FacebookXVKontakteTelegramWhatsAppViber

Krimtataren (qırımlı) zwischen Kampf und Überleben: Wie Moskau die Krimtataren bricht

0 Kommentare

Mustafa Cemilev (Dschemilew)
Den Zustand der Krimtataren auf der okkupierten Halbinsel kann man, ohne zu übertreiben, tragisch nennen. Deportiert unter Stalin 1944 kehrten sie bald zurück, doch ein Vierteljahrhundert später befanden sie sich erneut in den Händen Moskaus und erneut gerieten sie als Volk unter Verdacht. Nur diesmal bezichtigt man die Tataren nicht der Kollaboration mit den „deutschen faschistischen Eindringlingen“, sondern mit der „Kiewer Junta“. Während vielen 2014 die Annexion der Krim noch wie ein wildes geopolitisches Missverständnis erschien, ist nun allen klar, dass sich die Russen für länger auf der Halbinsel aufhalten werden. Daher stehen die Tataren vor einer schwierigen Wahl: Entweder setzen sie den heroischen und hoffnungslosen Widerstand gegen den Besatzer fort, sie ergeben sich ihm oder verlassen erneut ihre Heimat. Und je länger die Besatzung andauert, desto komplizierter wird es vorherzusehen, für welche Zukunft sich die Tataren entscheiden.

Dissidenten-Volk

Glaubt man Meldungen aus der ukrainischen Presse, stellt sich die Situation vollkommen eindeutig dar: Im Unterschied zur slawischen Bevölkerung der Krim sind die Krimtataren zu einem Dissidenten-Volk geworden. Ihre Loyalität gegenüber der Ukraine bezeugen solche Vertreter wie Mustafa Dschemiljew (Cemilev) und Refat Tschubarow (Çubarov). Hierbei handelt es sich nicht bloß um leere Worte. Krimtatarische Aktivisten beteiligen sich an der Blockade der Halbinsel und in diesen Tagen kündigte Tschubarow die Gründung eines krimtatarischen Bataillons innerhalb der Nationalgarde an. Außerdem nimmt der von den Besatzern verbotene Medschlis seine Arbeit wieder auf, der die Interessen der Tataren nicht nur in Kiew, sondern auch auf internationaler Bühne vertritt.

Auf all das antwortet Moskau mit Repressionen gegen die krimtatarische Bevölkerung der Halbinsel, indem es eine breite Befriedungskampagne auffährt. Massenhafte Festnahmen von bürgerlichen Aktivisten, Durchsuchungen und Angstmache – all das ist Teil des täglichen Lebens der Tataren geworden. Beispielsweise hielten die Okkupanten am 21. Februar in Simferopol an die zwanzig Tataren auf einmal fest, angeblich wegen der Durchführung einer unrechtmäßigen Massenversammlung. Auch die Krimtataren selbst verstehen die Situation einwandfrei. „Vom Territorium der Krim wird man sich entfernen, herausgedrängt werden oder es werden sich irgendwelche Methoden finden, um Druck auf jene auszuüben, die den krimtatarischen und pro-ukrainischen Aktivisten Hilfe zukommen lassen.“ Diese Perspektiven unterstrich unlängst Hajana Yuksel, Abgeordnete im Medschlis.

Die Situation der Tataren bietet Kiew zusätzliche Druckmittel gegen Moskau in Hinblick auf die Befreiung der Krim. Die Repressionen gegen die Krimtataren haben bei der Europäischen Union und selbst den USA bereits mehrfach negative Reaktionen ausgelöst. Während Moskau im Donbass per Marionetten-„Regierungen“ in den Volksrepubliken Luhansk und Donezk agiert, sind die Besatzer auf der Krim dazu gezwungen, sich für die Repressionen verantwortlich zu zeigen, da sie der Grund für die Verschärfung der internationalen Sanktionen sind. Folgt man Dschemiljews erst kürzlich gemachten Äußerungen, so sind seine Hoffnungen auf die Befreiung der Krimtataren eng mit den Sanktionen verbunden, die Russland früher oder später dazu zwingen werden, die Krim zu verlassen.

Doch bis jetzt ist nichts dergleichen geschehen. Kiew unterstützt die Krimtataren vorwiegend mit Deklarationen und symbolischen Gesten, die sofort nach der Annexion zu bröckeln begannen. Zum Beispiel erkannte die Werchowna Rada schon im März 2014 die Tataren als indigenes Volk an und den Medschlis als befugte Repräsentativkörperschaft. Inzwischen wird in Kiew bereits darüber geredet, den Krimtataren das Recht auf nationale Autonomie einzuräumen und diese in der Verfassung zu verankern. Im Zuge neuer, die Sprache betreffender Gesetzesentwürfe wird sogar vorgeschlagen, der krimtatarischen Sprache auf der Halbinsel einen besonderen Status zuzuerkennen. Wahr ist aber auch, dass solche großen Gesten sehr zum Populismus tendieren, weil die Tataren die großzügig zuerkannten Rechte nicht nutzen können, solange die Besatzung andauert.

Am Scheideweg

Je länger die Krim unter der russischen Regierung bleiben wird, desto komplizierter wird es für die Tataren, den pro-ukrainischen Kurs zu halten. Da sie auf der Halbinsel eine Bevölkerungsminderheit darstellen (bis zur Okkupation etwa zehn Prozent der Bevölkerung), riskieren sie in eine noch schlechtere Lage zu geraten als jetzt. Im Prinzip haben die Besatzer unbegrenzte Möglichkeiten die Tataren zu terrorisieren und ihnen das tägliche Leben unerträglich zu machen. Weiterhin versucht Moskau, die Tataren mit Zuckerbrot zu locken, dass sie die Besatzungsmacht anerkennen. Nach Dschemiljews Worten hatten die Russen den Tataren bereits vor der Annexion die Anerkennung des Medschlis angeboten sowie eine Beteiligung an den Regierungsorganen mit 20 Prozent und weitere Vorteile.

Damals lehnten Dschemiljew und Tschubarow die Angebote Moskaus ab. Allerdings haben nicht alle Krimtataren die gleichen Absichten. So tagte im März 2014 der Kurultai, die höchste Versammlung des krimtatarischen Volkes, wo Lenur Isljamow (İslâmov) eine opportunistische Linie präsentierte. „Ich bin Patriot des krimtatarischen Volkes“, bekräftigte er. „Wenn ihr mir jetzt sagt: Geh in die Regierung, werde Vize-Premierminister… Dann werde ich gehen und dafür sorgen, dass ihr morgen alle irgendwie verteidigt werdet. Sagt ihr mir: Es ist nicht nötig morgen dort zu arbeiten – dann geh ich nicht. Es kann nicht das ganze Volk zu Dissidenten werden.“ Wie bekannt ist, war Isljamow tatsächlich von April bis Mai 2014 Stellvertreter des Vorsitzenden im Ministerrat der Krim, der schon damals eine Struktur der Besatzungsmacht darstellte – dort war er jedoch angeblich nur auf Anordnung des Medschlis‘.

Währenddessen gibt es auf der Halbinsel auch andere krimtatarische Organisationen, die bereit sind, die Tataren auf Pro-Kreml-Kurs anzuführen. Zum Beispiel schickte die Organisation „Kirim birligi“ Anfang Februar einen Brief an die UN mit der Bitte, die Krim als einen Teil Russlands anzuerkennen und die Blockade der Halbinsel zu verurteilen. Und „Kirim“, eine andere pro-russische krimtatarische Organisation, rief die Türkei dazu auf, die Unterstützung der „Extremisten des Medschlis“ einzustellen. Der reale Einfluss dieser Organisationen ist sehr gering, allerdings wird hier ein Fakt klar: Im krimtatarischen Umfeld gibt es auch pro-russische Stimmungen. Und das bedeutet, unter bestimmten Bedingungen werden sich auch weitere Kadyrows finden lassen.

Da Moskau die Tataren 2014 nicht mit Versprechen locken konnte, verfolgt es offensichtlich eine langfristige Strategie, die die Tataren zu Loyalität zwingen soll. Und hier spielt dem Besatzer die Zeit in die Hände: Wenn der Kräftevorrat der Tataren ausgeschöpft ist, können die marginalen pro-russischen Kräfte zu neuen krimtatarischen Anführern werden. Aufgrund nicht vorhandener repräsentativer soziologischer Daten kann man über Stimmungen unter den Tataren nur spekulieren. Doch es ist offensichtlich, dass viel von den (vorläufigen) Ergebnissen des ukrainisch-russischen Widerstands abhängt. Denn die Erfolge Kiews befeuern unmittelbar die Hoffnung, aus der Besatzung befreit zu werden und natürlich darauf, dass die Krimtataren nicht mehr lange ausharren müssen. Unsere Misserfolge dagegen sind ein Beleg dafür, dass den Krimtataren nichts anderes übrig bleibt, als sich an die neue Realität anzupassen, um zu überleben.

27. Februar 2017 // Anatolij Rubljow

Quelle: Zaxid.net

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Übersetzerin:   Annegret Becker — Wörter: 1070

Annegret Becker hat Slawistik und Linguistik, insbesondere Ukrainisch und Tschechisch, in Greifswald studiert. Sie übersetzt vor allem journalistische, historische und Sachtexte aus dem Ukrainischen.

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und täglich oder wöchentlich per E-Mail.

Artikel bewerten:

Rating: 4.8/7 (bei 5 abgegebenen Bewertungen)

Kommentare

Neueste Beiträge

Kiewer/Kyjiwer Sonntagsstammtisch - Regelmäßiges Treffen von Deutschsprachigen in Kiew/Kyjiw

Karikaturen

Andrij Makarenko: Russische Hilfe für Italien

Wetterbericht

Für Details mit dem Mauszeiger über das zugehörige Icon gehen
Kyjiw (Kiew)32 °C  Ushhorod28 °C  
Lwiw (Lemberg)27 °C  Iwano-Frankiwsk28 °C  
Rachiw24 °C  Jassinja23 °C  
Ternopil27 °C  Tscherniwzi (Czernowitz)31 °C  
Luzk28 °C  Riwne28 °C  
Chmelnyzkyj29 °C  Winnyzja28 °C  
Schytomyr28 °C  Tschernihiw (Tschernigow)29 °C  
Tscherkassy27 °C  Kropywnyzkyj (Kirowograd)29 °C  
Poltawa29 °C  Sumy29 °C  
Odessa27 °C  Mykolajiw (Nikolajew)32 °C  
Cherson32 °C  Charkiw (Charkow)28 °C  
Krywyj Rih (Kriwoj Rog)30 °C  Saporischschja (Saporoschje)31 °C  
Dnipro (Dnepropetrowsk)29 °C  Donezk29 °C  
Luhansk (Lugansk)30 °C  Simferopol29 °C  
Sewastopol24 °C  Jalta25 °C  
Daten von OpenWeatherMap.org

Mehr Ukrainewetter findet sich im Forum

Forumsdiskussionen

„Was will Faschisten-Russland schon eskalieren? Haben die nicht sogar Truppen von den NATO-Grenzen abgezogen weil es eng wird?“

„Den direkten Konflikt mit Russland gibt es doch schon lange. Natürlich ist das kein heißer Konflikt. Aber, gesprengte Pipelines, diverse Hackerangriffe, Morde an in Europa lebenden russischen Migranten...“

„Die Einwanderung ist inzwischen leichter geworden. Siehe: unbefristete-aufenthaltsgenehmigung-ein ... 48448.html Ansonsten halt der übliche Kram: Ehe, KInd, ukrainische Ahnen, Ostfronteinsatz. Aber dann...“

„Die temporäre Aufenthaltsgenehmigung hat vor allem den Nachteil, dass du für die jeweilige Erneuerung jedes Mal eine Grundlage brauchst, deren Bedingungen sich ändern können. Mit einer befristeten...“

„In der Praxis habe ich auch noch von keinem Einwanderer hier gehört, dass er seinen ausländischen Führerschein umgetauscht hat. Allenfalls, dass sich Leute einen zweiten ukrainischen zugelegt haben....“

„Liebe Alle ich habe an anderer Stelle einiges zum Thema gelesen, jedoch nicht die wirklich passende Antwort gefunden. Vielleicht hier? Muss man wirklich, wenn man eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine...“

„Hat jemand eine Idee wie ich mein Bike von köln beispielsweise nach krementschuk schicken kann? Gibt es jemanden der Transporte in die Ukraine macht? Dankeeee“

„Hatte gestern so eine Situation. Nach einer Mautstelle, stand polnische Policia und verfolgte mich anschließend mit Blaulicht. Bitte folgen, das war in Kattowitz. Sie meinten, ich hatte kein Licht an,...“

„Hallo Forengemeinde, bin heute früh 6 Uhr über Korczowa in die Ukraine eingereist. 1,5 h ohne Probleme. Straßen, sind teilweise sehr marode“

„Scheidungsurteile sind unbegrenzt gültig. Auch nach 10 oder 20 Jahren. Aus dem einfachen Grund, weil der Inhalt, also die Entscheidung, sich ja nicht mit Zeitablauf ändert. Normalerweise jedenfalls nicht....“

„Klingt irgendwie nach Wunschkonzert. Die Person erscheint mir wenig Schutz zu benötigen, reist ja immer hin und her. Paragraph 24 bedeutet, Du benötigst den Schutz, Du bleibst hier, Du lernst Deutsch,...“

„Ja das ist Blödsinn dass die Waffen nicht gegen Russland selbst eingesetzt werden sollten. Die bekloppten Russen-Faschisten fragen doch auch nicht ob sie ukrainische Zivilisten mit Iran-Drohnen beschiessen...“

„Hallo Waldi, im Grunde bin ich voll bei Dir! Da aber die Unterstützer der Ukraine ihre Rüstungsindustrie nicht hochfahren, die Produktion von Munition ist viel zu gering, wird es wohl nichts mit einem...“

„Wenn verhindert werden muss dass RU weiter (und noch stärker) eskaliert, müssen auch militärische Anlagen und Aufmarschgebiete in RU angegriffen werden können. Dies ist kein Eskalationsschritt sondern...“

„Hallo, vielleicht kann sich jemand zu folgenden Fragen äußern: - Ein Ukrainer mit biometrischem Pass war mit gültigem Visum von August 21 - August 22 in Deutschland (ohne gemeldet zu sein, bzw. Aufenthaltsgenehmigung...“

„Fahre immer schwarze Autos, vielleicht liegt es auch an der Farbe.“

„Bin da noch nie angehalten worden, vll. liegt es an deinem Auto. An der Grenze wird man grundsätzlich mit was konfrontiert was man sich nicht erklären kann und wo man nicht drauf vorbereitet ist. Ist...“

„@ensowo dazu gibt es wohl endlose Geschichten, selbst bin ich zweimal in gleicher Art und Weise kontrolliert wurde, das erste Mal, stichprobenartig, da gehe ich von einem Zufall aus. Beim zweiten Mal allerdings...“

„am 20.05.Ausreise über Budomiers mit dem Wohnmobil.Wir hatten Schwierigkeiten mit dem Ukrainischen Zoll. Das Wohnmobil hat ein Gesamtgewicht von 3500 Kg und die Zollbeamtin wollte das Wohnmobil als Lkw...“

„Ein Waffenstillstand hat den " Charme" keine Gebiete offiziell abtreten zu müssen und nur auf so was in der Art würden sich die Ukrainer eh nur einlassen. Putin hat einen Lauf, in 2024 wird sich eh nichts...“

„An einem wirklichen Waffenstillstand hat doch Putin gar kein Interesse, sieht man doch seit 2014. Nur dafür dass die Ukraine die besetzten Gebiete abtritt was sie nicht machen wird. Eine Offensive wird...“

„Hallo Waldi, im Grunde bin ich voll bei Dir! Da aber die Unterstützer der Ukraine ihre Rüstungsindustrie nicht hochfahren, die Produktion von Munition ist viel zu gering, wird es wohl nichts mit einem...“

„"Eine Apostille hat kein Ablaufdatum. Die Urkunde, die mit der Apostille versehen ist, kann aber eine Gültigkeitsfrist beinhalten. In der Regel dürfen seit der Ausstellung des Dokuments mit Apostille...“

„Verteidigung wird unter den jetzigen Umständen immer mehr zum Selbstmord! Was die ukrainische Armee dringend braucht sind schwere Waffen zur Verteidigung. Und dazu gehören nun einmal ATACMS-Raketen und...“

„Hallo nochmal.....wisst ihr wie lange mein apostilliertes Scheidungsurteil aus Belgien in der Ukraine gültig ist?“