Sieben Unwahrheiten über die neue Strafprozessordnung


Seit mehr als einem Monat lebt die Ukraine nach einem neuen Strafprozessgesetzbuch, das am 20. November in Kraft trat. Ich finde es noch zu früh zu urteilen, ob es wirkungsvoll oder wirkungslos ist. Man soll erste Gerichtsprozesse und ihre Ergebnisse abwarten.

Trotzdem begegnet man in der Medienberichterstattung Informationsmüll, wo dieses Gesetzbuch ohne Bezug zur Realität abqualifiziert wird. Dabei versinken objektive Einschätzungen im Meer der negativen Information.

Warum kommt es dazu?

Die Menschen halten diese Informationstäuschung für wahr. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Erstens ist es die Regierung, die für das Gesetzbuch wirbt, und die Bevölkerung hat kein Vertrauen ihr gegenüber und verbindet mit ihr immer nur schlechte Erwartungen.

Zweitens wird das Recht von der Miliz, dem Sicherheitsdienst, der Staatsanwaltschaft und anderen Behörden der Rechtspflege öfters selektiv angewandt.

Drittens ist das Gesetzbuch ein neues umfangreiches Dokument. Innerhalb der kurzen Zeit haben nicht alle Kritiker es geschafft, dieses „Riesenwerk“ zu bewältigen.

In Medien kommen folgende Unwahrheiten über das neue Gesetzbuch am häufigsten vor:

1. „Leichen werden nicht ohne eine Bescheinigung aus der Staatsanwaltschaft übergeben“.

Dieses Verfahren gehe vom Paragraf 4 des Artikels 238 des Gesetzbuches aus, in dem die Ausstellung einer schriftlichen Genehmigung eines Staatsanwaltes für die Übergabe einer Leiche eine gerichtsmedizinische Prüfung und festgelegte Todesursachen voraussetzt.

Die Wahrheit ist, dass der zitierte Artikel die Ermittlungshandlung „Besichtigung der Leiche“ betrifft. Jegliche Ermittlungshandlung, darunter auch diese Besichtigung, darf nicht vollzogen werden, ohne in ein Register für vorgerichtliche Ermittlungen eingetragen zu werden.

Fehlt also eine Anzeige von Verwandten oder Zeugen über die Auffindung einer Leiche mit Spuren des gewaltsamen Todes, gilt für die Besichtigung der Leiche ein anderes Verfahren als im Gesetzbuch vorgesehen.

2. „Strafanzeigen dürfen anonym gemacht werden“

In unserer Gesellschaft bestand lange Zeit die Praxis zu denunzieren und zu hinterbringen. Das erklärt die schmerzhafte Reaktion auf die Wiederbelebung dieser Mechanismen. Nach dem neuen Gesetzbuch ist es aber ausgeschlossen, eine Strafanzeige anonym zu erstatten.

Im Paragraf 2 Teil 5 Artikel 215 steht klar, dass Informationen über „den Namen, den Vornamen und den Vatersnamen des Geschädigten bzw. des Anzeigenstellers“ in das einheitliche Register für vorgerichtliche Ermittlungen eingetragen werden sollen.

Verfügt ein Ermittler oder ein Staatsanwalt nicht über diese Angaben, so darf er kein Strafverfahren einleiten und keine Ermittlungshandlungen vornehmen.

3. „Man muss einen Pass oder ein anderes Ausweisdokument ständig bei sich tragen“

Wer die Bürger dazu mahnt, begründet es als Mittel gegen ungerechtfertigte Festnahmen und Inhaftierungen.

Das Gesetzbuch sieht aber keine Pflicht dieser Art vor. Im Gegenteil sind operative Einheiten in ihren Befugnissen zur Festnahme wesentlich begrenzt. Jetzt wird die Dauer der Festnahme nicht ab dem Zeitpunkt der Anfertigung eines Protokolls, sondern unmittelbar der Festnahme, wie der Art. 209 lautet, gezählt.

Die festgenommene Person soll gemäß dem Teil 8 des Artikels 209 über ihre sämtlichen Rechte in Kenntnis gesetzt werden. Ihr soll die Möglichkeit gewährt werden, eine Person aus ihrer Verwandtschaft über ihre Festnahme zu benachrichtigen.

Begrenzt ist auch der Zeitraum für einen Freiheitsentzug ohne Gerichtsbeschluss: statt 72 Stunden wie früher sind jetzt 24 Stunden als Frist für die Übermittlung des Verdachts festgelegt.

Wenn eine schriftliche Verdachtsbekundung der Person innerhalb von 24 Stunden ab der Festnahme nicht überreicht wurde, soll sie freigelassen werden.

Wenn Sie nicht freigelassen werden, so wenden sich entweder Sie oder ihr Anwalt bzw. der vom Staat bevollmächtigte Anwalt – das System der unentgeltlichen rechtlichen Hilfe beginnt ab dem 1. Januar 2013 in vollem Umfang zu funktionieren – unverzüglich an den ermittelnden Richter bezüglich der Freilassung aufgrund des Teiles 2 des Artikels 206.

Überreichte man Ihnen die Verdachtsbekundung rechtzeitig, aber brachte man Sie nicht innerhalb von 60 Stunden ab der faktischen Festnahme ins Gericht, müssen Sie auch freigelassen werden. Oder Sie reichen ein entsprechendes Ersuchen beim ermittelnden Richter ein.

4. „Man darf ohne Gerichtsbeschluss eine Wohnung durchsuchen“

Eine Durchsuchung jeglicher Art darf aufgrund des Beschlusses des ermittelnden Richters erfolgen – das verlangt der Teil 2 des Artikels 234.

Als Ausnahme gelten nur die in der Verfassung vorgesehenen Fälle – Teil 3 des Artikels 30, der ein Eindringen in die Wohnung für die Rettung von Vermögen bzw. Menschenleben betrifft. Oder wenn es laut Teil 3 Art. 233 des Gesetzbuches um die unmittelbare Verfolgung verdächtigter Personen geht.

Diese Ausnahme ist in allen Rechtssystemen gerechtfertigt und angemessen. Wenn ein Verdächtigter in eine Wohnung oder eine andere Räumlichkeit während seiner Verfolgung eindringt, dann brauchen die operativen Einheiten ihre Handlungen nicht zu unterbrechen, um eine Genehmigung beim Gericht zu holen. Sie müssen es zu Ende führen und diese Räumlichkeit betreten.

Aber eine Genehmigung für dieses Eindringen soll man dann auch im Nachhinein doch bekommen. Verweigert das Gericht diese Genehmigung, gelten die dadurch erworbenen Beweise als nicht legitim.

5. „Die Möglichkeiten für eine Kontrolle des Privatlebens durch Geheimdienste erweitern sich“

Das kann man daraus schließen, dass im Gesetzbuch ein neuer Artikel 21 „Geheime Ermittlung (Fahndung)“ zu finden ist.

Es ist in der Tat beeindruckend, wenn man die Liste der Handlungen ansieht, die dazu gerechnet werden. Aber vergleicht man das mit der entsprechenden europäischen Erfahrung, so merkt man nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil setzen sieben aus neun Handlungen eine gerichtliche Genehmigung voraus, was früher nicht der Fall war. Denn früher wurde dieses Aktionsfeld sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch für eine vollwertige gerichtliche Kontrolle geschlossen gehalten.

Jetzt unterliegen einer Prüfung durch einen ermittelnden Richter folgende Handlungen: Audio- bzw. Videokontrolle einer Person; Beschlagnahme, Prüfung und Entnahme des Vermögens; Aufnahme von Informationen in Informationssystemen und elektronischen Informationssystemen; Untersuchung von nicht öffentlichen Orten, Wohnungen; Ortung eines elektronischen Funkgerätes (Mobiltelefon); Überwachung eines Ortes, einer Sache, einer Person; Audio- bzw. Videokontrolle eines Ortes.

Nur die Kontrolle nach der Ausübung eines Verbrechens bzw. Ausführung einer speziellen Aufgabe zur Aufdeckung strafrechtlich relevanter Aktivitäten benötigt keine Gerichtsgenehmigung.

Darüber hinaus dürfen die oben genannten Ermittlungshandlungen nicht in allen Strafverfahren, sondern nur im Fall schwerer oder besonders schwerer Verbrechen vorgenommen werden.

6. „Anwälte verfügen über keine Rechte im Strafverfahren“

Im Gesetzbuch aus dem Jahr 1960 gab es den einzelnen Paragrafen 48, der die Rechte der Verteidigung auslegte. Demgegenüber bestimmt das neue Gesetzbuch die Rechte der Verteidigung nicht gesondert, sondern leitet sie aus den Rechten der verdächtigten bzw. angeklagten Person ab – Teil 4 Art. 46.

Die Novelle wird dadurch begründet, dass der Verdächtigte sich selbst verteidigen und dabei der 18 im Teil 3 Art. 42 gesicherten Prozessrechte bedienen darf oder einen Anwalt heranziehen darf. In diesem Fall genießt der Anwalt die für einen Verdächtigten vorgesehenen Rechte.

Mehr noch: die Verteidigung erhielt außerordentlich breite Möglichkeiten im neuen Strafverfahren. Sie darf nur die objektiv für die Anklage geeigneten Handlungen nicht ausüben: Personen festnehmen, um Anwendung von Sicherheitsmaßregeln ersuchen, geheime Ermittlungen durchführen usw.

7. „Die Gleichzeitige Geltung von Bestimmungen beider Fassungen des Gesetzbuches aus den Jahren 1960 und 2012 zeugt von der rechtlichen Ignoranz der Autoren“

Für die unabhängige Ukraine ist es eine einmalige Situation, wenn beide Strafprozessgesetzbücher zugleich gelten. Aber diese Sachlage ist dadurch bedingt, dass vorgeschlagene Änderungen, besonders im Teil der Zulässigkeit von Beweisen, radikal sind.

Zum Beispiel die Bestimmung, dass es nur vor Gericht notwendig ist, Zeugnis abzulegen, dass bei Ermittlungshandlungen die Verteidigung anwesend sein muss usw.

Stellt man sich vor, dass das Gesetzbuch aus dem Jahr 1960 am 20. November simultan außer Kraft getreten wäre, so wäre ein Urteil in keinem Strafverfahren möglich. Ungeschützt wäre das Interesse der Gesellschaft – ein besonderer Schwerpunkt im Strafverfahren – geblieben.

P. S. Während das neue Gesetzbuch weiterhin funktioniert, ist es nicht ausgeschlossen, dass neue Unwahrheiten in der Gesellschaft verbreiten werden. Und das ist jämmerlich. Denn stattdessen sollten andere problematische Stellen des neuen Gesetzbuches in die Diskussion einfließen.

Es geht um die notwendige Befreiung der Miliz, der Staatsanwaltschaft und Gerichte von politischem Druck, Einführung eines klassischen Geschworenengerichtes, Abschaffung der gesonderten Regelung operativer Fahndungsaktivitäten durch die Gesetzgebung usw.

10. Januar 2013 // Oleksandr Bantschuk, Zentrum für politische und rechtliche Reformen

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzer:   Mykhailo Iurchenko  — Wörter: 1273

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.