"Spielarten, Konflikte und Wechselbeziehungen des ukrainischen und russischen Nationalismus in der heutigen Ukraine" - Studentische Kiew-Exkursion, Mai 2009


Was man über die Ukraine in unseren Medien hört, ist meist spärlich oder stimmt nicht gerade euphorisch. Nach der enthusiastischen Rezeption der friedlichen Orange Revolution, die das Ende der autoritären Kutschma-Ära einläutete sowie Demokratisierung und Westorientierung erwarten ließ, wurde es still um die Ukraine. Erst im Januar 2009 geriet das Land vor allem wegen des Gasstreits mit seinem russischen Nachbarn wieder in die Schlagzeilen, nicht zuletzt, weil man die europäische Energieversorgung in Gefahr sah.

Zwei zentrale Konflikte wurden in dieser Auseinandersetzung offenbar: Einerseits deuten die Probleme der Ukraine, das russische Gas zu Weltmarktpreisen abzunehmen, auf die finanzielle und wirtschaftliche Misere des Landes hin, andererseits zeigte die politische Auseinandersetzung mit Moskau die Grenzen des außenpolitischen Handelns der Ukraine auf. Dass sich die Lösung des Streits über lange Verhandlungsrunden zog, war auch durch die mangelnde Abgrenzung der Regierungskompetenzen und den Machtkampf zwischen dem Präsidenten Juschtschenko und der Ministerpräsidentin Timoschenko bedingt.

Inwieweit die Ukraine vom mächtigen Nachbarn Russland abhängig, in der Frage um die außenpolitische Orientierung nach West oder Ost gespalten und hinsichtlich der eigenen nationalen Identität uneinig ist, war Hauptthema unserer Exkursion nach Kiew.

Auf Anregung und unter organisatorischer Beteiligung von Studierenden der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt fand diese Studienreise vom 08. – 16. Mai 2009 als reguläre Lehrveranstaltung statt und wurde von Dr. Dr. Andreas Umland vom Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) geleitet.

Nach zwei Tagen kulturhistorischen Programms (Konzert- und Ballettbesuche in der Nationaloper der Ukraine, Besichtigung des russisch-orthodoxen Höhlenklosters Petscherska Lavra sowie weiterer Denkmäler und historischer Orte) trafen wir mit Personen des politischen Lebens sowie Experten aus Wissenschaft und Forschung, u.a. in verschiedenen Universitäten, im Parlament der Ukraine und in der Deutschen Botschaft Kiew zusammen.

Die Last der Erinnerung

Einstieg in die Betrachtung der ukrainischen Geschichtskultur bot der Besuch der Parade, die jährlich am 9. Mai, dem „Tag des Sieges“ über das Nazi-Regime, abgehalten wird. Bereits die unterschiedlichen Interpretationen dieses Ereignisses in den Kundgebungen von Veteranen und Parteien des linken Spektrums verdeutlichte die enge Verbindung von Erinnerung und aktueller politischer Auseinandersetzungen.


Bis heute herrscht in der Ukraine keine Einigkeit über die Bedeutung bestimmter historischer Ereignisse für die Geschichte des Landes, das in seinen jetzigen Grenzen seit Ende des Zweiten Weltkriegs besteht (die Halbinsel Krim erhielt die damalige ukrainische Sowjetrepublik zudem erst 1954) und im Jahr 1991 unabhängig wurde.

Abgesehen von einigen eigenstaatlichen Initiativen der Zwischenkriegszeit gehörten die Regionen der heutigen Ukraine jahrhundertelang zu verschiedenen Herrschaftsgebieten (Polen bzw. Österreich-Ungarn sowie zum russischen Zarenreich und später der Sowjetunion) und erfuhren so eine oft gegensätzliche kulturelle und politische Prägung.

Die unabhängige Ukraine befinde sich daher in einem „postkolonialen Transformationsprozess“, so Dr. Taras Kuzio, ein führender Ukraine-Experte, mit dem wir am letzten Exkursionstag zusammentrafen. Nach der Loslösung vom Sowjetimperium sehe sich das Land vor der Herausforderung, seine Geschichte aus ukrainischer Perspektive neu zu schreiben. Wie schwierig dieses Unterfangen angesichts widersprüchlicher historischer Erfahrungen in der heutigen Ukraine ist, zeigt sich am Beispiel der Wahrnehmung des eingangs schon erwähnten, als „Großen Vaterländischen Krieg“ bezeichneten Zweiten Weltkriegs. Ukrainer kämpften in dieser Zeit an beiden Fronten: in sowjetischen Einheiten gegen deutsche Soldaten sowie in verschiedenen Verbänden gemeinsam mit den Deutschen gegen die sowjetischen Truppen. Aus Sicht der ukrainischen Nationalisten habe der Sieg des sowjetischen Lagers über Nazideutschland den endgültigen Verlust der ukrainischen Unabhängigkeit nach sich gezogen, sodass der 9. Mai von den Ukrainern nicht als Sieg gefeiert werden könne.

Die Suche nach einer gemeinsamen nationalen Erinnerung wird darüber hinaus durch den seit Putins Präsidentschaft wieder auflebenden russischen Imperialismus erschwert, der die Ukraine weiterhin als seine natürliche Einflusssphäre betrachtet und die Westöffnung des Landes zu verhindern versucht.

Pluralistisch per Definition

Neben der Problematik einer von allen Ukrainern akzeptierten Geschichtsschreibung ist auch die Sprachenfrage für die Debatte über die nationale Identität von Bedeutung. Offizielle Amtssprache ist allein das Ukrainische, wenngleich von ca. einem Viertel der Bevölkerung ausschließlich das Russische verwendet wird. Während der Sowjetzeit bediente sich der Amtsverkehr in der Ukraine sowohl der ukrainischen als auch der russischen Sprache. Jedoch war das Russische im kulturellen und alltäglichen Leben durch Verwendung in den meisten Tageszeitungen und Fernsehprogrammen weit präsenter. Dies ist teilweise bis heute der Fall. Das Ukrainische wird vor allem in den westlichen Regionen gesprochen, besonders in denen, die erst im Zuge des Zweiten Weltkrieg an die Ukraine angegliedert wurden. In den größeren Städten und im Osten der Ukraine sowie auf der Krim, die lange Zeit zu Russland gehörte, wird überwiegend Russisch gesprochen. Während es für Ukrainischsprechende zumeist kein Problem darstellt, auch Russisch zu verstehen, ist das Russische umgekehrt nur bedingt Schlüssel für die Kommunikation im Ukrainischen, das auch gemäß sprachwissenschaftlicher Untersuchungen der Lexik des Polnischen näher steht. Da Russisch jedoch zur Verständigungssprache zwischen den Völkern der UdSSR avancierte, ist es unwahrscheinlich, dass es heute zugunsten des Ukrainischen völlig verdrängt werden kann und sich die Ukraine somit in ein sprachlich homogenes Land verwandelt.

Wie mit diesen Beispielen der historischen Entwicklung und der Sprache deutlich wird, ist die Ukraine „per Definition“ pluralistisch, was einerseits hinderlich wirkt, aber die Idee einer einförmigen, homogenitätssüchtigen nationalen Identität verbietet.

Der in westlichen Medien zumeist sehr negativ als „ukrainisches Chaos“ präsentierte politische Prozess lässt auch eine positive Interpretation zu: Durch die Vielfalt politischer Kräfte, die in der Ukraine um Einfluss konkurrieren, konnte sich das Land bisher ein im postsowjetischen Kontext hohes Maß an politischen Freiheiten sichern.

Darüber hinaus zeichnet sich die Ukraine durch eine auch im gesamteuropäischen Vergleich ungewöhnlich schwache Präsenz radikal antidemokratischer und fremdenfeindlicher Parteien aus, worauf Dr. Dr. Umland bereits vor unserer Exkursion hinwies. In der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, war seit 1991 bislang nur ein einziges Mal eine als extremistisch einzustufende Partei mit einer eigenen Fraktion vertreten.

Damit diese positiven Entwicklungstendenzen des ukrainischen politischen Systems nicht weiterhin um den Preis der politischen Stagnation realisiert werden müssen, bedarf es eines Wandels der Parteien, die bisher als personenzentrierte Gefolgschaften strukturiert sind. Entwickeln sie sich zu Vereinigungen auf Basis von Werten und politischen Programmen, ist ohne Verlust der Meinungsvielfalt eine Lösung der legislativen Blockade möglich. Die geforderte Überwindung der Oligarchien ist also nicht vollendet. Die Orange Revolution hat unter anderem hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit Erfolge vorzuweisen, am Ziel ist sie aber noch nicht.

Ein ausführliche schriftliche und fotografische Dokumentation der gesamten Reise, unserer Treffen mit verschiedenen deutschen und ukrainischen Experten und Politikern ist in Vorbereitung. Dieses Reisejournal wird demnächst auf der WWW-Seite des ZIMOS unter http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/ abrufbar sein.

Anja Schmotz, Michael Werner, Inna Savidfoluschi

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