Spiel ohne Regeln
Keiner unserer Zeitgenossen wurde dermaßen unterschiedlich bewertet wie Wladimir Wladimirowitsch Putin.
Einige berzeichnen ihn als Nichtigkeit, verabscheuungswürdigen Zwerg und überhaupt lala-lala-lala-lala. Andere als böses Genie, das uns in Chaos und Blutvergießen stößt.
Putin wird als armseliger Pygmäe bezeichnet, der die gesamte zivilisierte Welt herausfordert. Und hier beschwert man sich, dass die führenden Staatschefs der Welt bereit sind, unser Land Wladimir Wladimirowitsch zu überlassen. Die Handlungsweise des russischen Präsidenten wird als Wahnsinn bezeichnet. Und gleichzeitig beklagt man sich, dass WWP wieder „alle übertrumpft hat“.
Die Ukraine hat zu lange an die Stärke der westlichen Gemeinschaft geglaubt, an die Macht der großen westlichen Meister. Wir hatten vergessen, dass das zivilisierte Europa im 20. Jahrhundert nicht nur von Hitler und Stalin, sondern auch von wahnsinnigen afrikanischen Diktatoren ausgespielt wurde. Die barbarischen Wilden konnten machen, was sie wollten, sonnten sich in ihrer Immunität. Die Weltgemeinschaft aber konnte lediglich zuschauen.
Um alle zu schlagen, muss man nicht unbedingt besser spielen als alle anderen. Man muss lediglich die Regeln brechen. Ein Großmeister sinniert über geschickte Spielzüge, man beginnt aber Tschapajew (sowjetisches Brettspiel) zu spielen. Ein muskulöser Gentleman bereitet sich auf einen Boxkampf vor, bekommt aber einen Tritt in die Weichteile. Ein Sportler nimmt an einem Marathonlauf teil, wird aber von Fahrradfahrern überholt. Ein hervorragender Weg, um zu gewinnen. Die rücksichtslose Verletzung der Regeln entmutigt und entwaffnet, zerstört sämtliche Pläne sowie die existierenden Kräfteverhältnisse.
Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine untermauern dies.
In Kreisen des Antimajdans wächst bereits die Legende von der glorreichen Epoche Janukowitschs, in der Ordnung und Frieden herrschte, in der es heißes Wasser gab und den Dollar für acht Hrywnja, heran. Obwohl WFJ zum Zerstörer der ukrainischen Stabilität wurde. Krawtschuk, Kutschma und Juschtschenko hielten sich an ungeschriebene Gesetze, respektierten unausgesprochene Tabus und wagten nicht, festgelegte Grenzen zu überschreiten. Aufgrund dessen erlebte die Ukraine drei friedliche Machtablösungen. Der vierte Präsident beschloss allerdings, die Dinge anders zu machen.
„Wiktor Janukowitsch, gesetzesmäßig herrscht bei uns ein politisches Gleichgewicht.“ „Zum Teufel mit den Regeln, ich will eine Vertikale wie in Russland.“ „Wiktor Janukowitsch, gemäß den Regeln haben wir einen Konsens mit den Oligarchen.“ „Zum Teufel mit den Regeln, ich habe die Familie.“ „Wiktor Janukowitsch, gemäß den Regeln sollte gegen unterlegene Gegner nicht hart vorgegangen werden.“ „Zum Teufel mit den Regeln, ich schicke Julija in den Knast.“ „Wiktor Janukowitsch, die Menschen sind auf den Majdan gegangen. Gemäß den Regeln sollte man verhandeln und Zugeständnisse machen.“ „Zum Teufel mit den Regeln, ich habe die Berkut (ehemalige Milizsondereinheit, A.d.R.).“
Diese Nashorn-Taktik war erfolgreich. Solange die Gegner der Bankowaja (Präsidentensitz, A.d.R.) nach den alten Regeln spielten, der Präsident diese aber schamlos brach, ging er zuversichtlich voran. Weder zornige Reden, noch tosende Kundgebungen oder die Besorgtheit Europas halfen. Janukowitsch konnte erst im Januar 2014 zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Täter könnte mit einer noch eklatanteren Verletzung der Regeln überrascht werden. Statt Schach spielt man mit Ihnen Tschapajew? Ziehen Sie dem Gegner das Schachbrett über den Kopf. Sie hatten sich auf einen Boxkampf vorbereitet und einen Schlag unter die Gürtellinie erhalten? Sprühen Sie dem Gegner Pfefferspray in die Augen. Beim Marathonlauf überholt Sie ein Teilnehmer mit dem Fahrrad? Setzen Sie sich auf ein Motorrad.
In unserem Fall sah die asymmetrische Antwort folgendermaßen aus: „Ukrainer, gemäß den Regeln haben wir einen friedlichen und gewaltfreien Protest.“ „Zum Teufel mit den Regeln, wir haben Molotow-Cocktails!“ Es lohnte sich, die verbotene Linie zu überschreiten, und das Regime, das bis dato als unbesiegbar galt, brach innerhalb eines Monats zusammen.
Freilich konnte man den Sieg nicht lange genießen: In das Spiel mischte sich ein Mann, der bereit ist, auf den gewohnten Normen noch energischer als Janukowitsch oder der Majdan herumzutrampeln. Während der Hausherr von Meschigorje und die Kiewer Revolutionäre blutige Anfänger waren, ist Putin ein altgedienter Profi. Seine gesamte politische Karriere basiert auf den Verstoß ungeschriebener Tabus.
2000 hat niemand daran geglaubt, dass Putin auch 14 Jahre später Russland führen wird. Ihm wurde die Rolle des bescheidenen Protegés der Jelzin-Familie und des gewieften Beresowskis zugeschrieben. Spitzfindige Journalisten waren bereit, seine Umfragewerte abstürzen zu lassen. Der Oligarch Chodorkowski konnte eine starke Opposition gegen den Präsidenten und für dessen Untergang aufbauen. Gemäß den damaligen Spielregeln hätte es auch so geschehen müssen. Und Putin schaffte es nur, weil er diese verletzte.
Man darf die reichsten und einflussreichsten Menschen Russlands nicht enteignen? Man darf den populärsten Sender des Landes nicht säubern? Man darf seinen Gegner nicht für zehn Jahre hinter Gittern bringen? Man kann. Und man muss, wenn man gewinnen möchte.
Indem er die alten Regeln brach, wurde Putin der Herr des riesigen Landes. Und jetzt wendet er dieselbe Taktik auf internationaler Ebene an. Für ihn existiert „man darf nicht“ nicht.
Im 20. Jahrhundert ist es möglich, ein Stück des Nachbarlandes zu annektieren. Man kann auf fremdem Territorium einen bewaffneten Aufstand organisieren und Rebellen finanzieren. Man kann reguläre Truppenverbände einmarschieren lassen und deren Existenz mit einem Lächeln abstreiten. Und die zivilisierte Welt wird lediglich mit den Augen klimpern und sich ohnmächtig empören.
Die Europäer, die versuchen, mit Putin fertig zu werden, verharren noch im alten System. Sie können die alten Regeln nicht aufgeben, und sämtliche Sanktionen zielen auf eine Rückkehr Russlands zu den alten Regeln.
Europa hofft, dass der Mann, der Tschapajew spielt, zum normalen Schachspiel zurückkehrt. Sollte dieser zurückkehren, dann nicht, bevor er nicht sämtliche Figuren des Gegners vom Spielfeld gefegt hat. Und dann kann auch zur Freude Europas ein klassisches Endspiel in Betracht gezogen werden.
Anscheinend hat sich Wladimir Putin letzten Endes von seiner Unbesiegbarkeit überzeugt. Ja, heute ist er für die konventionellen Europäer ubesiegbar. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass nicht schon morgen ein noch größerer Regelverstoßer den Weg Putins kreuzen wird. Indem er gesetzte Regeln bricht, schafft der russische Staatschef die Voraussetzungen für eine neue Missbrauchsspirale. Und wenn das passiert, könnte Putin selbst am Ende schwach und hilflos wirken.
Hypothetisch kann eine Lossagung überall stattfinden. Beispielweise folgendermaßen: „Herr Putin, im Namen der Moskauer Volksrepublik sind Sie verhaftet!“ „Das ist nicht rechtmäßig! Ihre MVR stellt eine illegale terroristische Vereinigung dar, und ich bin der Präsident Russlands!“ „Zum Teufel mit den Regeln, Hände über den Kopf, Gesicht zur Wand.“
19. September 2014 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda