Soziale Unruhen wird es nicht geben - Warum soziale Proteste zum Scheitern verurteilt sind



Der Streik der Bergleute erschüttert die Lage nicht – versichert Arsenij Jazenjuk. Trotz der Tatsache, dass die Gesellschaft von Proteststimmung überfüllt ist, liegt der Ministerpräsident völlig richtig. Erstens hat das aktuelle DTEK-Spektakel [Energieunternehmen des Oligarchen Rinat Achmetow und damit verbundene aktuelle Proteste, Anm.d.Ü.] nicht viel mit einem echten Streik zu tun. Und zweitens sind soziale Proteste in der nahen Zukunft zum Scheitern verurteilt.

Einsame Streikende

Das Protestpotenzial der ukrainischen Gesellschaft ist wirklich enorm. Die gleichen Bergarbeiter streikten schon in der Zeit von Gorbatschow viel. Die Proteste der Bergleute trugen zum Zusammenbruch der UdSSR nicht weniger bei als die Aktionen der „Ruchiwtsi“ [Anhänger der vor allem in der Westukraine aktiven politischen Bewegung Narodnyj Ruch Ukrajiny/Nationalbewegung der Ukraine, Anm.d.Ü.] und andere nationaldemokratische Kräfte. Ja, einige Bergarbeiterstreike zwangen die Werchowna Rada [das ukrainische Parlament, Anm.d.Ü.], 1989 das Gesetz „Über die wirtschaftliche Unabhängigkeit der UdSSR“ zu verabschieden. Die Bergleute streikten sowohl unter Krawtschuk als auch unter Kutschma.

Doch in ihrem Kampf sind sie immer allein. Als im Jahr 1998 die Luhansker Bergleute brutal von der „Berkut“ (inzwischen offiziell aufgelöste Milizsondereinheit, A.d.R.) zusammengeschlagen wurden, hat dies keinen allgemeinen Volksaufstand ausgelöst. Der Bergmann Oleksandr Michalewitsch, der sich damals selbst verbrannte, wurde kein Symbol des Kampfes gegen die Tyrannei, wie es später Heorhij Gongadse [georgisch-ukrainischer Journalist; Gründer und Herausgeber der Internetzeitung Ukrajinska Prawda; im Jahre 2000 ermordet, Anm.d.Ü.] wurde. Seit 17 Jahren hat sich nichts geändert. Und heute sind auf der Seite der Bergarbeiter nur marginal linke Aktivisten, die überall von der sozialistischen Revolution träumen.

Es finden auch andere Proteste mit ökonomischen Forderungen keine breite Unterstützung. Der Mord an Serhij Nihojan [armenisch-ukrainischer Euromaidan-Aktivist, Anm.d.Ü.] vereinte die ganze Gesellschaft. Doch der Tod des Tschornobyl-Liquidators Hennadij Konopljow während des Auseinanderjagens des Zeltlagers in Donezk vereinte noch nicht einmal seine Donezker Mitbürger. Genauso hatten die Ukrainer keine Eile, sich zum „Unternehmens“-Maidan 2010 zusammenzuschließen und blieben gleichgültig gegenüber den diesjährigen „Kredit“-Kundgebungen.

Das ist kein Geheimnis. Der Kampf um die Gruppeninteressen wird natürlich eine schmale soziale Basis haben. Wen interessieren die Löhne der Bergarbeiter, außer sie selbst? Was haben die Tschornobyl-Veteranen mit den Problemen der Währungsschuldner gemein? Warum sollten die Landwirte die Interessen der Unternehmer schützen? Der Traum von der europäischen Integration und die allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung von Janukowytsch vereinte die Bürger. Aber nichts trennt sie so sehr wie konkrete wirtschaftliche Forderungen bestimmter Gruppen.

Die brownsche1 Protestbewegung

Theoretisch sollen die Gewerkschaften eine Protestbewegung koordinieren. So vereint die amerikanische Gewerkschaft United Steelworkers zum Beispiel nicht nur die Stahlarbeiter, sondern die Arbeiter verwandter Branchen mit einer gesamten Anzahl von etwa einer Million Leuten. Es verwundert also nicht, dass die Kommunikation mit den Korporationen weitaus produktiver als ein paar Streikposten linker Aktivisten ist. Aber die ukrainischen Gewerkschaften haben keinen besonderen Einfluss auf die Regierung und die Arbeitgeber.

Mit den linken politischen Kräften ist bei uns auch nichts los. In den 24 Jahren der Unabhängigkeit erreichten sie nur nostalgische Rentner zu führen, aber nicht Arbeiter und Bauern. Und der verderbliche Einfluss des Kapitals wirkt auf sie verdächtig stark. Die KPU [die Kommunistische Partei der Ukraine, Anm.d.Ü.] diente über ein Jahrzehnt gewissenhaft der Partei der Regionen. Und eine unabhängige Bergarbeitergewerkschaft unter der Leitung von Michajlo Wolynez wurde plötzlich zur Prätorianergarde von Oligarch Rinat Achmetow.

Diese Hilflosigkeit ist nicht zufällig. Die westlichen Arbeiter lernten jahrhundertelang, gegen das Kapital zu kämpfen. Doch über der ukrainischen Gesellschaft liegt ein sowjetisches Erbe. Im „siegreichen Sozialismus“ durften die Arbeiter nur für die Rechte der Schwarzen und Arbeiter in fernen Ländern kämpfen. Und auf jegliche Proteste reagierte die Regierung der UdSSR mit Hinrichtungen und Repressionen. Daher waren die ukrainischen Arbeiter völlig unvorbereitet auf die kapitalistische Realität.

Es gibt noch einen wichtigen Aspekt. Ein Großteil des ukrainischen Arbeitsmarktes ist im Schatten. Bei der letzten Hochrechnung erhielten nur 35 Prozent der Büroangestellten „weiße“ Löhne, aber im Allgemeinen kann der Anteil der informellen Löhne 80 Prozent erreichen. Der durch das Gesetz geschützte Arbeitnehmer hat das Recht und die Möglichkeit zu streiken, wie es gerade die französischen Fluglotsen oder die belgischen Eisenbahner machen. Die „Schattenarbeitskraft“ jedoch ist schutzlos und völlig abhängig von der Laune des Arbeitgebers.

Gegen den Wind der Geschichte

All diese Nachteile der sozialen Protestbewegung können korrigiert werden. Jedoch erlebt die Ukraine gerade eine Phase, in der die Implementierung der sozialen Gerechtigkeit nicht wichtig ist. Nach dem Erreichen der Unabhängigkeit standen die Ukrainer vor dem Problem der nationalstaatlichen Selbstbestimmung. Welchen Weg soll das Land gehen? Wem gehört unser Staat? Gerade deswegen wurden die ersten Punkte auf der Tagesordnung die Frage der Sprache, der Geschichte und der geopolitischen Ausrichtung.

Allen Meinungsumfragen zufolge machen sich die meisten Ukrainer Sorgen über die Preise, die Löhne und die Sicherheit – kurz gesagt sorgen sie sich um alles, was sich in den Fundamenten der Maslowschen Bedürfnispyramide befindet. Jedoch sind alle großen Unruhen im Land auf nationalstaatliche Probleme zurückzuführen. Die Majdane und Antimajdane ergaben sich durch die Geopolitik, und nicht durch Steuern. Die Bewohner des Bergarbeitergebiets griffen nicht zu den Waffen, als ihre Bergwerke geschlossen wurden, sondern als sie eine Bedrohung für die eigene Identität verspürten.

Natürlich wünschen sich die Ukrainer auch soziale Gerechtigkeit. Aber wenn eine Nation versucht, sich aus der Schlinge der ehemaligen Hauptstadt zu befreien, scheint der Kampf um die Rechte der Arbeiter verfehlt zu sein, insbesondere unter den Bedingungen einer von außen kommenden militärischen Aggression, welche einen starken Impuls zur Solidarität gibt und die inneren Widersprüche erstickt. Dafür, dass das Team von Ihor Kolomojskyj [Multimilliardär und Oligarch, zeitweise Gouverneur der Oblast Dnipopetrowsk, Anm.d.Ü.] den „russischen Frühling“ [die prorussischen Unruhen in der Ukraine 2014, Anm.d.Ü.] in Dnipopretowsk erstickte, sind wir bereit, ihm alles zu verzeihen, was der Oligarch verschuldet hat.

Daher: Wenn die Bergleute gehen und mit den Helmen klappern, wird man sie im besten Fall als arrogante Schurken ansehen. Und im schlimmsten Fall sieht man sie als die Komplizen des Feindes, der das Land von innen untergräbt. Deswegen hat die Regierung die einmalige Gelegenheit, unpopuläre Reformen mit einem minimalen Risiko von sozialen Unruhen einzuführen. Allerdings kann auch diese Chance ausgenutzt werden, um das Land ungestraft unter dem Deckmantel patriotischer Parolen zu plündern.

Wenn eine Nation Rückenwind erhält, besteht immer noch die Gefahr, auf Riffe zu laufen. Man möchte glauben, dass man das auf der Kapitänsbrücke und in der Mannschaftskajüte weiß.

28. April 2015 // Oleksandr Fomenko

Quelle: Zaxid.net

1 Mit der brownschen Bewegung ist die vom schottischen Botaniker Brown 1827 entdeckte unregelmäßige Wärmebewegung kleiner Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen gemeint, Anm.d.Ü.

Übersetzerin:   Wiebke Pahl  — Wörter: 1085

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