„Schön, laut, aber impotent“: Jaroslaw Hryzak über die Generation der jungen ukrainischen Politiker



Die heutigen 30-Jährigen leben so, als wären sie erwachsene Kinder. Sie glauben, dass sie in den schwierigen 90er Jahren nicht genug gespielt hatten, und jetzt haben sie so eine verzögerte Kindheit.

Vor Kurzem hielt der Historiker Jaroslaw Hryzak in Tscherniwzi (Czernowitz) eine Vorlesung über die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Ukraine, insbesondere, wie sie von unseren Werten beeinflusst werden. Das Gespräch berührte extra die jüngere Generation – diejenigen, die in den 1980er und 90er Jahren geborenen sind. Sie waren zum größten Teil Zuhörer der Vorlesung. Die Vertreter von dieser Generation sind zur treibenden Kraft des EuroMaidan, zu den aktivsten Freiwilligen und neuen Politikern geworden. Aber politisch gesehen ist jetzt diese Generation nicht wirklich erfolgreich. Warum ist es so, und ist es möglich, das zu ändern? Mit Erlaubnis von Herrn Hryzak veröffentlicht INSIDER diesen Teil der Vorlesung.

Viele Soziologen weisen auf einen großen Unterschied zwischen dem Maidan 2004 und dem Maidan von 2013 hin. Der erste war vertikal, er hatte eine Hierarchie, in der Juschtschenko der Gott war, und Julia  - die Göttin. Damals hatten wir noch keine Zivilgesellschaft, weil sie nicht hierarchisch ist und keine führenden Personen hat. Und da war die ganze Energie auf ihnen gestützt.

Der zweite Maidan war horizontal, die führenden Personen dort spielten die Rolle von Beiwerk, und dabei nicht einmal des besten. Sie wurden häufig ausgelacht. Weil die Führungsrolle der Maidan übernahm, die Gesellschaft selbst.

Was ist passiert, warum gab es diesen Unterschied? Alles ist einfach. Die Leute, die den Ton auf dem zweiten Maidan gaben, waren zum Zeitpunkt des ersten 10-15 Jahre alt. Im Zeitraum ihrer Entwicklung gab es jahrelang breite politische Freiheit und eine Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs. Parallel dazu hat sich die Ukraine von einem industriellen zu einem postindustriellen Land umgewandelt: Dienstleistungen, Cafés, Tourismus entwickelten sich, und somit auch die Kommunikation. Infolgedessen haben wir eine Generation bekommen, für welche die Werte des Selbstausdrucks entscheidend sind – wie bei der Sechziger-Generation im Westen. Nur wenn sie dort in den 1960er-1970er Jahren „reif“ wurden, gaben sich diese Leute bei uns erst jetzt zu erkennen. Sie waren nicht die zahlreichste Gruppe auf dem Maidan, genau wie in den 1960er Jahren nicht alle jungen Leute Beatles und Rolling Stones hörten oder Drogen konsumierten. Aber sie gaben der Generation Würze, die schließlich Generation „Sex, Drugs & Rock’n‚Roll“ genannt wurde. Genauso würzten unsere jungen Leute den „Maidan“.

Der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart entwickelte eine sogenannte Wertebatterie, in welcher die Länder auf einem Graphen dargestellt sind, wo die Y-Achse das religiöse Niveau der Gesellschaft repräsentiert, von einer stark religiösen bis zur säkularen, und die X-Achse die Vorherrschaft der Überlebenswerte oder der Werte des Selbstausdrucks bedeutet. Die erstellte „Karte“ der Länder fällt in etwa mit dem Niveau des Bruttoinlandsprodukts zusammen: Säkulare Länder mit entwickelten Werten des Selbstausdrucks sind wohlhabender. Es ist  anzumerken, dass die X-Achse hier die Schlüsselachse ist.

Um diesen Graphen zu erstellen, wurden und werden noch immer Menschen auf der ganzen Welt gefragt („Welche Rolle spielt Gott in eurem Leben?“, „Würdet ihr einer Person mit homosexueller Orientierung erlauben, bei euch zu übernachten?“). So kann man Veränderungen in verschiedenen Ländern rechtzeitig verfolgen. Und wir sehen, dass im Jahre 2000 die Werte des Selbstausdrucks in der Ukraine beginnen, an Bedeutung zu gewinnen. Und wenn dies geschieht, sollte man Änderungen erwarten. Nicht immer positive, aber es gibt Chancen dafür. Wenn das Land demokratisch ist, lohnt es sich, auf solche Bewegungen wie Feministinnen, „Grüne“, Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen, Punks zu warten. Wenn dies ein autoritäres Regime ist, ist eine Revolution zu erwarten. In den „Nuller“-Jahren brachte die Ukraine diese Veränderung auf die Welt. Bald darauf bekamen wir das Ergebnis: Die Generation wuchs auf – und „beseitigte“ Janukowytsch.

Diese Generation kennzeichnet sich auch durch andere Eigenschaften aus. Sie ist beispielsweise nicht zu dauerhaften langfristigen Taten fähig. Horizontale Energie ist enorm: Diese Leute können auf den Maidan gehen, einen Flashmob organisieren, sich effektiv ehrenamtlich engagieren oder andere schnelle, helle und schöne Taten umsetzen. Aber alle diese Aktionen sind einmalig. Doch das es lang und beharrlich ist – nein. Dies ist eben die Eigenschaft ihres Lebens, „von iPhone zu iPhone“: verdienen, die Arbeit kündigen, sich erholen, irgendwohin fahren, einen anderen Job finden.

Ein weiteres Merkmal von denjenigen, die jetzt 25-30 sind, ist Egalität. Das ist das bedingte Ethos von Facebook, wo alle miteinander „per Du“ sind. Denn „am Eingang“ sind alle gleich, außer dass die Anzahl der Likes euch voneinander unterscheidet. Deshalb ist es bei Facebook schwierig, Janukowytsch oder Putin zu sein: Dort kann man niemanden zwingen, jemanden zu respektieren. Die Konsequenz einer solchen Meritokratie ist mangelnde Lust auf Hierarchie. Und worin zeigt sich die Hierarchie? Sie zeigt sich bei der Schaffung von politischen Parteien, bei Wahlen. Der neuen Generation ist das im Großen und Ganzen gleich. Wie man sagt, sie interessiert sich für Politik, nur wenn sie zu ihnen ins Bett kommt. Wenn man ihnen erklärt, wie man sich sexuell verhalten soll. Das Ergebnis ist eines unserer größten zeitgenössischen Probleme: Die Ukraine kann kein politisches Projekt hervorbringen, das diese Menschen widerspiegeln würde. Wir haben praktisch keine politische Elite dieser Generation. Wir haben Serhij Leschtschenko und ein paar andere aus dieser Gruppe – aber sie sind noch nicht ausgereift, sie sind nicht erwachsen geworden. Und alles wäre in Ordnung, aber gerade in der Zeit dieser Menschen besteht die Aufgabe und die Möglichkeit, die Ukraine zu verändern.

Wäre es zum Zeitpunkt unserer Jugend passiert, wären die Ergebnisse vielleicht schneller gewesen. Nicht weil wir besser sind – nein. Nur die Zeit hat für uns eine andere Bedeutung. Bei uns, wenn die Mädchen nicht vor dem 20. Lebensjahr und die Jungs nicht bis 25 heirateten, war es eine Tragödie. Und im neunzehnten Jahrhundert endete die Jugend überhaupt mit 20 Jahren, denn das ganze Leben dauerte etwa 40. Und wir hatten das Gefühl, das es notwendig war, sich schnell zu bewegen. Was passiert jetzt? Fast alle, die jetzt 25-30 Jahre alt sind, haben das Gefühl, dass sie bis 70 Jahren oder sogar länger leben werden. Und die Generation, die jetzt geboren wird – man spricht bereits jetzt darüber – wird 120 Jahre lang leben, das maximale menschliche biologische Alter. Folglich verändert sich das Konzept der Jugend und der Kindheit.

Die heutigen 30-Jährigen leben so, als wären sie erwachsene Kinder. Sie glauben, dass sie in den schwierigen 90er Jahren nicht genug gespielt hatten, und jetzt haben sie so eine verzögerte Kindheit. Fast alle heiraten nach 30, meistens mit 35 Jahren. Wenn man es rechtzeitig schafft, dann bekommt man mit 40 ein Kind, wenn nicht, dann kauft man sich einen Hund oder eine Katze…

Ihr habt das Gefühl, dass Sie noch viel Zeit haben, es ist immer noch vor euch. Deshalb verschiebt ihr die Entscheidung, ihr tragt weniger Verantwortung. Ihr reagiert ausschließlich auf direkte Bedrohungen. Ihr mögt zum Beispiel Janukowytsch nicht – und ihr geht auf die Straße hinaus. Aber was kommt danach? Ihr verschwindet vom Maidan und geht zu Facebook. So waren alle Proteste dieser Generation – Occupy in den Vereinigten Staaten, der Arabische Frühling, der russische Protest auf dem Bolotnaja-Platz. Und was kommt am Ende heraus? Dass alle Revolutionen dieser Generation nicht gelingen. Denn die Weise ihrer Tätigkeit ist schön, aber hoffnungslos. Und solange ihr keine politischen Projekte hervorbringt, wird die alte politische Klasse herrschen. Sie wird ständig ihre Spielregeln fördern und wird sie nur unter starkem Druck ändern. Genau das, was wir gerade sehen. Denn es hat sich herausgestellt – und das haben Petro Poroschenko und andere verstanden – euch kann man einfach ignorieren. Diese Generation, diese 15 Prozent der ukrainischen Gesellschaft, für welche die Werte des Selbstausdrucks wichtig sind, können politisch vernachlässigt werden. Sie ist schön, laut – aber impotent. Sie machen viel Lärm, aber sonst nichts. Und wir müssen darüber sprechen.

Ja, wir lieben es, die Staatsmacht zu kritisieren – aber die Staatsmacht zu kritisieren ist süß und einfach. Und das hilft kaum. Denn erstens hört die Staatsmacht nicht zu. Und zweitens befreit uns diese Kritik von der Verantwortung. Dank ihrer glauben wir, dass wir flauschig und wunderschön sind. Aber in der Tat liegt das Problem in uns selbst. Weil wir nicht genug Druck auf diese Staatsmacht organisieren können, um sie zu ändern.

Ich glaube, dass die Wahlen 2019 nichts ändern werden (2019 stehen im Frühjahr die nächsten Präsidentschaftswahlen und im Herbst die nächsten Parlamentswahlen an, A.d.R.). Sie werden die Existenz der aktuellen politischen Klasse konservieren – wahrscheinlich mit Poroschenko an der Spitze, was nicht die schlimmste Option wäre. Dennoch denke ich, dass das Fenster der Möglichkeiten, das sich 2014 eröffnete, bereits geschlossen ist. Der Maidan erlitt eine Niederlage: Die Reformen fanden nicht statt, oder sie sind zu langsam und noch nicht irreversibel. Die Schlüsselreform – die Reform der Rechtssprechung – ist nicht da. Aber was noch wichtig ist – es gibt noch einen Weg von Möglichkeiten. Er ist lang, wird 20-25 Jahre dauern, aber die Ukraine hat ihn bereits. Weil irgendwann wird eure Generation 40-50 Jahre alt sein, sie wird unweigerlich in die Zeiten der Verantwortung übergehen. Und die gegenwärtige politische Elite wird aus rein biologischen Gründen gehen. Aber um ein Ergebnis zu bekommen, müsst ihr bei der nächsten Präsidentenwahl bei einem niedrigen Start bereit stehen. Ihr müsst euch zusammenschließen, einander koordinieren, ihr müsst lernen, langfristige Ziele zu erreichen.

Daher ist Niederlage das einzige, was ich mir für euch wünsche. Und zwar eine stärkere, als vorher, eine Art von wake-up call, von „gebratenem Hahn“. Denn nichts kann wirklich ohne Niederlage gebaut werden. Euphorie selbst kann nichts verändern. Wenn ich das Gesicht von Leschtschenko oder noch jemandem sehe, wünsche ich mir immer, dass man ihm eine Zitrone gibt. Damit er nicht so selbstzufrieden aussieht. Sie erleiden mittlerweile eine Niederlage, eine katastrophale Niederlage – und verhalten sich so, als ob sie gewinnen würden. Also sagt ihnen das, lasst sie es irgendwie verstehen, nehmt sie von der Bühne herunter und zeigt ihnen die rote Karte! Ersetzt die Führenden. Oder erzieht diejenigen sorgfältiger, die es dort gibt.

Breiter gesehen lässt die Situation in der Ukraine hoffen. Der EuroMaidan weckte plötzlich eine sehr starke Hoffnung in der europäischen politischen Klasse. Immerhin erschien plötzlich ein Land, in dem es Leute gibt, die noch immer bereit sind, für die Werte zu sterben, an welche sie glauben. Denn Europa verhält sich zu seinen Werten genauso wie ein Mensch zu seinem Gut: Man hat es, aber man interessiert sich wenig dafür. Das ist eine Mitgift, Geschichte, eine Reliquie. Und die Ukraine hat eine neue Qualität gezeigt. Mein Freund, der Historiker Timothy Snyder sagte einmal sehr schön: Europa ist Prosa, und die Ukraine ist Poesie. Es ist unmöglich,  nur mit Poesie zu leben. Aber das Leben nur mit Prosa ist auch langweilig. Euer Leben wird alles mögliche sein, aber nie langweilig.
 
Aufgeschrieben von Anton Semyschenko. Die Vorlesung fand im Rahmen des Projektes „Genaue Reflexion des Assoziationsabkommens EU-Ukraine in ukrainischen Medien“ statt. Es wird von der polnischen Stiftung für internationale Solidarität in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Organisationen „Internews-Ukraine“ und der „Towarystwo Lewa“ umgesetzt.

13. September 2017 // Anton Semyschenko

Quelle: Insider

Übersetzerin:   Roksoliana Stasenko  — Wörter: 1832

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