Das Schweigen der Charkiwer: Die Region hat sich von Russland abgewendet, bislang aber noch keinen Gefallen an Europa gefunden
Auf einer fiktiven Karte zur europäischen Integration in der Ukraine wäre Charkiw die Stadt, die zwei bisweilen unvereinbare Erscheinungen vereint. Einerseits ist die Stadt der äußerste Vorposten, der sich im Jahre 2014 gegen die hybriden Attacken aus Russland stellte, andererseits eine attraktive Stadt auch für Russen, die in großen Zahlen nach Charkiw auf Urlaub oder zum Einkaufen kommen, besonders auf den Barabaschowa-Markt. Sie ist eine aufstrebende Stadt, mit Universitäten, Bildungseinrichtungen und einer Intelligenzija samt intellektueller Tradition, von Jurij Scheweljow bis Serhij Zhadan, und gleichzeitig postsowjetisch-industriell.
Den Ergebnissen der letzten Umfrage der soziologischen Gruppe “Rating” zufolge ist Charkiw die nach Sjewjerodonezk und Mariupol euroskeptischte Stadt der Ukraine: in Charkiw befürworten lediglich 32 Prozent der Bevölkerung einen Beitritt zur Europäischen Union.
Damit überwiegen die Befürworter nur um wenige Prozentpunkte die 27 Prozent, die für einen Beitritt zur Zollunion sind.
Das “Phänomen des Schweigens” und die fehlende Kommunikation
Wichtig ist es weiters zu unterstreichen, dass sich im Vergleich zu Umfragen vor dem Krieg der Zuspruch zur europäischen Integration im Gebiet Charkiw nicht veränderte – Umfragen aus dem Jahr 2013 bezeugen eine ähnliche Anzahl an Befürwortern des EU-Beitritts der Ukraine.
Gleichzeitig führte der Konflikt mit Russland sowie der Rückgang der pro-russländischen Stimmung im Vergleich zu 2013 nicht zu einem Wachsen der Befürworter der europäischen Integration – sondern veränderte sich zugunsten derer, die keine Antwort auf die Frage nach den Ausrichtungsprioritäten der Stadt Charkiw geben können. Diese machen etwa ein Drittel aus.
Diese Unbestimmtheit, oder das “Phänomen des Schweigens”, ist eine in den grenznahen Regionen von Charkiw, Donezk und Luhansk – und auch bei Binnenflüchtlingen – zu beobachtende Erscheinung. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass der Befragte keine Meinung hat, sondern eher, dass aufgrund bestimmter Gründe (Misstrauen, Angst, etc.) er oder sie von einer Artikulation der Meinung Abstand nimmt.
Dass alle eine Meinung haben, bezeugt nicht zuletzt, dass die Befragten nicht zugunsten einer europäischen Integration, wenn nach dem Beitritt zur EU beim Referendum gefragt wird, stimmen – diese rund 32 Prozent “für”-Stimmen stehen 49 Prozent, die dagegenstemmen würden, gegenüber.
Das heißt aber im Gegenzug auch nicht, dass der Wunsch der überwiegenden Mehrheit ist, die Ukraine in einer Union mit Russland zu sehen. Das deuteten die Teilnehmer einer Diskussion, welche das Zentrum “Nowa Europa” am 5. April ausgetragen hat.
“Ein nicht-europäisches Charkiw ist nicht zwangsweise ein pro-russisches Charkiw.”
Darin sind sich die Charkiwer – sowohl der Meinung der Autoren nach als auch Resultaten der Umfragen zufolge – einig: sie würden gerne mehr Informationen über die EU und die europäische Integration erhalten. Denn der Bericht über die Implementierung des Assoziierungsabkommens im Gebiet Charkiw, welcher auf Anfrage des Zentrums “Nowa Ewropa” von der Stadtverwaltung erstellt wurde, erhält keine Erwähnung über Kommunikationsarbeit zu Themen der europäischen Integration vonseiten lokaler Behörden.
Gleichzeitig wünschten sich im Jahre 2016 77 Prozent der Charkiwer eine bessere Informationslage zu diesem Thema, die Teilnehmer der Diskussion vom 5. April zeigten auf, dass einer der Haupthindernisse der europäischen Integration im Gebiet Charkiw die Unwissenheit über die EU-Integrationsreformen ist.
Momentan wird all die Aufklärungsarbeit in Bezug auf die EU-Integration in Charkiw von einigen NGOs sowie der informellen Gruppe “Team Europe”, die sich aus einigen Experten aus verschiedenen Sphären zusammensetzt, betrieben.
Auch das Phänomen des Schweigens beobachtete “Nowa Ewropa” schon früher – bei der Analyse der Daten einer soziologischen Befragung von jungen Menschen. Am häufigsten trat es bei den Antworten der Befragten zu ihrer Meinung in Bezug auf Russland in Erscheinung.
Die Befragten im Osten und Süden verweigerten zumeist eine Antwort – zeitweise lag dies bei etwa 60 Prozent. Im Kontext der nächsten, sowohl Präsidenten- als auch Parlamentswahlen, könnten die derzeitigen “Schweiger” ein unerwartetes Ergebnis bringen: je tiefergreifend das Interview während der Fokus-Gruppe durchgeführt wurde, desto häufiger hatten die Befragten politische Kräfte, die keiner pro-europäischen oder reformorientierten Orientierung waren, unterstützt.
“Putin und Poroschenko – das ist alles gleich”, “Im Donbass wäscht die ukrainische Regierung Gelder”, “Die Ukraine ist selbst an der Annexion der Krim schuld” – solche Slogans werden immer häufiger von Politikern zum Zwecke kurzfristiger Umfragehochs verwendet.
In Kiew, so scheint es, ist man sich der Ernsthaftigkeit der Verbreitung solcher Ideen, die Bestandteil der russländischen Informationsmaschinerie sind, nicht bewusst.
Desillusion der “Eurointegration”, aber nicht der EU
Man kann nicht leugnen, dass die Charkiwer enttäuscht sind – nicht von der EU als solcher, sondern von denen, die europäische Reformen implementieren oder implementieren sollten, wenn man die Eurointegration als Synonym für staatlichen Aufbau und Entwicklung versteht.
Lediglich 13 Prozent der Charkiwer denken, dass die Angelegenheiten im Land in die richtige Richtung gehen. Auch wenn sie die Integrationsprozesse und den Stand der Dinge im Staat nicht gleichsetzen, kann man mit Sicherheit sagen, dass die Enttäuschung in Politiker, die integrationsfreundliche Slogans benutzen, zu einer Enttäuschung in die europäischen Integration als solcher und einer Korrosion ihrer Inhalte führt.
Gleichzeitig ist Charkiw im Ranking der Unterstützung der örtlichen Behörden vorne: mit der Arbeit des Bürgermeisters Hennady Kernes sind 75 Prozent (!) der Bevölkerung Charkiws zufrieden und 55 Prozent bewerten, dass die Politik in der Stadt in die richtige Richtung geht (nur von Winnyzja und Iwano-Frankiwsk übertroffen). Es entsteht der Eindruck, dass die Chefs der städtischen und Gebietsverwaltungen wesentlich mehr Bemühungen in das Wachsen ihrer eigenen Popularität stecken, als in die Kommunikation der Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts unter der Bevölkerung.
Deshalb verbinden wenige die Erfolge der Stadt mit europäischer Integration.
Einer der herausstehendsten “Siege” der lokalen Administrationen ist die Situation um die Entscheidung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zur Zuweisung eines Kredits für den Bau zweier U-Bahn-Stationen in Charkiw, die die Bewohner als besonderen Erfolg ihres Bürgermeisters sehen. Und eine der Haupterrungenschaften, interessant für gewöhnliche Ukrainer – die Visumsfreiheit – ist für Charkiwer weit weniger spürbar als für die Bewohner der westlichen Regionen.
Zuletzt, obwohl in Charkiw seit dem Jahr 2016 ein Regionalbüro der EU-Beratermission (EUAM) aktiv ist sowie eine ganze Reihe von Sicherheitsprojekten mit der Stadtregierung durchgeführt wird, dringen Informationen weder zu den Bürgern und noch nicht mal zu Experten – die Mission priorisiert nicht die Öffentlichkeitsarbeit und die EUAM tritt eher passiv in Erscheinung, sowohl am Bürostandort in Charkiw als auch auf ihrem Webauftritt.
Unter den für Charkiwer spürbaren Reformen findet sich etwa die Errichtung von ZNAP (Zentren für administrative Dienstleistungen, in Charkiw seit 2013 eingerichtet, vgl. mit Bürgerämtern, A.d.Ü.), obgleich sie diese weder mit EU-Integration noch einer Unterstützung durch den Westen in Verbindung bringen (es ist wichtig anzumerken, dass die Reform finanziell von den USA unterstützt wurde).
Sicherlich haben von allen Bevölkerungsschichten Charkiws Personen mit hoher Bildung den größten Zugang und Vorteil aus der europäischen Integration. In den Jahren 2015-17 war die nach Fördervolumen größten Programme der EU, die im Gebiet Charkiw implementiert wurden, das Programm Erasmus+ zur Förderung akademischen Austausches und das Programm für wissenschaftliche Forschung HORIZON 2020, in denen einige Charkiwer Universitäten teilgenommen haben.
Investitionen und Handel
Auf wirtschaftlicher Ebene der Europäischen Integration des Gebietes Charkiw gibt es sowohl gute als auch schlechte Neuigkeiten. Eine vorbehaltlos positive Tendenz ist, dass besonders das Handelsvolumen mit der EU wächst und nun größer als zur Zeit vor dem Krieg ist (bis 2013). Ein Viertel des Gesamtexports besteht etwa aus gefertigten Maschinen (im Jahre 2012 waren das lediglich neun Prozent).
Obwohl nach Gesamthandelsvolumen die EU Hauptpartnerin des Gebietes ist, ist nach wie vor Russland ein wichtiges Ziel für den Export Charkiwer Produkte (25 Prozent des Exports geht nach Russland, im Vergleich dazu 20 Prozent in die EU).
Die “Erfolgsgeschichte” der Charkiwer Exporteure in die EU betrifft vor allem die großen Unternehmen – “Sawod Piwdenkabel”, “Turboatom”, Charkiwskyj traktornyj sawod”, “Wowtschanskyj ahrehatnyj sawod”, etc., die sich auf den europäischen Markt umorientieren konnten. Weitere anschauliche Beispiele sind etwa das Druckerei-Unternehmen “Faktor-druk”, das Bestellungen aus vielen europäischen Ländern erhält oder die Firma “Brih”, die Schlauchboote fertigt.
Kleine und mittlere Betrieb jedoch versuchen erst schrittweise die Vorteile im Handel, die durch das Assoziierungsabkommen gegeben sind, zu nutzen. Ein Stolperstein für viele Firmen ist momentan das Erlangen der nötigen Zertifikate. Im Charkiwer Büro der European Business Association (EBA) hebt man hervor, dass sie derzeit eine große Anzahl von Anfragen um Hilfe zu Zertifizierungen bekommen und mehrere Informationsveranstaltungen pro Woche durchführen.
In Bezug auf Investitionen ist das Bild trostlos: den letzten Daten des Charkiwer Statistikamts zufolge sind die direkten Investitionen in die Wirtschaft des Gebiets im Jahr 2017 um fast ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen. Die Hauptinvestoren aus der EU, aus denen die überwiegende Mehrheit der Gelder kommt, sind Zypern, Großbritannien und die Jungferninseln.
Allgemein aber kommen europäische Unternehmen nicht direkt aus dem Ausland nach Charkiw, sondern von innerhalb des Marktes – also solche, die bereits in der Ukraine aktiv sind.
Etwa die Firma Nestlé, die im Jahr 2018 über ihr Vorhaben bekanntgab, in den Wiederaufbau und die Modernisierung der Charkiwer Fabrik “Miwina” zu investieren. Auch ist es wichtig zu unterstreichen, dass es unter den bereits im Gebiet Charkiw aktiven europäischen Firmen keine Tendenzen gibt, den Markt zu verlassen – trotz des Konflikts im Osten sind seit dem Jahr 2014 keine Mitglieder der EBA aus der Vereinigung ausgetreten.
Unter allen Mitgliedstaaten der EU erhalten die Charkiwer Unternehmen die meiste Unterstützung von Deutschland und Frankreich (Letzterer widmet die meiste Aufmerksamkeit Kulturprojekten). Beide Länder unterhalten in Charkiw Generalkonsulate und der Vorstandsvorsitzende der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer Alexander Markus besucht die Stadt häufig und mit der Unterstützung der Organisation werden Informations- und Vernetzungstreffen abgehalten.
In Charkiw wird auch eine Reihe von Projekten durch die Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführt.
Was behindert die Integration in die EU? Gedanken der Opinion Leader
Das Zentrum “Nowa Ewropa” führte eine Expertenbefragung unter Charkiwer Aktivisten, Analytikern, Journalisten und Politikern durch, wobei 53 Teilnehmer des runden Tisches teilnahmen. Die Befragten bewerteten die europäische Integration in der Region Charkiw mit 2,6 Punkten (von 5). Interessant ist hierbei, dass keiner der Teilnehmer eine Fünf gegeben hat.
Als Haupthindernisse am Weg zu einer EU-Integration wurden genannt: Korruption (32 Personen); die Unverständlichkeit des Wesens der Integrationsreformen (30); die Inkompetenz und der Widerstand der örtlichen Macht (28); die Erhaltung postsowjetischer Praktiken (25); die Passivität der Bevölkerung (23). Interessant ist, dass die Meinungen der Experten sich von den generellen Trends unterscheiden: Die Mehrheit der Charkiwer unterstützt im Großen und Ganzen die örtliche Regierung. Eine andere Problematik ist auch, dass nur wenige diese Administration mit EU-Integration in Verbindung bringen.
Genannt wurden als Hauptmotoren für die Integration auf Gemeindeebene die NGOs (43); Vereinigungen Wirtschaftstreibender (29); lokale Verwaltung (23). Die letzte Antwort offenbart ein Paradox: einerseits zählen die Befragten die Inkompetenz der lokalen Verwaltung als Barriere für eine europäische Integration, andererseits ist die lokale Verwaltung selbst eine zentrale Kraft der Integration.
Was halten die Charkiwer für die Hauptindizien der Eurointegration? Vor allem der effektive Kampf gegen die Korruption (36 Personen); den Schutz der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten (31); hohe Lebensstandards (26); soziale Sicherheit (16).
Und daher kann das Vorgehen der Staatsmacht gegen die Korruption zum Hauptindikator für die EU-Annäherung der Ukraine werden. Derweilen konzentriert sich der Kampf gegen die Korruption nur auf vereinzelte Aktivisten und einige Oppositionspolitiker.
17. April 2018 // Kateryna Sarembo, Serhij Solodkyj, Zentrum “Nowa Ewropa”
Quelle: Jewropejska Prawda