziellen, Risikos des Abweichens vom Hauptszenario existieren. Massenkundgebungen illoyaler und damit „unzuverlässiger Bürger krimtatarischer Nationalität“ sind dafür keine Garantie.

Am Freitag, den 16. Mai, d. h. zwei Tage vor der Durchführung bereits genehmigter Trauerfeierlichkeiten aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Krimtataren von der Krim verbot Sergej Aksjonow die Durchführung von Massenveranstaltungen – bis zum 6. Juni.

Der Vorwand – die Ereignisse im Südosten der Ukraine und der Wunsch, Provokationen bei Massenveranstaltungen zu vermeiden. Wörtlich: „Im Zusammenhang mit den fortlaufenden Ereignissen in vielen Städten des Südostens der Ukraine, in deren Folge es Tote und Verletzte unter der friedlichen Zivilbevölkerung gab, zur Vereitelung möglicher Provokationen durch Extremisten, welche die Möglichkeit haben, in das Territorium der Republik Krim einzudringen, zur Vermeidung eines Platzens der Kurortsaison in der Republik Krim“. Im Zusammenhang damit wies Aksjonow alle „Behörden“ und Einrichtungen an, jede bereits geplante Massenveranstaltung abzusagen.

Die Dauer der Beschneidung des Rechtes der Bürger auf friedliche Versammlungen wirft mindestens zwei Fragen auf. Ist Aksjonow etwa bekannt, dass bis zum 6. Juni der Abschluss der „Ereignisse“ im Süden und Osten der Ukraine erwartet wird? Oder ist dies das Datum des endgültigen Endes der durch die Annexion der Krim verdorbenen Kurortsaison?

Und es gibt noch eine dritte Frage: Was, wenn nicht eine Provokation, ist dieser Erlass am Vorabend der bereits genehmigten Kundgebung zum 70. Jahrestag der Deportation, welche nach vorläufigen Schätzungen mehr als 30.000 Teilnehmer gehabt haben könnte?!

Nach einer Selbsteinschätzung zum Grad des Zynismus und der Unmenschlichkeit werden wir jene, die dieses Verbot am Vorabend des Gedenktages an die Opfer der Deportation in Stein gemeißelt haben, nicht fragen. Bei allen Vorgängen gibt es eine vollständige Übereinstimmung mit dem Stil und den Methoden des Kreml während aller Ereignissen in der Ukraine, die wir seit Beginn des letzten Herbstes beobachten. Alles entspricht dabei dem „Format“, die planmäßige und „wahre“ Berichterstattung in den russischen Medien eingeschlossen.

Die Sitzung des Medschlis, auf der ein Beschluss darüber gefasst werden sollte, wie auf den Erlass Aksjonows zu reagieren sei, begann, als diese Ausgabe schon in Druck gegeben war. Ein Telefongespräch mit dem Führer des Volkes der Krimtataren, Mustafa Dschemilew (Cemilev), gelang zu jener Zeit nicht. Der Vorsitzende des Medschlis, Refat Tschubarow, gestattete ZN.UA vor der Beschlussfassung durch das Vertreterorgan der Krimtataren seinen persönlichen Standpunkt darzulegen.

„Natürlich ist meine Bewertung des Erlasses von Aksjonow äußerst negativ. Im Grunde genommen hat man uns zum ersten Mal in den 23 Jahren seit unserer Rückkehr aus der Vertreibung die Durchführung einer Trauerkundgebung zum Tag der Deportation der Krimtataren verboten. Im Vergleich ist es genau so, als würde man in irgendeinem Land, in dem Juden leben, verbieten, der Opfer des Holocaust zu gedenken. Oder den Ukrainern, an die Opfer des Holodomor zu erinnern. Oder in Russland selbst, ähnliche Gedenktage zu begehen. Im Wesen ist dies ein Verbot der Erinnerung an den Völkermord am krimtatarischen Volk, das nach der Annahme des Erlasses über die Rehabilitation der Krimtataren durch den Präsidenten der Russischen Föderation erfolgte!“, sagte Refat Tschubarow.

Der Vorsitzende des Medschlis äußerte auch seine Meinung zum Ablaufdatum des Verbots friedlicher Versammlungen auf der Krim, den 6. Juni: „Ich merke an, dass vom 6. bis 12. Juni das internationale Festival „Welikoje russkoje slowo“ (Das große russische Wort) stattfindet, welches in diesem Jahr zum siebten Male durchgeführt wird. Es ist geplant, dass es im Rahmen dieses Festivals auch Massenveranstaltungen in einer Reihe von Städten der Krim geben wird. Es ergibt sich also, dass das Verbot genau an dem Tag endet, an dem dieses Festival beginnt, welches niemand im Zusammenhang mit den Ereignissen im Südosten der Ukraine abgesagt hat“, bemerkte Refat Tschubarow.

Auf die Frage, welche Entscheidung bezüglich der Durchführung oder Nichtdurchführung einer Kundgebung am 18. Mai er persönlich dem Medschlis vorschlagen wird, antwortete Refat Tschubarow: „Ich bin der Meinung, dass wir die Menschen nicht Schützenpanzerwagen und Schlagstöcken aussetzen dürfen. Deshalb kann man als Alternative die Durchführung von Trauerveranstaltungen in kompakten Siedlungsgebieten der Krimtataren in Betracht ziehen.“

Im Grunde also schlägt Rufat Tschubarow vor, den Weg der Zugeständnisse an die russischen Behörden weiter zu beschreiten, ein Weg, den der Medschlis in den letzten Monaten systematisch geht. Zu den Kompromissen um „der Sicherheit und des Lebenserhalts der Menschen“ willen gehört die faktische Anerkennung der separatistischen Macht nach deren entschlossenen Ablehnung in den ersten Tagen der Okkupation. Und sogar der Eintritt in deren Strukturen – zwei Vertreter des Medschlis erhielten einen Sitz im Ministerrat der Autonomie: Saur Smirnow leitete das Reskomnaz (Republikanisches Komitee der Autonomen Republik Krim für Angelegenheiten der Beziehungen zwischen den Nationalitäten und der deportierten Bürger) und Lenur Isljamow bekam den Posten des Stellvertreters des Regierungsvorsitzenden Aksjonow, wenn auch nur mit dem Zusatz „amtierend“. Gleichzeitig mit diesem Beschluss teilte der Medschlis seinen Landsleuten mit, dass der momentane Einzug in die nicht anerkannten Krim-Behörden nicht endgültig sei und dass man anhand des Rechenschaftsberichtes der „Delegierten“ eine endgültige Entscheidung treffen würde. Jedoch ist der Rechenschaftsbericht nach Ablauf eines Monats, wenn überhaupt, dann nur vom Medschlis, d. h. hinter den Kulissen, angehört worden, und über die Effektivität der Machtbeteiligung wurde den Krimtataren nicht viel erzählt. Dafür war aber die scharfe Richtungsänderung in der Redaktionspolitik des Ersten Krimtatarischen Fernsehens ATR, welches jenem Lenur Isljamow gehört (Refat Tschubanow ist auch Minderheitsaktionär dieser angeblichen Media-Holding) als Resultat unübersehbar.

Eine Erlaubnis zur Durchführung einer Kundgebung am 18. Mai erteilten die neuen Krim-Behörden dem Medschlis bis zur allerletzten Woche vor dem Tag der Deportation nicht. Als die Erlaubnis dann schließlich doch kam, wurden auch deren Bedingungen der breiten Öffentlichkeit bekannt. Der Medschlis verpflichtete sich, während des Meetings ausschließlich krimtatarische Symbolik zu verwenden, d. h., er ging auf die Forderung der Behörden ein, keine Staatssymbolik der Ukraine zu benutzen. Im Gegenzug bat der Medschlis die Krimbehörden für den Schutz der öffentlichen Ordnung nicht die sogenannte Krim-Selbstverteidigung einzusetzen. Eine klare Antwort auf diese Bitte oder Forderung gab es bis Ende der Woche nicht, obwohl die Verhandlungen laut Berichten von Medschlis-Mitgliedern täglich geführt wurden, sowohl mit zivilen, als auch mit behördlichen Organisationen.

Stattdessen machte eine Information die Runde, welche die russischen Staatsbürger nicht nur nicht mehr schockiert, sondern auch nicht mehr verwundert, da das für die Bürger Putin-Russlands Norm ist – zur Teilnahme an friedlichen Protestaktionen durch Metalldetektoren zu gehen und alles in Körbe zu werfen, was für „Stich- und Schnittgegenstände“ gehalten werden kann, ebenso Wasserflaschen. Der Medschlis war nach den Worten einiger seiner Mitglieder bereit, sich auch diesen Einschränkungen zu fügen. Wenngleich es schwer fällt sich vorzustellen, wie 20-30.000 Menschen, die aus verschiedenen Ecken der Krim gleichzeitig und organisiert, auch mit privaten PKWs, auf einem Platz im Zentrum Simferopols ankommen, durch Metalldetektoren gehen, oder was mit Älteren und Kindern passiert, denen man Schirme und Wasser gegen die sengende Sonne abnimmt.

Der Medschlis verzichtete auch am Donnerstag auf scharfe Erklärungen, als neue grüne Minnas mit Nummernschildern der Region 92 der Russischen Föderation (dieser Code ist der Krim zugewiesen worden), Schützenpanzerwagen und auch eine große Menge auswärtiger Polizeikräfte zum Zentrum von Simferopol rollten. Deren Manöver galten offensichtlich der Vorbereitung auf den 18. Mai. In den in Sichtweite vom Platz stehenden Gebäuden bezogen seit Montag Kämpfer der „Aksjonow-Selbstverteidigung“ Quartier. Man sagt, deren Gesamtzahl beläuft sich bereits auf etwa 1.800, und Aksjonow hätte schon seine Pläne über deren Legalisierung und Besoldung verkündet.

Im Ganzen ist die Krim erneut in Erwartung alarmierender Neuigkeiten. Die Hauptfrage für die Krimtataren und all jene, die mit der Annexion der Krim nicht einverstanden sind, lautet: Wie nun weiter? Darauf können zum Teil nur die Ereignisse am Sonntag, dem 18. Mai selbst eine Antwort geben. Beziehungsweise ihr Fehlen, denn unabhängig davon, ob sich der Medschlis – der Organisator einer Kundgebung auf dem Hauptplatz der Krim – dem Verbot der Behörden unterordnen wird oder nicht, werden sich Menschen finden, die sich mit solch einer Herabsetzung ihrer Würde nicht abfinden. In jedem Falle schlägt für die Krimtataren und besonders für den Medschlis heute die Stunde der Wahrheit, die Stunde der Wahl, die Stunde des Mejdan – ein turksprachiger Begriff, dessen Klang nicht nur Ukrainern bekannt ist.

16. Mai 2014 // Walentina Samar

Quelle: ZN.UA

Übersetzer:    — Wörter: 1906

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.