Seine Majestät Se[lenski]


Das Coronavirus hat die Pläne der Machthabenden in der gesamten Welt gestört. Und auch die Abstimmung der Nachbarn zur Nullsetzung der Amtszeiten von Putin findet nicht im April statt, sondern später.

Den russischen Führer vergleicht man freudig mit einem Zaren und nach der Umarbeitung der Verfassung werden derartige Vergleiche noch häufiger. Tatsächlich gibt es eine Nuance, die oft aus dem Blick gerät.

Eine wirkliche Monarchie ist nicht nur eine Alleinherrschaft, sondern in der Regel auch eine vererbte Herrschaft. Eine Herrschaft, die per Definition vergeben wird.

Eine Herrschaft, die keinen ermüdenden und erniedrigenden Aufstieg aus dem Dreck zum Fürsten vorsieht. Und bei Präsident Putin ist aus der persönlichen politischen Anamnese das Tragen von Koffern der Petersburger Stadtherren nicht zu streichen.

Der derzeitige Kreml-Herr kann sich selbst als Reinkarnation Iwan des Schrecklichen, Nikolai I. oder Alexander III. sehen. Doch von allen russischen Alleinherrschern ist WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin] höchstens mit dem Sohn des Wjasmaer Grundherren Boris Godunow vergleichbar, der sich dank administrativer Beflissenheit und moralischer Flexibilität nach oben kämpfte.

Die wirklichen Erbmonarchen aus den Rjurikiden und Romanows sind Wladimir Wladimirowitsch nicht gleichrangig.

Das Paradox besteht darin, dass diese Rolle auf den ukrainischen Kollegen Putins wesentlich besser passt.

Seinem psychologischen Charakter nach ist Präsident Se[lenski] eben den Idealen des klassischen Monarchen nahe.

In der Zeit, die seit dem April 2019 vergangen ist, konnten sich davon alle überzeugen. Faktisch geriet an die Spitze des Staates ein stereotyper König, als ob er auf der Bankowaja [Präsidentensitz, A.d.Ü] aus den Romanen Dumas oder den Theaterstücken von [Jewgeni] Schwarz erschienen wäre.

Ja, der erfolgreiche Showman Selenski kam aus dem einfachen Volk und war aus eigenen Kräften erfolgreich. Doch Selenski als Präsident wurde zu einem Prinzen auf dem weißen Ross, der seine Lage von Selenski, dem Shoman geerbt hat.

Wiedererkennbarkeit, Popularität, Vertrauen der Landsleute, himmelhohe Umfragewerte: all das kam zum neugeborenen Politiker Se[lenski] aus dem vergangenen Leben.

Kam als Gegebenheit, die von Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] keinerlei merkliche Anstrengungen und Fähigkeiten erforderte, die in der politischen Laufbahn zu zeigen sind. Es flog ihm zu, wortwörtlich wie die Königskrone, die wegen des Geburtsrechts erhalten wurde.

Die Erbmonarchie brachte jahrhundertelang unerfahrene und unfähige Leute an die Macht. Unsere Wahlen voriges Jahr hatten den gleichen Effekt.

Es ist nicht verwunderlich, dass viele vor einem Jahr noch über den Übergang der Ukraine zu einer parlamentarischen Republik philosophierten und dem Dilettanten Se[lenski] die Rolle einer englischen Königin vorhersagten. Doch, entgegen den Prognosen, wurde eben die Bankowaja zum Entscheidungszentrum.

Wladimir Selenski erwies sich als absoluter Monarch – mit den typischen Mängeln und Vorzügen.

Beginnen wir mit dem Positiven. Sogar die Kritiker gestehen Präsident Se[lenski] zu kein schlechter Mensch zu sein und heben seinen Idealismus hervor, der uncharakteristisch für das postsowjetische Politikum ist.

Diese Unverdorbenheit eint Wladimir Alexandrowitsch mit gekrönten Personen der Vergangenheit: Franz Joseph I., Alexander II. oder Friedrich Wilhelm III. brauchten sich nicht in Karrierismus und Korruption üben, um nach oben zu gelangen.

Ähnlich den wohlgesinnten Monarchen vermied Selenski die negative moralische Auslese.

Leider Gottes umging Selenski ebenso eine positive professionelle Auslese und das ist ebenso typisch für gekrönte Häupter, die aufgrund des Willens des Schicksals auf den Thron gerieten.

Der derzeitige ukrainische Führer befindet sich sogar in einer schlechteren Lage als die Erbprinzen, die dennoch auf die zukünftige Mission vorbereitet wurden, obgleich nicht immer erfolgreich.

Die Präsidentschaft des ehemaligen Komikers wird üblicherweise als einzigartiger Präzedenzfall angesehen.

Doch wird er weniger einzigartig, wenn man die Regierung von Se[lenski] nach den Maßstäben des XVIII. bis zum Beginn des XIX. Jahrhunderts bewertet. Einer Epoche, als in Europa noch die absolute Monarchie überwog und die neue Zeit bereits Herausforderungen gebar, mit denen die Träger der Erbherrschaft gewöhnlich nicht fertig wurden.

Inkompetente, doch dabei unbeschränkte Herrscher, die überall ihr Personal mit entsprechenden Eigenschaften und Willensqualitäten komplettierten. Favoriten, Übergangsgestalten, mächtige Verwalter, die hinter sich ein Führungsvakuum hinterließen.

Graf Struensee unter Christian VII. (Dänemark), Marquês de Pombal unter Joseph I. (Portugal), Manuel de Godoy unter Karl IV. (Spanien), John Acton unter Ferdinand IV. (Neapel).

Joseph Oppenheimer unter Karl Alexander (Württemberg) … Diese historische Liste ist umfangreich – und Bogdan und Jermak würden in dieser völlig natürlich wirken.

Die Ukraine von Se[lenski] wurde in die Dekoration einer zweihundert- bis dreihundertjährigen Vergangenheit verlegt. Es triumphieren Favoritentum und Hofintrigen.

Der Zusammenstoß verschiedener Gruppierungen, die formal seiner Majestät die Treue schworen, doch entgegengesetzte Interessen verfolgen. Der verbissene Kampf um den Zugang zu den Ohren des Monarchen. Freudige Hoffnungen und bittere Enttäuschungen.

Die Liebäugelei Selenskis mit den Jungreformatoren hat nicht weniger elektrisiert, als die Ankunft irgendeines Turgot, des Lieblings der Gelehrten und Philosophen, der von Ludwig XVI. Ernannt wurde, doch bereits nach 20 Monaten in Ungnade fiel.

Eine Stärkung Awakows wirkt genauso beängstigend, wie die Erhöhung irgendeines Birons unter Anna Iwanowna oder Araktschejew unter Alexander I.

Und einzelne Figuren aus dem Umfeld von Se[lenski] beginnen als böse Dämonen zu erscheinen, die den Herrscher vom wahren Weg abbringen. „Eine arrogante Übergangsgestalt, sowohl hinterhältig als auch heimtückisch, ein listiger Schmeichler des Monarchen und undankbarer Freund.“ [Zitat aus dem Gedicht des Dekabristen Kondrati Rylejew „An die Übergangsgestalt“ (1820). A.d.Ü.]

Der König bestimmt nicht die eigene Tagesordnung, doch segnet er die fremde. Das beste und schlechteste, wozu er in der Lage ist – einer der Hofparteien grünes Licht zu geben.

Das niedere Volk kann vom König Heldentaten erwarten, doch das sachverständige Publikum erwartet von seiner Hoheit lediglich eines: eine Wahl.

Reformen oder Reaktion. Liberale oder Konservative. Patrioten oder Kapitulanten. Zusammenarbeit mit dem IWF oder Kolomoiski mit Staatsbankrott.

Der Gerechtigkeit halber heben wir hervor, dass Selenski sich, mit der harten Notwendigkeit zu wählen konfrontiert, als nicht derart hoffnungslos erweist, wie es viele vor einem Jahr beschrieben.

Doch das was Wladimir Alexandrowitsch wirklich gelingt, ist sich von der regierenden Kaste in den Augen der Bevölkerung zu distanzieren. Sich selbst – den tugendhaften Monarchen – den untüchtigen und unreinen Würdenträgern gegenüberstellen.

Natürlich, das Spiel des guten Zaren und der schlechten Bojaren versuchten viele ukrainische Präsidenten zu beherrschen, doch bei Selenski klappt es um einiges natürlicher als bei irgendjemanden seiner Vorgänger.

Und die persönlichen Umfragewerte von Se[lenski] fallen langsamer, als zu erwarten gewesen wäre, wenn man die größer werdenden einheimischen Unbilden berücksichtigt. Es reicht auf die kürzliche Umfrage zur Effektivität der ukrainischen Bekämpfung des Coronavirus zu schauen.

Die Handlungen des Ministerpräsidenten bewerteten 30 Prozent positiv, die Anstrengungen des Innenministeriums – 37 Prozent, die Bemühungen des Gesundheitsministeriums – 38 Prozent. Dafür halten den Präsidenten ganze 56 Prozent der Befragten für einen effektiven Epidemiebekämpfer.

Nun, das ist bei weitem nicht die Grenze: in eben jenem Frankreich herrschte jahrhundertelang der Glaube an ein „Königswunder“ – die Fähigkeit seiner Majestät mit einem einfachen Handauflegen Skrofulose zu heilen.

Das Heilungsritual hielt sich bis ins XIX. Jahrhundert. „Der König berührt dich, der Herr heilt dich.“

Es ist ein wenig schade, dass die modernen medizinischen Sichtweisen Wladimir Selenski keine derartige Möglichkeit lassen!

12. April 2020 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1135

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