"Wir sind durch den Wald gefahren und wussten nicht, wo wir gerade sind“ - Feuerwehrleute erzählen, wie sie die Brände bei Tschornobyl löschen
Die Sperrzone brennt seit dem 3. April. Von dem Brand sind Tausende Hektar betroffen. Es brannten ehemalige Dörfer um das Kernkraftwerk Tschornobyl [russ. Tschernobyl], die Stadtränder von Tschornobyl und Prypjat, das Territorium des „Roten Waldes“ [des Waldes, der sich in unmittelbarer Nähe zum explodierten Block vier befindet und am stärksten verstrahlt ist. Aufgrund der Strahlenschäden färbten sich die Nadeln der Kiefern rot. – Anm. der Ü.]. Laut dem Direktor des Biosphärenreservats Tschornobyl, Olexandr Haluschenko, sind nach ersten Schätzungen 11.500 Hektar betroffen, was ungefähr fünf Prozent des Schutzgebietes ist. Mit Stand vom 26. April gibt es noch zwei Brandherde bei den [verlassenen] Dörfern Krywa Hora, Rudky und Burjakiwka.
Für die Bekämpfung des Großbrandes wurden im Verlaufe von drei Wochen über eintausend Feuerwehrleute eingesetzt.
„Ich habe einen solchen Brand noch nie gesehen“, erzählt der Feuerwehrmann Jurij, der in der Sperrzone arbeitete. „Du löschst von einer Seite und das Feuer kommt schon von der anderen. Selbst Forstleute haben gesagt, dass obwohl Tschornobyl jedes Jahr brennt, es noch nie in solchen Größenordnungen war.“
Die Tätigkeit der Feuerwehrmannschaft wurde nicht nur von der Größenordnung der Brände erschwert, sondern auch von den Bedingungen, unter denen man arbeiten musste. Die Brandschützer schliefen in den Autos, irrten im Wald wegen fehlender Karten und Funkstationen herum, kletterten auf Bäume, um Mobilfunkverbindungen zu bekommen, zogen steckengebliebene Wagen heraus und atmeten den gefährlichen Rauch ein.
„Es gab null Organisation“, beklagt sich der Feuerwehrmann Mykyta (Name geändert).
Das Internetportal LB.ua redete mit den Feuerwehrleuten, die in der Sperrzone arbeiteten. Sie kritisieren die Organisation und die Arbeitsbedingungen, die der Staatliche Dienst für außergewöhnliche Situationen/Katastrophenschutzdienst sicherstellen sollte. Die Feuerwehrleute bitten darum ihre Namen nicht zu erwähnen, um etwaige Sanktionen seitens der Leitung zu vermeiden.
„Organisation — null”
Wenn die Brandschützer von den Arbeitsbedingungen in Tschornobyl berichten, kritisieren sie die Strategie der Leitung des Katastrophenschutzdienstes, beklagen sich über das Fehlen einer angemessenen Organisation und Koordination der Löscharbeiten.
„Es gab solche Fälle, wenn eine bestimmte Zeit Leute den Brand mit Wasser und allem, was greifbar war, löschen, und bald wurde diese Stelle für ein Gegenfeuer angezündet. Wir haben außerdem viele Straßen im Wald selbstständig angelegt“, erzählt Feuerwehrmann Iwan (Name geändert).
„Wegen der engen Straßen konnten die Wagen nicht wenden, weil es an Platz fehlte, was selbst für die Rettungskräfte lebensgefährlich war“, sagt Jurij. Laut den Worten eines anderen Feuerwehrmanns blieben die nicht an Waldbrände angepassten MAZs [Lastwagen, hergestellt in Belarus/Weißrussland – Anm. der Ü.] [im Sand] stecken und die Retter mussten Zeit aufwenden, um diese herauszuziehen.
Der Mitarbeiter der Staatlichen Agentur für die Verwaltung der Sperrzone Mychajlo Bajtalo nannte unter den Problemen mit der Brandbekämpfung auch die Abwesenheit von Feuerwehrwegen an schwer zugänglichen Stellen, wohin die Technik nicht fahren konnte, sowie fehlende Brandschneisen. Nach Angaben des Katastrophenschutzdienstes wurden während der Brandbekämpfung 949 km Brandschutzschneisen und -wegen geschaffen, die jetzt als Brandschutzbarriere dienen.
Die Feuerbekämpfung wurde durch die Naturverhältnisse erschwert, nämlich durch Trockenheit im Wald und Wind. Wegen letzterem breitete sich das Feuer schnell aus. Am ersten Tag umfasste der Brand 20 Hektar und schon am 7. April griff das Feuer auch auf das [benachbarte] Gebiet Schytomyr über.
Fortbewegung und Kommunikation der Feuerwehrleute wurden durch fehlende Mobilfunknetze und Funkstationen erschwert.
„Sie denken, dass es keine Funkstationen gibt? Doch, aber niemand verrät sie. Man kommunizierte durch Schreie. Einer der Jungs musste drei Kilometer laufen. Ein anderer hat sich komplett verirrt. Er kletterte auf eine Kiefer, sandte die Koordinaten und so wurde er gefunden“, erinnert sich Mykyta (Name geändert).
In der Gruppe des Feuerwehrmanns Iwan gab es nicht einmal Karten.
„Keine Kommunikationsverbindung, keine Organisation. Niemand weiß was, alle verweisen auf den anderen. Nicht einmal eine Karte gab man uns. Wir fuhren durch den Wald und wussten selbst nicht, wo wir uns befinden. Es gab auch Fälle, in denen Leute im Wald verloren gingen“, betont der Feuerwehrmann.
Am Abend des 13. April begann es zu regnen, und am nächsten Tag erklärte der Chef des Katastrophenschutzdienstes, Mykola Tschetschotkin, dass es „kein Feuer mehr gibt. Aber zwei Tage später tauchte wieder offenes Feuer auf. Die Retter setzten ihre Arbeit in der Zone fort.
„Ich weiß, dass die Brandbekämpfer alles Mögliche tun. Ich danke ihnen für ihren Mut“, reagierte der ukrainische Präsident [Wolodymyr Selenskyj] am zehnten Tag der Löscharbeiten.
Während man in den sozialen Netzwerken den Heroismus der Feuerwehrleute bewunderte, bewerten sie selbst ihren Beitrag nur bescheiden.
„Meiner Meinung nach ist das unmittelbar unsere Arbeit. Das betrifft jeden Feuerwehrmann direkt. Das ist unsere Pflicht“, betonte Feuerwehrmann Jurij.
„Man kann sagen, dass wir nicht geschlafen haben”
Die Feuerwehrleute, die in der Sperrzone arbeiteten, bevor dort die Zelten aufgebaut wurden, erzählen, dass manche „Glück hatten“, in einer örtlichen Turnhalle zu schlafen. Es fehlte an Platz für alle, deshalb schliefen diejenigen, die kein „Glück hatten“, in den Feuerwehrfahrzeugen oder unter freiem Himmel, während über dem Gebiet Kyjiw für die Gesundheit gefährlicher Rauch stand.
„In der Turnhalle gab es 50 Liegen. Am 14. April waren ungefähr 400 Leute in Einsatz. Ein paar Feuerwehreinheiten schliefen in ihren Fahrzeugen. Die Brigade aus Tscherkassy hatte autonome Generatoren. Aber über diejenigen, die in sowjetischen ZILs schliefen, könnte man sagen, dass sie auch nicht schliefen: das Fahrzeug ist winzig und die Heizung darin funktioniert nicht“, ergänzt Mykyta.
Feuerwehrmann Iwan klagte über Probleme mit dem Wasser, das nur in Flaschen als Trinkwasser bereitgestellt wurde, deshalb gab es auch Probleme mit dem Waschen. Man sollte doch kein Wasser aus den Feuerwehrfahrzeugen nehmen, das aus dem Fluss Prypjat und anderen Sümpfen genommen wurde.
Die Verpflegung beschreiben die Feuerwehrleute mehr als bescheiden. „Alle wussten, wohin sie fahren, deshalb nahmen wir etwas mit“, erzählt Feuerwehrmann Jurij.
Feuerwehrmann Iwan, der die nachfolgende Schicht antrat, sagt, dass es sogar fürs Essen nicht immer Zeit gab.
„In der Kantine wurde man versorgt, sogut es ging. Manchmal schafften wir es nicht dorthin. Ungefähr um 6-7 Uhr morgens fuhren wir in den Wald zu unseren Lösch-Quadranten und kamen erst gegen Mitternacht zurück. Offensichtlich, dass wir es nicht in die Kantine schafften. Ich schaffte es zweimal in die Kantine“, erzählt ein Feuerwehrmann.
Die Feuerwehreinheit, mit welcher Feuerwehrmann Mykyta kam, sandte man für drei Tage an die Grenze zu Belarus/Weißrussland. Dort schliefen die Feuerwehrleute in den Fahrzeugen und aßen das, was sie mit sich mitnahmen. Innerhalb von drei Tagen wurde ihnen einmal Mittagessen geliefert – Borschtsch, eine Brotscheibe und kalter Tee, so der Retter. Mykyta empört sich, dass die Brandbekämpfer sich überwiegend auf eigene Rechnung verpflegten und sie für einen Dienstreisetag 76 Hrywnja (ca. 2,5 Euro) bekamen.
Nachdem in den sozialen Netzwerken Berichte und Fotos von den Tschornobyl-Touranbietern über die Arbeitsverhältnisse der Feuerwehrleute auftauchten, begannen Freiwillige Geld für Essen und Hygienemittel zu sammeln. Eine davon, Natalja Jussupowa, erzählt, dass sie sich entschied, zu helfen, als sie das Foto von einem jungen Feuerwehrmann gesehen hat, der unter freiem Himmel schläft.
„Ich dachte: Ist es für uns schwierig, Hilfe für die Jungs zu sammeln und ihnen zu übergeben? Am Abend schrieb ich einen Beitrag und schon am nächsten Tag schickten wir mit einer Freundin 200 Kilogramm Fracht ab. Im Laufe von zehn Tagen schickten wir 1.600 Kilogramm – darunter waren Büchsenfleisch, Trockenrationen, Kaffee, Tee, Einweggeschirr, T-Shirts, Atemschutzmasken und Sprühflaschen“, erzählt die Freiwillige.
„Auf eigene Rechnung und Gefahr”
Mit den Bränden in der Sperrzone stellte sich die Frage der radiologischen Sicherheit für die Bewohner der umliegenden Kreise. Besonders akut war es, als das Feuer dicht an das Atommüllzwischenlager [Die Brennstäbe der stillgelegten Blöcke im ehemaligen Kraftwerk Tschornobyl befinden sich in einem Nasslager auf dem durch breite Brandschutzstreifen zum Wald gesicherte Kraftwerksgelände. In den teils panischen Posts in sozialen Netzwerken war offenbar das noch im Testbetrieb befindliche zukünftige Zwischenlager für diese Brennstäbe gemeint, das ein paar Hundert Meter entfernt vom Kraftwerksgelände gebaut wurde. A.d.R.] kam und das Territorium des „Roten Waldes“ erfasste, der während der Explosion des Reaktors in 1986 den größten Teil des radioaktiven Staubs abbekam.
Dank der Arbeit der Löschkräfte konnte der Brand im gefährlichsten Teil der Tschornobyl-Zone gestoppt werden. In der Staatlichen Agentur der Ukraine für die Verwaltung der Sperrzone berichtete man, dass innerhalb von der ganzen Zeit kein Überschreiten der Radioaktivitätswerte in der Sperrzone festgestellt wurde. Es wurden auch die Strahlungswerte bei den Feuerwehrleuten gemessen.
Nach der Rotation wurde jeder Feuerwehrmann mit dem Sondergerät „SITSCH” überprüft. Bei keinem der 1.188 überprüften Feuerwehrleute wurde ein Überschreiten der Cäsium-137-Werte (eine Komponente der radioaktiven Verschmutzung) festgestellt.
Den Worten Mykytas nach hatten die Feuerwehrleute keine Möglichkeit, selbstständig das Strahlungsniveau an den Orten, wo sie arbeiteten, zu überprüfen.
„Wir bekamen speichernde Dosimeter, aber auf solchen Dosimetern kann man das Strahlungsniveau nicht sehen. Gruppendosimeter, die beim Leiter der Brandbekämpfungsoperation oder beim Wachhabenden sein sollten, bekamen wir nicht. Wir sind auf eigene Rechnung und Gefahr gegangen. Manche Jungen hatten eigene Dosimeter. Sie sagten, dass neben dem „Roten Wald“ das Niveau bis acht bis neun Röntgen anstieg (bei einem zulässigen Niveau von 0,05 Mikroröntgen pro Stunde – Anm. der Redaktion)“, erzählt Mykyta.
In den täglichen Berichten des Katastrophenschutzdienstes aus der Sperrzone wird behauptet, dass das Strahlungsniveau in Tschornobyl die natürlichen Hintergrundwerte nicht überschreitet. Der Leiter des Dienstes, Mykola Tschetschotkin, gab zu, dass es „auf dem Territorium der Tschornobyl-Zone einzelne Abschnitte gibt, an denen die Werte der Hintergrundstrahlung überschritten wurden. Aber die Radiologen der Sperrzone, Strahlenschutzmesstechniker der Zonenverwaltung sagen anhand von Vergleichen und Berechnungen nach bestimmten Formeln, wie viel Zeit die Rettungskräfte hier oder da tätig sein könnten.“
Der Vorsitzende der Gewerkschaft „Boykott der Feuerwehrleute der Ukraine“ Maxym Pyssarskyj steht mit den Feuerwehrleuten in Kontakt, die in der Tschornobyl Zone im Einsatz sind. Der Aktivist lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vernachlässigung der Sicherheitsnormen während des Einsatzes in der Sperrzone. Diese Organisation versucht seit 2015 die Rechte der Arbeiter der Einheiten für Brandschutz und Rettung zu verteidigen, organisiert Aktionen und ruft zur Reform des Katastrophenschutzdienstes auf.
„Bei der Brandbekämpfung und mit der Versorgung gab es schon von Anfang an Chaos. Die Jungs haben erzählt, dass sie unter anderem im Wald schliefen. Niemand dachte an Zelte, an eine Arbeit gemäß den Normen für die radioaktive Sicherheit: Alle Leute in der grauen Zone sollten mit Atemschutzmasken gegen feste Partikel und Aerosole ausgerüstet sein, in der freien Luft kann nicht in der Arbeitsbekleidung gegessen werden. Es gibt eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Feuerwehrleute in ein paar Monaten mit Anzeichen von Strahlungsschäden krank werden“, vermutet Pyssarskyj.
Der Aktivist ergänzt: Viele Probleme, die in der Tschornobyl Zone aufkamen, sind für den Katastrophenschutzdienst systemisch.
„Gerüchte verbreiten sich”
Wenn in den sozialen Netzwerken Nachrichten über unangemessene Bedingungen auftauchen, unter denen die Feuerwehrleute arbeiten müssen, reagierte auch der Katastrophenschutzdienst.
„Im Netz werden Gerüchte verbreitet, dass unsere Jungs hungrig gearbeitet und unter freiem Himmel geschlafen hätten. Viele führte das zu dem Gedanken, dass der Staat nicht in der Lage ist, seine Beschützer zu ernähren. Jedoch beeilen Sie sich nicht mit Schlussfolgerungen, indem Sie sich von emotionalen Beiträgen in sozialen Netzwerken leiten lassen. Wir würden gern die Mythen entkräften, welche die Gesellschaft dazu bringen, Dosen mit Büchsenfleisch zu zählen oder Betrügern die Möglichkeit gibt, Geld für die Hilfe von brandgeschädigten Tierchen zu sammeln, wie es vor ein paar Tagen in Facebook geschehen ist“, schrieb der Katastrophenschutzdienst auf seiner Website.
Beim Dienst erzählte man, dass sie mobile Versorgungspunkte in den Dörfern Stari Sokoly, Rudnja-Illinezka und Dibrowa aufgebaut hat, wo man die Brandbekämpfer unterbringt und Essen zubereitet.
„Unsere Brandbekämpfer essen zu Frühstück und zu Abend in den Versorgungspunkten, Mittagessen wird ihnen zu den Feuerlöschorten gebracht. Ebenso wurden entsprechende sanitär-hygienische Bedingungen für die Feuerwehrleute, Dosimeterkontrollen und medizinische Versorgung organisiert“, versicherte der Katastrophenschutzdienst.
LB.ua wandte sich an den Pressedienst des Katastrophenschutzdienstes für zusätzliche Kommentare. Dort wurde geantwortet, dass sie keine Zeit haben, die Fragen zu beantworten, und uns empfohlen, eine [schriftliche] Informationsanfrage zu stellen.
Die Feuerwehrleute, mit denen sich LB.ua unterhielt, wundern sich, warum man mit dem Aufbau von solchen Punkten erst zwei Wochen nach dem Beginn der Löscharbeiten begann.
„Am Anfang gab es nichts, und nach einer gewissen Zeit wurde alles gemacht – Zeltstädte, Feldküche, Duschen. Sie können, wenn sie müssen“, sagt Feuerwehrmann Iwan, der schon nach Hause zurückkehrte.
26. April 2020 // Diana Buzko
Quelle: Lewyj Bereg