Von der sozialen Verantwortung des Schöpfers und der sozialen Mythenbildung
Jurij Andruchowytsch, ukrainischer Schriftsteller, hat ein viel beachtetes Interview unter dem Titel „Sollten die Orangen gewinnen, dann muss man der Krim und dem Donbass die Möglichkeit zur Abspaltung geben.“ gegeben. Da dies, setzt Andruchowytsch fort, „politisch eine andere Nation“ sei, nämlich ein Teil der russischen. Zum Spezialisten für die nationale Frage avanciert, geht Andruchowytsch weiter und schlägt der „im Donbass und auf der Krim existierenden, ukrainischen Minderheit Emigration vor, da sie in die Ecke gedrängt, ständig verfolgt würden und kein einziges Projekt umsetzen könnten.“
Herr Andruchowytsch drückt sich nicht zum ersten Mal so radikal aus. Ein Zitat aus einem Interview des „Lewyj Bereg“: „Man hätte 2004 eben doch die Chance nutzen und dem Donbass eine Abspaltung ermöglichen sollen.“
Das ist nur Teil einer spezifischen Diskussion, von der in letzter Zeit einige ukrainische Intellektuelle erfasst wurden. Oles Donij teilte beispielsweise am 25.06.2010 mit: „Die Ideologie der derzeitigen Machthaber ist russischer Nationalismus und Ukrainophobie“. Außerdem sagte er am 18. Juli, dass seiner Meinung nach „der russische Nationalismus der derzeitigen Machthaber eine allseitige Unterstützung der russischen Sprache, der russischen Kultur und Russlands als Staat“ wäre.
Ich kann die Worte Andruchowytschs nachvollziehen, wenn er versucht, künstlerisch eine Diskussion über die allgemein gültigen Wertmaßstäbe im Land zu provozieren. Auch die Aussage Donijs ist verständlich, denn er sucht für sich und seine politische Kraft einen Platz in der Sonne und driftet dabei langsam entweder in Richtung des BJuT oder der politischen Bedeutungslosigkeit.
Wenn sie ihre Aussagen auch nur einigermaßen ernst meinen, muss man zugeben, dass nicht nur unsere Gesellschaft krank ist, sondern auch einige jener, die sich selbst als ihre Elite bezeichnen. Denn bei klarem Kopf kann der Künstler Andruchowytsch den Zerfall der Ukraine und umso mehr die Folgen dieses Zerfalls, welche er, da bin ich sicher, nicht vorhersagen kann, nicht gut heißen. Auch kann der Politiker Donij als studierter Historiker nicht übersehen, dass der „russische Nationalismus“ kanonische Orthodoxie, Selbstherrschaft und Volkstümlichkeit ist, was bedeutet, dass er Unsinn beinhaltet, weil er Ideologeme aus allem Existierenden formt.
Im Übrigen ist dies alles ein Beweis für das tiefe Unverständnis insbesondere darüber, dass die Politik der neuen Machthaber, die Politik Janukowitschs, jene Leute befriedigt, die für ihn gestimmt haben.
Ich will versuchen, dieses Unverständnis zu beseitigen.
Für Janukowitsch haben nicht nur der Donbass und die Krim gestimmt. Für Janukowitsch habe auch ich gestimmt, der ich aus Tscherkassy stamme, als einer von vielen, die von der humanitären Politik der vorherigen Machthaber nicht begeistert waren, die mit ihr kategorisch nicht einverstanden waren und öffentlich gegen sie protestiert haben. Als einer von vielen für die – wie für mich – die Ukraine nicht weniger Heimat ist als für Andruchowytsch oder Donij. Und ich werde wohl kaum von hier wegziehen. Natürlich werde ich es Andruchowytsch und Donij nicht verbieten, hinter die Grenzen des Sbrutschs zu ziehen, denn das würde ihr Recht auf freie Wahl des Wohnorts verletzen.
Die Herren Andruchowytsch und Donij gehen davon aus, dass sie selbst die Ukraine sind, dass ihre Meinung die der Ukraine ist und die andere – russisch, fehlerhaft und feindselig. Aber nein meine Herren, das ist sowohl ihre als auch unsere Ukraine.
Wir werden uns niemals mit der einseitigen Interpretation des Ukrainischen als ethnisch Nationalem einverstanden erklären. Das heißt, sie haben ein Recht auf ihre eigene Interpretation, aber nicht darauf, dass wir diese Interpretation teilen. Für uns ist die Erfüllung der Menschenrechte wichtiger als das Recht einer jeden Nation. Deswegen sind die Handlungen Dimitrij Tabatschniks, in deren Folge die jüngeren Bürger der Ukraine das Recht auf äußere Überprüfung ihrer eigenen Muttersprache gewonnen haben, des Tabatschniks, den Herr Andruchowytsch gern als Kriminellen darstellt, positiv für die ukrainische Gesellschaft.
Andruchowytsch behauptet, dass der derzeitige Zustand der Ukraine dem eines „okkupierten Landes“ gleichkomme. Und er setzt fort: „Okkupanten sollte man Widerstand leisten, für den Anfang ohne Gewalt. Boykott und Sabotage sind eine sehr effektive Methode. Steuerhinterziehung, wo es möglich ist. Nichterfüllung ihrer Anordnungen.“ Sollten dies künstlerische Übertreibungen sein, so kann man Andruchowytsch in seiner „Adäquatheit“ nur bemitleiden. Sollte es sich aber um den Versuch handeln, jemandem Angst zu machen, so ist er umsonst: In der Ukraine hat schon lange niemand mehr vor etwas Angst – an Bedrohungen haben wir uns 2004 gewöhnt. Aber lassen sie uns als loyale Bürger unseres Landes einen Moment nachdenken: was wäre 2004 geschehen, wenn wir, die „Blau-weißen“, mit ähnlichen Aufrufen zum zivilen Ungehorsam aufgetreten wären?
Wir werden nie damit einverstanden sein, dass Stepan Bandera ein Held der Ukraine sein kann. Ein politischer Anführer, dessen für ihn und seine Zeit natürliche Ideologie des integralen Nationalismus alle Anzeichen des Rassismus trug, als er am 30. Juni 1941 nach dem Überfall des faschistischen Deutschlands auf die UdSSR die „Unabhängigkeit“ proklamierte. Ist es wirklich nicht klar, dass, wäre dieser Überfall nicht gewesen, Bandera die Unabhängigkeit im für ihn günstigsten Fall höchstens in Przemyśl hätte proklamieren können? Finden wir in der Geschichte der Ukraine tatsächlich keine anderen, demokratischen Helden? Den Politiker und Bürgerrechtler Wjatscheslaw Tschornowil zum Beispiel? Den Raketenkonstrukteur Michail Jangel? Die Künstlerin Tatjana Jablonskaja?
Wir werden nie der Ansicht bezüglich des okkupierenden Regimes zustimmen, nicht des jetzigen und nicht dessen, welches es angeblich bis 1991 gegeben hat. Und sei es deswegen, weil es ideale, politische Regime weder in der Ukraine noch anderswo auf der Welt je geben wird. Die Ukraine entstand während des „okkupierenden Regimes bis 1991“ in ihren heutigen Grenzen (zu denen Stepan Bandera keine Beziehung hatte) erst und die Herren Andruchowytsch und Donij haben dort ihre Ausbildung genossen. Die Ukraine brachte es in jenen Jahren durch die Kräfte seines Volkes, seiner Vertreter verschiedener Nationalitäten zu etwas, und der Zerfall dieses Zustands setzt sich in hohem Maße fort.
Wir werden nie der totalitären Ansicht zustimmen, dass es „in der unabhängigen Ukraine eine eigene unabhängige Kirche geben sollte“ und auch nicht dem Versuch der Machthaber eine solche zu schaffen. Andruchowytsch und Donij haben das Recht, negativ auf den Ukrainebesuch des Patriarchen Kyrill zu reagieren. Auch die Kritik, dass die Übertragung des Besuchs im Ersten Staatlichen Fernsehen das konstitutionelle Prinzip der Trennung zwischen Kirche und Staat verletzen würde, ist berechtigt. Aber sie haben geschwiegen, als im Jahr 2009 – zugegeben unter anderer Führung beim Ersten Kanal – an einem der Tage des Besuchs von Kyrill, der Patriarch der ukrainischen Kirche auf diesem Kanal auftrat. Wenn es schon einen Standard gibt, dann doch bitte den gleichen für alle.
Wir werden niemals einer Deutung des Golodomor als Genozid an den ethnischen Ukrainern zustimmen. Auf dem Territorium der Ukraine sind am stalinistischen Verbrechen des Golodomor nicht nur Ukrainer sondern auch meine Verwandten, Tschechen, deren einziges Vergehen ihre ökonomische Selbstgenügsamkeit war, umgekommen. Sie wurden getötet, ohne dass man gefragt hätte, welcher Nationalität sie wären.
Die wirkliche Suche nach gemeinsamen Werten für die Ukraine kann verschieden verlaufen.
Der Lwower Politologe Jaroslaw Grizak sprach am 13. Mai 2010 davon, dass man „ein Verbot für die Benutzung des Andenkens im politischen Sinne aufstellen“ sollte, dass man „ein angelsächsisches Modell einführen sollte, in dem der eine Bandera und der andere Stalin für seinen Helden halten kann, beide aber einander ertragen und verstehen sollten, dass der eine wie der andere Verbrecher waren“. Unter den „Blau-weißen“ ist eine Minderheit der Meinung, dass Stalin ein Held wäre, aber wir erinnern uns, dass drei westukrainische Gebietshauptstädte Bandera zum verdienten Bürger gekürt haben. Jaroslaw Gritzak glaubt, dass das Volk durch die Erinnerung an die Opfer von Tragödien geeint werden könnte.
Eine andere Art der Vereinigung des Landes stellt die gedankliche Erfassung der gesamten, nicht einfachen Geschichte der Ukraine innerhalb des Russischen Imperiums und der Sowjetunion dar, geleitet von der Einsicht, dass es, wie ich bereits gesagt habe, keine idealen historischen Perioden und nichts schwarz-weißes gibt. Eine dritte Methode wäre die Diskussion darüber, welche Zukunft der multinationalen Ukraine bevorsteht, die verschiedene Helden und verschiedene Wertvorstellungen besitzt.
Aber ich weiß nicht, wann wir mit dieser Diskussion beginnen werden. Denn der Schriftsteller und Künstler Andruchowytsch sollte die soziale Verantwortung für das von ihm gesagte wenigstens ein bisschen verstehen. Wenn sie davon hören, dass man den Schriftsteller Andruchowytsch wegen separatistischen Aufrufen vor Gericht stellt, wie man es mit Jewgenij Kuschnarjow und anderen 2006 getan hat, sagen sie mir Bescheid. Ich werde zu seiner Verteidigung protestieren. Aber das derzeitige Schweigen bezüglich des Separatismus Andruchowytschs von Seiten derer, die 2005 die Kreuzigung der „Blau-weißen“ für Sewerodonezk forderten, wundert mich nicht – angesichts der Wasserscheide zwischen uns, den Bewohnern eines noch einigen Landes, nach dem Prinzip „der Eigene – der Andere“.
30. Juli 2010 // Wjatscheslaw Pichowschek
Quelle: Lewyj Bereg
Andruchowytsch hat sich jetzt auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Wort gemeldet.