Soziologie gegen fremdenfeindliche Propaganda


Fremdenfeindlichkeit wandelt sich vom traditionellen Steckenpferd der Rechtsradikalen zu einem beliebten Mittel ideologisch-populärer Mobilisierung. Zu diesem Mittel greifen oft sogar durchaus geachtete europäische führende Köpfe.

Was haben die Guerillaagitation des „Ukrainischen Patrioten” (Patriot Ukrainy), die unverhältnismäßige Antwort eines Beamten des föderalen Migrationsdienstes der Russischen Föderation (Ausweisung von hundert Tadschiken aus der Russischen Föderation als Reaktion auf die Festnahme eines russischen Piloten. A.d.Ü.) und das Thema der rumänischen Roma im französischen Fernsehen gemeinsam? – Das Bild des perfiden feindlichen Migranten, der sieben Länder durchquert, um exotische Krankheiten einzuschleppen und Verbrechen und Drogenabhängigkeit, die Arbeit schlecht zu erledigen, die er den Heimischen wegnimmt, keine Steuern zu zahlen, fremde soziale Güter zu nutzen, der alteingesessenen Bevölkerung auf die Nerven zu gehen und den Alltag schwer zu machen.

Von völlig begründeten Forderungen an die „nicht-von-hier-Kommenden“ und ihre Quantität zeichnet Fremdenfeindlichkeit Folgendes aus:

Die Unangemessenheit dieser Wahrnehmung macht auch der Umstand deutlich, dass das engstirnige durchschnittliche Bewusstsein bereit ist, alle diejenigen für „Rawschan und Dschumschut“ (Im Russischen stereotypisierende Bezeichnung für Gastarbeiter. A.d.Ü.) zu halten, die von der antimigrantischen Propaganda als solche gestempelt werden. Gleichzeitig aber begegnet man den „Star-Arbeitern“ voller Ehrfurcht – den Legionären des Sports, den Expatriats in der Politik, den importierten Stars des Fernsehens und des Showbiz.

Als handele es sich um Außerirdische.

Vom „Institut für Menschenrechte und Xenophobie- und Extremismusbekämpfung“ wurde gemeinsam mit dem „Kiewer internationalen Institut für Soziologie“ eine soziologische Studie mit Ausländern durchgeführt, die während unterschiedlicher Zeiträume zum Leben, Studieren und Arbeiten in die Ukraine kamen.

Wie die Daten der Studie und reale menschliche Schicksale zeigen, halten die populären, fremdenfeindlichen Mythen keiner soziologischen Kritik stand. Der Ausländer, welcher zum Studieren, Leben und Arbeiten in die Ukraine kommt, entspricht überhaupt nicht dieser „Ausgeburt der Hölle“, welche die professionellen Xenophoben und populistischen Politiker dem Durchschnittsbürger an die Wand malen.

Erster Mythos: „In letzter Zeit beobachten wir einen nie dagewesenen Anstieg der Anzahl der Migranten.”

Entgegen dieser weitläufigen Meinung zeigen die Sozialwissenschaften: in den letzten zwanzig Jahren gibt es keine besonderen Wellen migrantischer Bewegung in der Ukraine.

In den Jahren 1991 bis 1994 kamen 20,2 % der heute in der Ukraine lebenden Migranten, zwischen 1995 und 1999 – 25 %, in der Zeit zwischen dem Jahr 2000 und 2004 – 21,2 %, von 2005 bis 2009 – 25,3 %, und zwischen 2010 und 2011 – 7,3 %.

Wenn man die Dynamik nach Jahrzehnten betrachtet, dann sind die Zeitspannen 1991 bis 2001 und 2001 bis 2011 vergleichbar. Bis zum Jahr 1991, das ist offensichtlich, war diese Tendenz nicht weniger ausgeprägt, denn allein die Anzahl ausländischer Studierender und Arbeiter, die in die UdSSR kamen, um von der sowjetischen Leitkultur zu lernen – war, der Ordnung gemäß, höher als heute.

Das heißt, mindestens seit 20 Jahren ist ein zureichend ähnlicher Prozess zu beobachten, ohne Anzeichen eines Booms oder Prognosen eines wesentlichen Wachstums.

Zweiter Mythos: Der Migrant ist ein „asoziales Element“ und ein „sozialer Parasit“.

Die Unbeständigkeit dieses Mythos zeigt eine ganze Reihe von Zahlen.

  1. Die Einwanderer in die Ukraine bringen ein ausreichend hohes Bildungsniveau mit: 51 % haben eine akademische Ausbildung, 22 % – eine Fachausbildung, 34 % – die abgeschlossene mittlere Reife. Das heißt sie stammen offensichtlich nicht „aus der untersten sozialen Schicht“.
  2. Die große Mehrheit der Migranten, 74 %, sind arbeitende Menschen. Von denen, die zur Zeit nicht arbeiten, studieren 42 %, befinden sich 19 % in Schwangerschaftsurlaub oder haben das Rentenalter erreicht, sind 13 % offiziell arbeitslos oder suchen Arbeit und 8 % verfügen über keine offiziellen Dokumente, um legal Arbeit zu finden.
  3. Migranten streben die Legalisierung ihres Status sowie legale Einkünfte an. 81 % der Befragten leben ständig, auf legaler Grundlage in der Ukraine – sie haben die Staatsbürgerschaft, eine Registrierung und eine Arbeitsgenehmigung erhalten. Und nur 9 % halten sich illegal auf oder sind Flüchtlinge. Die restlichen 10 % sind Studenten oder Arbeitsmigranten auf Zeit.

56 % der Migranten haben eine offizielle Arbeitserlaubnis, 14 % – arbeiten als private Unternehmer und haben offizielle Dokumente zur Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit. Die übrigen arbeiten nach mündlicher Absprache oder sind ohne Lizenz unternehmerisch tätig – davon planen 62 % die notwendigen Lizenzen und Genehmigungen in nächster Zeit ausgehändigt zu bekommen.
Rund die Hälfte der Befragten ist sozusagen arbeitnehmerisch sesshaft, das heißt, sie arbeiten die ganze Zeit über an ein und demselben Ort. Ein Viertel hat den Arbeitsplatz einmal in 2 bis 3 Jahren gewechselt.

Ein soziologisches Faktum: in den meisten Fällen ist der typische Migrant in der Ukraine eine ökonomisch benötigte Person, und sogar ein ehrlicher Steuerzahler sowie Zahler aller möglichen Abzüge.

Dritter Mythos: Die Ukraine ist wie ein „Magnet“ für Migranten. Die Unhaltbarkeit dieser These zeigt das Leben selbst, genauer die sozial-ökonomischen Gegebenheiten.

Bei der Einschätzung des Lebens in der Ukraine, gaben lediglich 23 % der Befragten an, dass das Leben in der Ukraine besser sei als im Herkunftsland, 21 % meinen, dass das Leben in der Ukraine schlechter sei, als in ihrem Land heute, 17 % meinen, dass man in der Ukraine gut leben würde, aber früher das Leben im Heimatland um vieles besser gewesen sei, als heute in der Ukraine und 31 % der Befragten meinen, dass das Leben in der Ukraine sich nicht vom Leben im Heimatland unterscheidet.

Lediglich 17 % der Befragten meinen, dass das Leben in der Ukraine besser sei, als in anderen Ländern der GUS. 30 % sehen keinen Unterschied zwischen der Ukraine und anderen Ländern der GUS.

Jeder Vierte bemerkt, dass in anderen Ländern der GUS das Leben besser sei als in der Ukraine.

Im Laufe der Untersuchung wurde den Interviewten eine Frage gestellt über Emigrationsstimmungen unter den Verwandten, Freunden und Bekannten, die sie im Heimatland zurückgelassen haben.

48 % der Befragten gaben an, dass ihre Landsleute überhaupt nicht beabsichtigen ihr Heimatland zu verlassen. 21 % äußerten die Meinung, dass ihre Landsleute in europäische Länder auswandern könnten, jedoch nicht in GUS-Staaten und die Ukraine. 6 % meinen, dass ihre Landsleute in andere Länder der GUS auswandern könnten, jedoch nicht in die Ukraine.

Lediglich 15 % nannten die Ukraine als geeignetes Land, in welchem sich ihre Verwandten, Freunde und Bekannte niederlassen könnten.

Vierter Mythos: Bei einer Bodenreform könnten die Migranten das ukrainische Land kolonisieren.

Eine derartige Meinung hört man immer häufiger. Aber weder Hoffnungen noch Befürchtungen in dieser Hinsicht verfügen über standhaltende soziologische Grundlagen.

Die absolute Mehrheit der Migranten, 78 %, lebte vor der Einwanderung in die Ukraine in Städten. In Siedlungen mit städtischem Charakter lebten 7 %, in Dörfern 13 %.

In der Ukraine lebt die Mehrheit der befragten Migranten – 81 % – in Städten mit einer Bevölkerung von über 50.000 Bewohnern und mehr.

Die Beschäftigungsstruktur der Einwanderer enthält auch keine Anzeichen dafür, dass sie vom landwirtschaftlichen Sektor angezogen werden könnten: 48 % der Interviewten arbeitet zur Zeit im Handel, 11 % – in Medizin, Bildung und Wissenschaft, 8 % – im Baugewerbe, 7 % im Bereich Sicherheitsdienstleistungen, Restaurantbetrieb und Lebensmittelherstellung, Marketing und Tourismus, 5 % – in der Industrie.

Es ist offensichtlich, dass Migranten in der großen Mehrheit Träger der städtischen Kultur sind und danach streben, in Städten mit ausreichend hohem Lebensstandard und Beschäftigungsgrad zu leben.

Fünfter Mythos: Migranten interessieren sich nicht für die ukrainische Gesellschaft.

80 % der Migranten können sich frei mit der örtlichen Bevölkerung auf Russisch oder Ukrainisch unterhalten. 65 % der Interviewten mit minderjährigen Kindern sprechen mit diesen in der Muttersprache – neben der ukrainischen und russischen Sprache, 23 % – sprechen nur Ukrainisch und Russisch, 12 % – nur in der Muttersprache. Dabei werden 66 % der Kinder von Migranten in gewöhnlichen Schulen unterrichtet, 7 % – in spezialisierten Schulen und lediglich 2 % in Botschafts- oder Konsulatsschulen.

62 % der Befragten wünschen sich für ihre Kinder einen Hochschulabschluss in der Ukraine. Die Hälfte der Befragten mit minderjährigen Kindern meint, dass ihre Kinder in der Ukraine bleiben würden, 27 % – fiel eine Antwort schwer, 7 % – meinen, dass ihre Kinder in deren Heimatland zurückkehren würden, 11 % – werden ins Ausland gehen.

Zur Beziehung zwischen Migranten und den alteingesessenen Ukrainern meinen 80 % der Interviewten, dass sie sich immer auf die Hilfe ihrer Nachbarn verlassen können, 91 % haben Freunde unter der örtlichen Bevölkerung, die sie um Hilfe fragen können. Dabei denken 63 % nicht, dass sie falls notwendig nur ihre Landsleute um Hilfe bitten können, 93 % können sich offen zu ihrer Religion bekennen und nationale Traditionen pflegen, 91 % geben an, dass ihre Nachbarn und Arbeitskollegen ihre Ansichten und Überzeugungen respektieren.

Aufgrund der Umfrageergebnisse kann mithilfe einer Festlegung der Antworten auf einer Skala von 0 bis 100 und der Ermittlung eines Mittelwertes ein Integrationsindex der Migranten errechnet werden. Der Indexwert liegt bei 78 Punkten, was von einem sehr hohen Integrationsniveau zeugt.

Paradoxer Weise, aber Fakt – im Land fehlt zum 21. Jahr der staatlichen Unabhängigkeit eine staatliche Migrationspolitik bis dato gänzlich – Bedarfsprognosen, Quoten, eine offizielle Statistik, eine Regulierungsbehörde, europäische Gesetzgebung, Kontrolle und so weiter. Aber die ukrainische Gesellschaft und die reale Wirtschaft bringen dennoch alles irgendwie selbst in Ordnung!

Bleibt nur hinzuzufügen, dass die fremdenfeindliche Propaganda für gewöhnlich einige wichtige Fakten aus dem Bereich der Migrationspolitik verschweigt:

So ist die Soziologie… Genauer gesagt, das wirkliche Leben.

04.01.2012 // Aleksandr Feldman, Abgeordneter der PR-Fraktion im ukrainischen Parlament und Gründer des „Instituts für Menschenrechte und Xenophobie- und Extremismusbekämpfung“

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Wenke Lewandowski  — Wörter: 1600

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