Wolodymyr Selenskyj hat das Präsidentenamt der Ukraine seit 100 Tagen inne. In dieser Zeit gewöhnte er das Land an einen neuen Regierungsstil. Das Staatsoberhaupt trägt keine Krawatten, kommuniziert mit den Bürgern über Videobotschaften, jagt Beamte aus Beratungen und fordert Geld von Politikern für die Reparatur von Straßen. Doch mit dem Inhalt, dem sich die Regierung widmete, schreibt Selenskyj die ukrainische politische Tradition organisch fort – Posten werden an Freunde vergeben, Gesetze zum eigenen Vorteil ausgelegt (oder zum Vorteil von Andrij Bohdan) und die Ovationen der Wählerschaft mit populistischem Verhalten erkämpft.
„Grüne“ Kader
Dass der neue Präsident nach alten Regeln spielen wird, wurde bei der ersten Postenvergabe in der Administration klar. Eigentlich sollte diese Struktur ausschließlich Büro des Staatsoberhauptes sein, aber im Lande Se[lenskyj] wird sie zum Zentrum der Beschlüsse fast aller wichtigen Entscheidungen. Hier werden Parteilisten beschlossen, die Ministerpräsidenten-Kandidatur oder zukünftige Formeln für „Rotterdam+“ [Methode zur Berechnung von Energiepreisen = Preis im Hafen von Rotterdam plus Transportkosten in die Ukraine, A.d.Ü.]. Genau deswegen gibt es diese Aufmerksamkeit seitens der Medien für die Mitarbeiter des Präsidentenbüros.
Selenskyj hat für die Suche nach Kandidaten keinen Personalbeschaffungsservice eingeschaltet, sondern sich die langjährigen Berater des „Kwartals“ [TV-Produktionsgesellschaft von Selenskyj, A.d.Ü.] als Helfer genommen – Serhij Schefir, Jurij Kostjuk, Serhij Trofimow. Seinen Geschäftspartner Iwan Bakanow machte er zum einstweiligen Kopf des Geheimdienstes SBU. [Inzwischen wurde Selenskyjs Jugendfreund zum regulären Chef gemacht, A.d.R.]
Es hat Symbolkraft, dass der Jurist Ihor Kolomojskyjs das leitende Amt in der Administration eingenommen hat. Wie man in der Umgebung des Präsidenten gegenüber LB.ua erklärte, suchte Selenskyj eine Person, die den Saustall der ukrainischen Korruption ausmisten könnte. Und zu der Zeit als das Selenskyj-Team an die Macht kam, war Andrij Bohdan wenn nicht gar der Einzige mit den entsprechenden Kompetenzen, dem der Präsident vertraute. Zugunsten dieser Besetzung missachtete Selenskyj das Lustrationsgesetz und benannte die Administration in Büro um, damit Bohdan nicht mehr unter jenes Gesetz fällt; Warnungen seitens der USA ignorierte er. [Bohdan bekleidete unter Präsident Janukowytsch einen führenden Posten und hätte nach dem Säuberungsgesetz den Posten des Präsidialamtschefs nicht erhalten dürfen. A.d.R.]
Bohdan wird zum Blitzableiter von Selenskyj. Der Büroleiter des Präsidenten führt sogar einen öffentlichen Krieg mit dem Stadtoberhaupt von Kyjiw, Witalij Klytschko [international unter seinem russischen Markennamen Vitali Klitschko bekannt, A.d.R.]. Das Präsidentenbüro möchte wahrscheinlich Szenarien, wie sie unter Wiktor Janukowytsch stattgefunden haben, wiederholen: die Entscheidungsbefugnis des Oberhauptes im Kiewer Stadtrat und der Stadtverwaltung aufteilen, seine Leute für die Leitung der Administration einsetzen (unter den Kandidaten sind der Ex-Generaldirektor von „1+1“ Olexander Tkatschenko und der Skandalbauherr Andrij Warwisch) und so dem Bürgermeister die Hände binden.
Es ist Bohdan selbst, der in Dnipro hinter Selenskyjs Rücken steht, als der Präsident das Stadtoberhaupt Borys Filatow zwingt zu versprechen, dass dieser zurücktritt, wenn er die Brücke nicht repariert. [Filatow wurde zu einer Wette gezwungen, nach der er zurückzutreten hätte, wenn er nicht bis zum Tag der Stadt Dnipro Anfang September eine Brücke fertigstelle. Filatow gewann die Wette. A.d.R.]
Vorgezogene Wahlen sind für andere Bürgermeister beim Büro des Präsidenten ein kräftiges Argument. Und dieses können sie seit dem 29. August anwenden.
Perspektivisch kommt die Ernennung von Andrij Bohdan Selenskyj vielleicht teuer zu stehen. Wenn den Wählern die Haltung des Leiters des Präsidentenbüro gegenüber den Medien und der Verbreitung der Falschmeldung über seine Entlassung auch nicht so wichtig ist, dann ist Saint-Tropez bereits eine Geschichte mit ganz anderem Beigeschmack für die Wähler. Luxuriöse Restaurants, die Hymne mit halbnackten Mädchen in Begleitung eines „Aufpassers“ vom Justizministerium können die Flitterwochen des Präsidententeams verschärfen. [Bohdan nahm am ukrainischen Unabhängigkeitstag am 24. August an einer Hochzeitsfeier im französischen Saint-Tropez teil, A.d.R.]
Skandalöse Ernennungen setzten sich auch auf Regionalebene fort.
Nach Selenskyjs Dünken sollte der Geschäftsmann Andrij Andrejtschykow die Region Odessa leiten, der gesetzeswidrig mit Metallschrott mit der nicht anerkannten Region Transnistrien gehandelt hat. Andrejtschykow ist nach den Worten von Andrij Bohdan „irgendein Kollege von Wolodymyr Olexandrowytsch [Selenskyj, A.d.Ü.]. Irgendwo war er beteiligt bei einem Geschäft.“ Wegen der Resonanz wurde die Ernennung verworfen und „ein Wettbewerb ausgerufen“ – so hieß es in den sozialen Netzwerken.
Die Donezker Oblast führte der Militärstaatsanwalt Pawlo Kyrylenko, dessen Bruder an der Seite der Kämpfer der „Donezker Volksrepublik“ kämpft. Während der Präsident im ersten Fall auf die Warnungen der Öffentlichkeit gehört hat, hat er im zweiten Kyrylenko einfach ernannt.
„Pascha [Pawlo, A.d.Ü.] hat dort Familie: da sind seine Eltern, sein Bruder. Wir alle verstehen, in welcher Zeit wir gerade leben. Die Eltern leben dort, sie fühlen sich als Ukrainer, wollen nirgendwohin umziehen. Pascha hat es ihnen angeboten. Es ist ihre Entscheidung. Mit seinem Bruder redet er nicht wegen politischer Meinungsverschiedenheiten“, erklärte der Präsident seine Entscheidung.
Den Fakt, dass neue Gesichter alte Traditionen fortsetzen, bezeugt auch die Parteiliste von „Sluha Narodu“. Aus der Partei des Präsidenten ziehen Mitarbeiter von „Kwartal“, Medienschaffende von Kolomojskyj und Kameraden von Selenskyj ins Parlament ein. Wie viel traditioneller geht es noch?
Doch zum Ausgleich lohnt es sich, die Neuerungen des Kaders im Block der Gewaltorgane anzuschauen. Freiwillige und Veteranen bewerteten die Ernennung von Ruslan Chomtschak zum Leiter des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte als positiv genau wie die von Serhij Dejnek zum Leiter des Staatlichen Grenzschutzdienstes.
Dekrete aus der Geschichte
Von seiner Gesetzesinitiative machte Wolodymr Selenskyj in den ersten 100 Tagen sehr unaufgeregt Gebrauch. Das alte Parlament, dem neuen Staatsoberhaupt nicht sehr zugetan, beeilte sich nicht, die Immunität aufzuheben und sich selbst zu lustrieren (der Gesetzentwurf über die Lustration der Postmajdan-Regierung sieht eher aus wie Wahlkampf-PR von „Sluha Narodu“).
Dokumente, die der Präsident herausgibt, betreffen überwiegend technische oder personelle Fragen. Am 21. Juni setzte Wolodymyr Selenskyj 161 Dekrete außer Kraft, die vor allem noch im letzten Jahrhundert verabschiedet worden waren.
„Das sind Dekrete, die sich in die Wirtschaft einmischen, heute sind sie ungültig. Das ist alles schon Geschichte“, erklärte Selenskyj damals seine Entscheidung.
Zu dieser „Geschichte“ gehört die Verstärkung des Kampfes gegen Spekulation und gesetzeswidrige Handelstätigkeiten, die Zahlung von Staatszöllen auf Blankowechsel, die Schuluniform, die Strafen für Missachtung der Kassendisziplin und die Blaulichter auf den Autos von Beamten.
Selenskyj vereinfacht die Vergabe der Staatsbürgerschaft für Ausländer, die an der Front gekämpft haben, und gibt Veteranen ukrainische Pässe durch gesonderte Dekrete. Die Russin Julija Tolopa zum Beispiel, die im Bataillon „Ajdar“ gewesen ist, konnte im Laufe von fünf Jahren keine Staatsbürgerschaft bekommen und war sogar von einer Rückkehr nach Russland bedroht. Nun hat sie einen ukrainischen Pass.
Das Lukaschenko-Spiel
„Ich bin bereit zu unpopulären Entscheidungen, bereit meine Beliebtheit zu verlieren“, erklärte Selenskyj zu seiner Amtseinführung.
Und während die Mehrzahl seiner Taten das Gegenteil bezeugt, macht Wolodymyr Selenskyj alles mögliche, um Beifall zu erheischen. Sein Publikum beschränkt sich längst nicht mehr auf die Anhängerschaft des „Kwartals“ – nun ist es das ganze Land.
Zum Objekt der Lächerlichkeit werden Funktionäre unterschiedlicher Couleur. Selenskyj jagte den Sekretär des Stadtrats von Boryspil Jaroslaw Hodunok aus einer Sitzung, „bittet“ beharrlich darum Olexander Wlassow, den einstweiligen Chef der staatlichen Finanzbehörde, zu entlassen sowie die Leiter der staatlichen Gebietsverwaltung der Oblast Schytomyr. Vom Abgeordneten Andrij Iwantschuk fordert der Präsident 175 Millionen Hrywnja für die Reparatur von Straßen in der Oblast Iwano-Frankiwsk, vom Bürgermeister von Smila, Wiktor Fedorenko, dass er sein Auto verkauft, um die Schulden für die Heizkosten zu begleichen.
„Ich rufe jetzt Bakanow wegen dieses Teufels. Mit diesem Menschen muss Schluss gemacht werden“, diese Worte von Selenskyj bezüglich Hodunok bleiben in Erinnerung.
Obgleich diese Geschehnisse den Nerv des Wahlvolks treffen (davon zeugen die Ergebnisse der Parlamentswahl), so fallen sie jedoch nicht in den Kompetenzbereich des Präsidenten. Währenddessen ist Selenskyj überzeugt: 73 Prozent geben ihm eine unbeschränkte Vollmacht für den Kampf gegen die Teufel. Hauptsache, sie stellen sich letztlich nicht als Windmühlen heraus.
Sieg und Frieden
Wenn unter Petro Poroschenko das deklarierte Ziel, den Krieg im Donbass betreffend, ein Sieg war, so ist es bei Wolodymyr Selenskyj der Frieden. Im öffentlichen Diskurs spricht der neue Präsident über das Leben der Menschen, Informationspolitik, Reintegration und die traditionelle Militärparade ersetzt er durch einen Aufzug von Kindern in weißer Kleidung. In der Ansprache zum Tag der Unabhängigkeit vermeidet er Bemerkungen über Russland und die Aggression, sich Metaphern bedienend. Selenskyj demonstriert Moskau, dass er kompromissbereiter sei – initiiert den Abzug der Truppen aus Stanyzja Luhanska, befreit wegen Terrorismus Verurteilte, die die Vorgängerregierung nicht zum Austausch freigeben wollte, entfernt den prinzipientreuen Roman Bessmertnyj aus der Verhandlungsgruppe [in Minsk].
Diese Schritte können ihre Früchte tragen: In den Medien haben sich Informationen über eine mögliche Freilassung ukrainischer Geiseln durch Russland verbreitet. [Der Gefangenenaustausch fand am 7. September statt. A.d.R.] Das kann ein wahrhaftiger diplomatischer Erfolg des Präsidenten werden. Bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen Putin der Bitte Selenskyjs zugestimmt hat, im Laufe zweier Telefongespräche, von denen das erste mit dem Wort „Hallo“ begann.
Diese 100 Tage zeichneten sich im Bereich der Diplomatie nicht nur durch die Gespräche mit dem Hausherrn des Kremls aus. Die internationale Politik von Wolodymyr Selenskyj begann schon am 21. April, am Tag des zweiten Wahlgangs, als ihn unerwartet der Präsident der USA Donald Trump anrief und ihm gratulierte. Der amerikanische Staatschef informierte ihn über die Absicht, sich mit dem ukrainischen Präsidenten zu treffen, doch drei Monaten später ist das noch nicht geschehen. Sei es, weil die Ernennung von Bohdan die Organisation eines Treffens bremste, sei es wegen des Wunsches von amerikanischer Seite, eine Ermittlung gegen den Sohn des Demokraten Joseph Biden, Trumps Konkurrenten in den kommenden Präsidentschaftswahlen, zu forcieren.
Der Berater des amerikanischen Staatschefs John Bolton kündigte schließlich ein Treffen der Präsidenten für den 1. September in Polen an.[Trump sagte seinen Besuch in Warschau aufgrund des Hurricans Dorians ab. A.d.R.] Nun ist es an Wolodymyr Selenskyj, seine besten Drehbuchautoren einzuschalten, um sich die Zugewandtheit von Donald Trump zu erkämpfen. Zumal der amerikanische Präsident in letzter Zeit hartnäckig Russland um eine Rückkehr zu den G8 bittet, von denen es wegen der Annexion ukrainischer Gebiete ausgeschlossen worden war.
Erfolgreicher ist das Team des Präsidenten in anderen diplomatischen Bereichen – Selenskyj konnte das Vertrauen des Ministerpräsidenten von Kanada Justin Trudeau erwerben sowie vom Präsidenten Frankreichs Emmanuel Macron, er konnte sich mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel treffen und dem Präsidenten der Türkei Recep Erdoğan. Das erste Mal seit 20 Jahren hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Ukraine besucht.
Während wichtiger Treffen mit den Staatschefs der Welt ist die Aufmerksamkeit auf die internationale Arbeit des Präsidentenbüros gerichtet. Die Franzosen konstatierten zum Beispiel gewisse Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem Team des neuen Präsidenten.
Auf der Hundertmeterstrecke gibt Wolodymyr Selenskyj den Rhythmus des Laufs zur Präsidentschaft vor: Er stellt seine Regeln auf, gibt die Signale an regionale Behörden, stellt die nötigen Leute auf. Es wird schon klar, dass seine Hauptfunktion die PR ist, während das Staatsoberhaupt zum Mikromanagement und Übertreten der eigenen Befugnisse neigt, wie schon sein Vorgänger.
In der Außenpolitik wird Selenskyj den Dialog mit Russland suchen, internationale Aktivitäten der Ukraine können schwächer werden als in den letzten Jahren.
Seit dem 29. August fing das Staatsoberhaupt an, das Land allein zu lenken, und das Büro des Präsidenten könnte zum einzigen Zentrum der Macht im Land werden und in strengem Regime sowohl die Regierung führen als auch das Parlament, und wenn die Regionalwahlen glücken, dann auch die Bürgermeister der großen Städte.
28. August 2019 // Diana Buzko, Journalistin
Quelle: Lewyj Bereg
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