Die Schöne, das Biest und der Zeitgeist
Der von mir geschätzte Botschafter der Ukraine in Österreich, Alexander Schtscherba, veröffentlichte auf einer der Internetseiten einen Text, der große Aufregung im patriotischen Teil der Leserschaft hervorrief. Dieser Text unter der romantischen Bezeichnung „Bislang ist der Zeitgeist nicht mit uns“ wird diskutiert, verbreitet, kommentiert und aufgenommen, als Wahrheit, die unbedingt jemand habe ehrlich aussprechen müssen.
Denn dieser Text schmeichelt unserer aller Selbstverliebtheit. Europa ist ein Supermarkt. Die Ukraine ist die Festung auf dem Wege der Wiederherstellung der imperialen Ambitionen Russlands. Die Europäer – und der kollektive Westen – wollen das nicht merken und uns nicht wirklich helfen. Wir müssen kämpfen. Die Zeit sucht man sich nicht aus.
All das ist natürlich bemerkenswert. Und auch ich schreibe etwas in der Art einmal pro Woche. Doch nur nicht im Verlaufe der letzten vier Jahre, im Unterschied zum großen Teil der ukrainischen Kommentatoren, Politiker und Diplomaten, sondern im Verlaufe der vergangenen 27.
Und daher möchte ich daran erinnern, wo die Ukraine gemeinsam mit ihrer weisen, verantwortungsvollen Bevölkerung damals war, als der Supermarkt-Europa, dem russischen Druck keine Aufmerksamkeit schenkend, neue Länder aus dem ehemaligen Warschauer Pakt und sogar aus der ehemaligen Sowjetunion in die Reihen der Europäischen Union und der Nato aufnahm. Als er diesen Ländern riesige Gelder für die Modernisierung bereitstellte. Als er mit dem russischen Einfluss auf dem Balkan kämpfte. Als …
Ich erzähle Ihnen wo. Ich werde sogar nicht an das Jahr 1991 erinnern, als es bei uns noch eine komplett sowjetische, gerade für die erneuerte Union stimmende Bevölkerung gab, auf welche die Unabhängigkeit hereinbrach. Doch an das Jahr 1994 denke ich zurück. Ich denke daran zurück, dass die Mehrzahl der Ukrainer für Leonid Kutschma stimmte, der die Wiederherstellung der „traditionellen Verbindungen“, Gratisgas und eine „Mehrvektoraußenpolitik“ versprach, deren Wesen darin bestand, dass wir gemeinsam mit Russland den Westen übers Ohr hauen, um Kohle zu bekommen.
Ich möchte fragen, auf welcher Seite die ukrainische gesellschaftliche Meinung während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien war und auf welcher die westliche? Sie wissen selbst, auf welcher. Von Kroatien bis Kosovo unterstützten wir mit Russland Serbien und entrüsteten uns über das Vorgehen der Nato. Wenn nicht die das Regime Kutschma untergrabenden Skandale – von der Sache um Gongadse [im Jahr 2000 ermordeter Journalist, A.d.Ü.] bis zu den Koltschugas [Skandal von 2002 über angeblich im Jahr 2000 an den Irak gelieferte Radarsysteme, A.d.Ü.] – gewesen wären, würden wir bis heute in einem Staat leben, der beeindruckend an das benachbarte Belarus erinnern würde. Und der „Supermarkt“ hätte sich erweitert, ausgebaut und ja – hätte einen Weg auf neue Märkte gesucht und in diesem Sinne hätte Russland keinen Unterschied zu China für ihn gemacht.
2004 nach dem Sieg des Maidans, nach den Deklarationen über Demokratie und die europäische Orientierung, lief der ukrainische politische Kampf darauf aus, wer sich besser mit dem Kreml über die Gaslieferungen einige. Und als Präsident Juschtschenko bereits nicht mehr im Scherz, sondern ernsthaft versuchte Russland während des Krieges gegen Georgien herauszufordern – nun wenigstens eine propagandistische Kampfansage, verwandelte er sich aber sogleich in einen hoffnungslosen Außenseiter. Und auf der Bühne blieben nur er und sie, sich der Reihe nach Putin passend machend. Erinnern Sie sich daran, nicht? Erinnern Sie sich nicht, wie die Mehrheit der Bevölkerung im Jahr 2010 nicht für sie – nicht nur Russland, sondern auch den Westen abziehend – sondern für ihn stimmte, den davon überzeugten, dass die Ukraine ein Anhängsel des Donbass und der Donbass von Russland sei. Doch natürlich sollten die im Supermarkt unsere heimlichen Wünsche erraten, begreifen, dass wir hier zwar für Janukowitsch stimmen und in die Rada verschiedene der Asarows wählen, die fast hierher aus Moskau abkommandiert wurden, doch tatsächlich wollen wir sehr in die Europäische Union.
Ja, das Assoziierungsabkommen wollten wir unterzeichnen. Und die Verbindungen mit Russland dabei nicht abreißen lassen. Dass Putin vor Wut schäumte, das ist sein persönlicher Wahnwitz und nicht unsere Unbesonnenheit. Denn wir wollten weiter sehr auf zwei Stühlen sitzen. Sehr. Diesmal klappte es einfach nicht. Und die Regierung erwies sich als zu unzurechnungsfähig, fast eine russische. Doch was wäre gewesen, wenn Janukowitsch die Studenten nicht auseinanderjagen lassen hätte? Und die Hauptsache, was wäre, wenn Putin nach dem Maidan nicht angegriffen, sondern sich mit uns und der EU an den Tisch gesetzt hätte, um die Risiken des Assoziierungsabkommens zu diskutieren? Wie würden die soziologischen Befragungen über die Mitgliedschaft in der Nato aussehen, wenn sogar jetzt, vier Jahre nach Kriegsbeginn, fast die Hälfte der Bevölkerung überzeugt ist, dass wir da nicht hin brauchen? Wie würde die gesellschaftliche Stimmung aussehen, wenn sogar nach Kriegsbeginn ein großer Bevölkerungsteil für die Parteien Moskaus stimmt, glaubend, dass am Krieg die eigene und nicht die fremde Regierung schuld hat und dass der Krieg nur aufgrund der Schuld der eigenen Politiker fortgesetzt wird, die sich an diesem bereichern.
Wer wäre das Idol der Ukrainer, wenn gestern noch eine lokale Heldin dieser Held war, die als Erstes zu einem Treffen mit den russischen Marionetten im Donbass fuhr, nur dafür, um zu versprechen das Parlament zu erschießen. Und da, bemerken Sie, schreibe ich über den sogenannten patriotischen, bewussten Teil der Gesellschaft. Der nichtpatriotische und unbewusste wartet all diese Jahre ruhig auf einen neuen Janukowitsch, der einen Hrywnja-Kurs von acht macht.
Soll Europa ein Supermarkt sein, gut. Doch ist interessant, warum die Europäer unsere europäischen Bestrebungen berücksichtigen sollen, wenn es diese bei uns einfach nicht gab. Wenn wir bloß ein Nebengelass im anderen Supermarkt, dem russischen waren. Einfach ein Nebenraum, in dem die Gasgelder geteilt wurden und nicht mehr. Ja, natürlich gab es auch Leute, die anders dachten und das Land anders sahen. Doch sie waren niemals in der Mehrheit. Und sind übrigens auch jetzt nicht in der Mehrheit. Wenn das Wort „Kriegspartei“ in der Ukraine ein Schimpfwort ist, mit dessen Hilfe es gelungen ist die Umfragewerte eben der politischen Kraft zu versenken, in welche die Anhänger einer harten Position bezüglich Moskaus eintraten [gemeint ist die Volksfront von Ex-Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk und Innenminister Arsen Awakow, A.d.Ü.], wenn sich vielfältige Populisten darauf vorbereiten das Land im nächsten Jahr unter sich aufzuteilen, die bereit sind das Land nichtmal zum eigenen Vorteil, sondern aus eigener Dummheit zu verkaufen – warum sollen wir dann dem Westen Vorwürfe machen? Was hat das mit dem Zeitgeist zu tun?
Die Ukraine erinnert mich an eine Märchenschönheit, die unerwartet nach einem langen Schlaf geweckt wurde. Sie schlief und schlief, während alle anderen ihre Wahl trafen, sich änderten, zusammenschlossen, riskierten und kämpften. Und dann wachte sie plötzlich auf, doch nicht von einem Kuss, sondern von einem Schlag auf den Kopf. Und es weckte sie nicht der Märchenprinz, sondern ein blutrünstiges Monster. Die Schöne und das Biest – was für ein Stoff! Nur wussten alle übrigens schon lange, dass es ein Monster ist. Daher rannten sie vor ihm weg, kapselten sich mit einer Grenze, der EU-Integration und sogar der Nato ab. Und ja, jetzt können sie mit dem Monster handeln und koexistieren – solange es nicht in ihren Garten kriecht. Doch unsere Schönheit schlief die ganze Zeit und glaubte daran, dass es überhaupt kein Monster, sondern ein Prinz ist. Und fühlt sich von allen anderen sehr gekränkt, weil sie spät munter wurde.
Natürlich könnte man hier einen Punkt setzen: Das ist ein sehr effektives Finale. Doch der Leser sagt mir, dass Botschafter Schtscherba ein Handlungsprogramm anbietet und ich nur einfach bloßstelle. Doch ich versuche nicht einmal, gegen das Handlungsprogramm zu polemisieren. Es einfach umzusetzen ist einfacher, wenn du die Wahrheit über dich in der Vergangenheit und der Zukunft weißt. Eben deswegen, weil wir uns für den Zug der Zivilisation verspätet haben, müssen wir jetzt so schwer kämpfen und ausharren. Und eben weil wir uns verspäteten, können wir erneut das Land verlieren und zu unserer Lage des Nebengelasses des russischen Supermarktes bereits in einem Jahr zurückkehren.
Und unsere Hauptaufgabe ist es das nicht zuzulassen, unabhängig davon, ob das viele im Westen, in Russland und in der Ukraine selbst wollen. Denn eine weitere Chance das Land ans andere Ufer zu ziehen, werden wir bereits nicht mehr haben.
2. April 2018 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg