Das Russland, das wir verlieren werden
Die Ukrainer schauen aus vielen Gründen in das kommende Jahr mit verhaltenem Pessimismus. Jedoch galt eben 2017 vor einigen Jahren als das Jahr, das alle unsere Probleme lösen wird. Die allwissenden Experten prognostizierten, dass 2017 dem Kreml das Geld ausgeht, dem Bankrott des Nachbarregimes folgt der Zerfall Russlands und wir werden schlussendlich den angeborenen Feind los.
Mit der Annäherung an das heiß ersehnte Datum wurden die Prognosen weniger, doch der Glaube selbst an den kommenden Zusammenbruch der Russischen Föderation elektrisiert die Ukrainer weiter. In den vergangenen Jahren verwandelte sie sich in eine eigenartige zivile Religion, zu der man sich in patriotischen Kreisen bekennt. Für viele von uns wurde der Zerfall Russlands zur Verwirklichung einer höheren Gerechtigkeit, einem Schlüssel für eine ungestörte Existenz, der irdischen Analogie des Himmelreichs. Das wirkliche Leben in der Ukraine beginnt dann, wenn der verbrecherische nördliche Nachbar sein Leben in blutigen Krämpfen aushaucht und je schrecklicher sein Ende wird, um so besser!
Bekanntlich endet der russische Demokrat bei der ukrainischen Frage und für uns wird es sogar schwierig, eine gemeinsame Sprache mit den konsequenten Kremlgegnern zu finden. Doch oftmals endet der ukrainische Demokrat genauso bei der russischen Frage, da er keine andere Lösung dieser Frage sieht, als das Abrutschen der Russischen Föderation in blutiges Chaos.
Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Position es nicht gestattet sich mit den Gegnern Putins auf eine gemeinsame Sicht der Zukunft zu einigen: Bürgerkrieg und Zerfall des Staates sind für jeden Russen unannehmbar, unabhängig von seinen politischen Ansichten. Überdies ist eine derartige Entwicklung der Ereignisse absolut inakzeptabel für den Westen: Nichts schreckt westliche Analysten mehr, als ein Zerfall Russlands in Einzelteile und eine Verbreitung seines Atomarsenals. Somit sind wir verdammt dazu, von einer Desintegration der Russischen Föderation in stolzer Einsamkeit zu träumen.
Doch wäre ein Versinken Russland im Chaos wirklich vorteilhaft für die Ukrainer? Was steht hinter den einheimischen Träumen von einem Zerfall der Russischen Föderation: eine nüchterne Kalkulation oder dennoch unsere Emotionen? Haben wir die realen Folgen eines solchen Szenarios berücksichtigt? Oder wollen wir nur, dass die russische Gesellschaft in voller Höhe für die Handlungen des Kremls bezahlt, damit der Nachbar alle Vorzüge des Krieges und der „Volksrepubliken“ an der eigenen Haut erfährt?
Man glaubt, dass eine innere Destabilisierung den aggressiven russischen Bären besänftigt und er seine Nachbarn nicht mehr terrorisieren kann. Doch wird diese populäre These nicht von der historischen Erfahrung bestätigt. 1917 schien es, dass das russische Chaos eindeutig den Anhängern einer unabhängigen Ukraine in die Hand spielt. Wenn mit der Provisorischen Regierung wenig erfolgreiche Verhandlungen über eine Autonomie geführt wurden, so erlaubten der bolschewistische Umsturz in Petrograd und die nächste Stufe der Destabilisierung es die Ukrainische Volksrepublik auszurufen.
Leider Gottes hielt das Glück nicht lange an: Sehr bald schlug das russische Chaos auch auf die Ukrainer zurück. Die Ukraine wurde leicht mit dem Bolschewismus infiziert und verwandelte sich danach in ein Schlachtfeld zwischen den Revolutionären Lenins und den russischen Weißgardisten. Das Prinzip „Russland hat keine Zeit für die Nachbarn, es hat genügend eigene Probleme“ funktionierte aus irgendeinem Grunde nicht.
Es funktionierte auch am Anfang der 1990er nach dem Zerfall der UdSSR nicht. Ungeachtet der scharfen Krise der russischen Staatlichkeit fand Moskau Zeit sowohl für Moldau, Georgien, Karabach und Tadschikistan.
Vor dem Hintergrund der wachsenden inneren Destabilisierung griff General Lebed die moldauische Armee in Transnistrien an, Vizepräsident Ruzkoj gab den Angriffsbefehl auf die georgischen Kräfte in Südossetien und die russische Luftwaffe bombardierte die Regierungseinheiten in Abchasien.
Im damaligen Russland – einem ruinierten, von Widersprüchen zerrissenen, das die Kontrolle über die ehemaligen Provinzen verliert – blieb nichts anderes, als ein Haufen an sowjetischen Waffen. Und dieses einzige Instrument wurde aktiv gegen die schwächeren eingesetzt, um wenigstens die Illusion der vorherigen Stärke und des vorherigen Einflusses zu wahren.
Ja, in diesen unruhigen Jahren vermied die unabhängige Ukraine die nachbarlichen Aggressionen. Doch ausgehend vom heutigen Tage zurückblickend, begreifen wir: Damals in den 1990ern hatten die Ukrainer einfach nur Glück. Und darauf zu zählen, dass wir ein zweites Mal davonkommen, braucht man nicht mehr. Die Ukraine ist für Russland ein klarer Feind geworden, der Donbass und die Krim zu bereiten militärischen Brückenköpfen und die geladene Flinte, die über der Bühne schwebt, kann in einer Extremsituation nicht anders als schießen.
Wenn der Kreml, der mit einer sich nähernden Katastrophe konfrontiert ist, alles auf eine Karte setzt, dann wird sein letzter Einsatz sicher die Ukraine sein. Wenn in Russland wirkliches Chaos mit blutigem Gemetzel, unkontrollierten bewaffneten Gruppierungen und Massen wahnsinniger Flüchtlinge herrscht, dann werden sich all diese Freuden mit einer großen Wahrscheinlichkeit auf die Ukraine ausbreiten. Wenn auf den Ruinen des putinschen Imperiums sich ein Kampf der Clans entfaltet und eine der Seiten seine Binnenlegitimität mit Militäraktionen im Ausland stärken möchte, so wird die Ukraine zum Hauptziel. So oder so, die Trümmer des zusammenbrechenden Russlands werden uns sehr schmerzhaft treffen. Und ein derartiges Szenario erfordert von den Ukrainern mehr Beständigkeit und Kraft, als die derzeitige hybride Konfrontation.
Kann die Ukraine vom Niedergang des Nachbarn profitieren? Fraglos ja, doch muss dabei berücksichtigt werden, dass die eiserne Regel „je schlechter für Russland, um so besser für die Ukraine“ im Falle des Bankrotts des putinschen Regimes aufhört zu funktionieren.
Und sowohl für die Russen selbst als auch für die Ukrainer ist ein weicher Kollaps der Russischen Föderation vorzuziehen: Ohne außer Kontrolle geraten der Situation, ohne massenhaftes Blutvergießen, aber mit handelnden Pragmatikern im Kreml und einer schrittweisen Aufgabe von Positionen im Austausch für materielle Zugeständnisse. Leider Gottes ist unbekannt, ob Russland fähig ist zu einem schonenden Szenario zu kommen, nach all dem, was Putin & Co. angerichtet haben. Daher müssen sich die Ukrainer eher auf die schlechteste Variante der Entwicklung der Ereignisse einstellen.
Und vor allem muss auf den Gedanken verzichtet werden, dass ein hypothetischer Zerfall der Russischen Föderation für uns ein Geschenk des Schicksals, eine Erlösung von allen Nöten und der Lösung aller Probleme sein wird. Der Zusammenbruch der benachbarten Nichtganzsupermacht, ist eine ernste Herausforderung, auf die sich die Ukraine bereits heute vorbereiten muss. Denn Morgen könnte es bereits zu spät sein.
23. Dezember 2016 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda