Je schlechter das Gedächtnis der Opfer, desto besser die Chancen der Erpresser


Vorweg erlaube ich mir eine kleine Chronologie der letzten Ereignisse:

1) Am 12.02 wird bekannt gegeben, dass ALLE strafrechtlichen Verfahren, in Rahmen derer die Vertreter der Ordnungskräfte für die Verprügelung von Leuten am 30.11, 1.12, 11.12 usw. theoretisch zur Verantwortung gezogen werden könnten, eingestellt werden. Sowohl die gegen konkrete Personen als auch die „nach Tatbestand“.

Das bedeutet, dass es keine Illusion einer Möglichkeit mehr gibt, dass die Schuldigen bestraft werden könnten – Auftraggeber, Organisatoren und Ausführenden der brutalen Verbrechen der Bullen, vermutlich Personen aus der Regierungsspitze. Wie die Regierung bekannt gab: Die Amnestie der Verbrecher ist voll und bedingungslos.

Wir wissen noch, dass das Gesetz über diese Amnestie Teil des Gesetzespakets gewesen war, dessen Verabschiedung die Menschen de facto zur Gewaltverwendung in der Hruschewsky-Straße veranlasste. Und selbst wenn die anderen Gesetze zurückgenommen wurden – über dieses Gesetz wurde am gleichen Tag erneut abgestimmt.

Das heißt, die Regierung machte maximal klar, dass eine der Bedingungen des „Waffenstillstandes“ die absolute Straffreiheit der Bullen und der Schuldigen für das Verprügeln der Demonstranten ist.

Ich als Rechtsanwältin der Opfer dieser Verbrechen wurde somit von Abgeordneten, Staatsanwälten und Richtern des letzten juristischen Instrumentes im Rahmen des ukrainischen Rechts beraubt. Ehrlich gesagt habe ich geglaubt, dass die Nachricht über die wiederholte Verabschiedung dieses Gesetzes den Waffenstillstand in der Hruschewsky-Straße sofort beenden würde.

Vielleicht bin ich einfach nachtragend, aber ich habe nicht vergessen, WARUM und WOZU Tausende von Menschen am 1.Dezember auf die Straßen gingen und dort blieben. Und nach Verabschiedung WELCHER GESETZE die Kämpfe in der Hruschewsky-Straße begannen. Aber wahrscheinlich habe ich ein enorm gutes Gedächtnis, denn viele tun so, als sei die Hauptbedingung der Kämpfer in der Hruschewsky-Straße die Befreiung der Geiseln gewesen.

Meine Lieben, Sie verwechseln hier Ursache mit Wirkung: Die Menschen stehen in der Hruschewsky-Straße nicht, weil die Polizisten Geiseln genommen haben, sondern umgekehrt: Die Geiseln wurden genommen, weil die Menschen in der Hruschewsky-Straße stehen.

Deshalb kann die Freilassung der Geiseln nicht die Bedingung für die Entsperrung der Hruschewsky-Straße sein.

2) Am 13.02 gibt der Staatsanwalt von Kiew öffentlich zu, dass eine große Gruppe von Untersuchungsrichtern und Staatsanwälten eine Straftat begangen hatten – § 147 des StGB (Geiselnahme), § 372 StGB (strafrechtliche Verantwortlichmachung bekannterweise unschuldiger Personen) etc. Dabei gibt er die Bedingungen für die Befreiung der „Hruschewsky-Geiseln“ und die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen gegen unschuldige Menschen bekannt: die Protestierenden sollen dafür Gebäude (Rathaus, Gewerkschaftshaus und Ukrainisches Haus – die Autorin informiert offenbar wissentlich falsch, da dem Gesetz nach nur die „staatlichen Verwaltungsgebäude“ geräumt werden sollen, somit fallen Gewerkschaftshaus und Ukrainisches Haus aus der Liste heraus, A.d.R.) räumen sowie einige Straßen entsperren, inklusive der Hauptstraße Chreschtschatyk und den Unabhängigkeitsplatz (Maidan).

Davon, dass man Milizionäre zur Verantwortung zieht, ist längst keine Rede mehr.

Diese Erklärung wird schon als etwas „Normales“ empfunden, und es fällt niemandem ein, dass die einzig normale Reaktion darauf die Registrierung dieser Erklärung im Register vorgerichtlicher Untersuchungen und Beginn einer solchen Untersuchung sein sollte…

3) Am 14. 02 werden fast alle übrig gebliebenen Geiseln freigelassen (wir erinnern uns – es geht um UNSCHULDIGE MENSCHEN). Sie werden zu Hausarrest verurteilt, und ihre Strafverfahren werden dabei NICHT GESTOPPT, sondern umgekehrt, in Untersuchungen um viel schwerere Paragrafen umgewandelt. Das bedeutet, dass man prozessrechtlich die Möglichkeit hat, sie jederzeit wieder in Haft zu nehmen.

4) Am 14.02 (14.30 Uhr) machte der Anführer des „Rechten Sektors“ Dmytro Jarosch folgende Erklärung: „Heute sind alle Geiseln entlassen. Das Rechte Sektor ist bereit, die Sperrung der Hruschewsky-Straße zu beenden. Wir fordern auch, die Strafverfahren gegen die Protestierenden einzustellen.“

Keine Rede von der Verantwortung der Bullen für die vorigen und aktuellen Verbrechen. Die Vorstellung von der „Entlassung der Geiseln“ ist auch etwas eigenartig.
Was bleibt, ist das Versprechen, die Hruschewsky-Straße zu entsperren…

5) Am 14.02 (16.00 Uhr) trifft die Partei Swoboda (Freiheit) die Entscheidung, das Rathaus zu verlassen. Die Menschen fangen an zu packen… Der Swoboda-Chef Tjahnybok spricht auf einer der Barrikaden von der Notwendigkeit, das Rathaus und die Hruschewsky-Straße freizugeben.

Wenn nun der „Rechte Sektor“ und die Partei Swoboda ihre Versprechen der Regierung gegenüber einlösen und niemand etwas dagegen unternimmt, bekommen wir folgendes:

Vielleicht lohnt es sich, daran zu denken, WARUM die Menschen so zahlreich am 1. Dezember protestierten? Dass das Rathaus gerade an dem Tag besetzt wurde?

Vielleicht lohnt es sich daran zu denken, dass KEINE FORDERUNG, inklusive der wichtigsten – die an dem Massaker vom 30.11 schuldigen zu bestrafen – NICHT ERFÜLLT WURDE?

Umgekehrt! Seitdem wurden von der Regierung WEITERE VERBRECHEN BEGANGEN, für die auch NIEMAND zur Verantwortung gezogen wurde. Im Moment sind alle juristischen Mechanismen solcher Bestrafung von der Regierung einfach ABGESCHAFFT worden.

Vielleicht sollten wir konsequent sein?

Vielleicht sollte nicht die Partei Swoboda allein entscheiden, ob man das Rathaus räumt oder nicht?

Vielleicht sollte nicht nur das Rechte Sektor entscheiden, wann und unter welchen Bedingungen die Barrikaden in der Hruschewsky-Straße abgebaut werden?

Vielleicht sollten wir ein wenig mehr in Erinnerung behalten als nur die letzten Verbrechen? Vielleicht sollten wir selbst die Initiative in den Verhandlungen übernehmen? … Natürlich nur, wenn wir sehen, dass es sich lohnt, diese Verhandlungen zu führen.

Und zum Schluss eine persönliche Bitte: Sollte ich mal inhaftiert werden, zu einem solchen Preis möchte ich bitte nicht befreit werden.

15. Februar 2014 // Jewhenija Sakrewska, Rechtsanwältin

Blogeintrag bei der Ukrajinska Pravda

Übersetzung: Olha Sydor

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