2011 gilt als entscheidendes Jahr in den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine. Über die Ergebnisse des ersten Halbjahres sowie Zukunftsperspektiven sprach der ukrainischen „Eurobulletin“ mit dem Dozenten des Fachbereichs Politologie der Nationalen Universität “Kiewer Mohyla-Akademie” (Ukraine) und Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ (Deutschland) Andreas Umland.
– Betrachtet man die Beziehungen EU-Ukraine im ersten Halbjahr 2011: kann man dann davon sprechen, dass alles nach Plan läuft?
А.U.: Es gab sowohl positive als auch negative Entwicklungen. Mehr oder weniger erfolgreich wurden die Verhandlungen zum Freihandels- und Assoziierungsabkommen fortgesetzt. Gleichzeitig sind viele Prozesse innerhalb der Ukraine unbefriedigend – was den Aufbau eines Rechtsstaates, politischen Pluralismus und Demokratie betrifft. Diesbezüglich verschlechterte sich die Situation.
– Stellt das Gerichtsverfahren gegen die frühere Premierministerin, Julia Timoschenko, ein potentielles Risiko für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine sowie die von Ihnen erwähnten Verhandlungen dar?
А.U.: Ich denke, ja – wenn das verhängte Urteil ungerechtfertigt hart ausfällt und ihrem Ausschluss aus der Politik dient. Europa wird dies definitiv als Ausschaltung eines führenden oppositionellen Politikers unter zur Hilfenahme strafrechtlicher Mittel interpretieren.
Es ist nicht auszuschließen, dass Timoschenko irgendwelche Gesetze verletzt hat und tatsächlich Gründe für eine gerichtliche Untersuchung vorliegen. Aber in der Ukraine wurden und werden von vielen Vertretern der Staatsgewalt Gesetze verletzt, ohne dass diese zur Verantwortung gezogen werden. Die beharrliche Strafverfolgung gerade Timoschenkos legt den Gedanken einer selektiven, politisch motivierten Justizmaßnahme gegen sie nahe.
– Vor einigen Monaten herrschte in der Ukraine Aufregung aufgrund einer möglichen Wende in Richtung der Zollunion Russlands, Kasachstans und Weißrusslands – dies hätte die Unterzeichung eines Freihandelsabkommens mit der EU unmöglich gemacht und einem Assoziierungssabkommen den Sinn entzogen. Gehört dies alles jetzt der Vergangenheit an oder könnte das Thema Zollunion erneut an Aktualität gewinnen?
А.U.: Theoretisch liegt alles im Bereich des Möglichen. Sollte Julia Timoschenko aus dem politischen Leben entfernt werden, würde eine Zuspitzung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine unvermeidbar werden. Dies würde eine Kettenreaktion auslösen – unter anderem könnten erneut Überlegungen hinsichtlich der Zollunion laut werden.
Aber dennoch ist der Annäherungsprozess, so scheint mir, zwischen der Ukraine und der EU bereits zu weit vorangeschritten, als dass sich Kiew ein derart hartes Wendemanöver erlauben könnte. Dies würde in der Gesellschaft Ablehnung hervorrufen.
Darüber hinaus begreift man wahrscheinlich sogar in der Partei der Regionen, dass der Beitritt zur Zollunion einen riskanten Schritt darstellt. Zum Einen könnte diese von Russland zur Erhöhung seines politischen Einflusses auf die Ukraine instrumentalisiert werden, bis hin zum teilweisen Verlust der ukrainischen Souveränität. Sowohl die Partei der Regionen als auch Wiktor Janukowitsch werden kaum ein Interesse daran haben. Zum Anderen haben Russland und Weißrussland, und zu einem gewissen Grad auch Kasachstan, eine Fülle eigener Probleme, was die weitere Entwicklung und Modernisierung ihrer Gesellschaften angeht. Daher wäre es aus strategischer Sicht unvernünftig einem Bündnis beizutreten, in dem sich zwei von drei Ländern selbst zum jetzigen Zeitpunkt am Scheideweg befinden. Man weiß nicht, was künftig mit Russland und Weißrussland geschieht, welche Richtung sie einschlagen werden. Der Anschluss an eine solche Organisation wäre für die Ukraine eine Sackgasse.
Natürlich hat die EU derzeit auch genügend Probleme. Aber es gibt Lösungswege, zumindest auf lange Sicht, hinsichtlich der Eurokrise. Insgesamt ist die Entwicklung der Europäischen Union eher vorhersehbar, als die der Zollunion.
– Sie haben eine mögliche Positionierung des ukrainischen Establishments zur Zollunion dargestellt. Aber wie aufrichtig erscheinen Ihnen die proeuropäischen Deklarationen der Machtinhaber? Die Entwicklung Richtung EU bedeutet doch eine Stärkung der Demokratie, proeuropäische Umwandlungen innerhalb des Landes, die für viele nicht vorteilhaft sind.
А.U.: Natürlich existieren Zweifel an der Aufrichtigkeit der Verlautbarungen vieler ukrainischer Staatsdiener und Politiker hinsichtlich der Entwicklung in Richtung EU. Aber die Vorstellung einer Eurointegration ist innerhalb der ukrainischen Bevölkerung populär, zudem in sämtlichen Regionen – und dies müssen sie berücksichtigen. Auch wenn es sich hier seitens der ukrainischen Obrigkeit um ein Spiel handeln sollte, ist es bereits weit gegangen. Ein Ausstieg aus dem Integrationsprozess wäre aus politischer Sicht teuer. Das würde große Enttäuschung hervorrufen.
Der Verhandlungsprozess mit der EU, insbesondere die Umsetzung des Aktionsplans zur Liberalisierung der Visabestimmungen, stellt in den Augen der Bürger eines jener seltenen positiven Momente in der derzeitigen Politik der jetzigen Machthaber dar. Dies gibt den Bürgern ein Gefühl der Hoffnung, von Perspektive. Eine Abkehr von der Annäherung an die EU würde für die Regierung und die Partei der Regionen einen weiteren Popularitätsverlust bedeuten. Dagegen können sie, wenn sie die Abkommen mit der Europäischen Union unterschreiben, erklären „Seht, wir versprachen einen Durchbruch in den Beziehungen mit der EU, wir sind auf dem Weg nach Europa“. Möglicherweise ist genau dies die Motivation hinter den Verhandlungen.
– Aber was für Absichten könnte die EU haben? Inwiefern existieren geopolitische Erwägungen bezüglich der Ukraine und sollten diese überhaupt existieren?
А.U.: In der Europäischen Union existieren diesbezüglich keine eindeutigen Meinungen. Einerseits besteht das klare Bestreben, die Ukraine zu einem Teil Europas zu machen. Wenn auch nicht als Mitglied der EU, so doch als Land, dass sich im europäischen Kielwasser der Entwicklung befindet – auch, um dadurch eine Sicherheitszone rund um Europa zu schaffen, worin auch das Ziel der Europäischen Nachbarschaftspolitik besteht. Jedoch existiert ein weiteres geopolitisches Paradigma – das Streben nach ausgeglichenen Beziehungen mit Russland, welches ebenfalls durch sicherheitspolitische und wirtschaftliche Erwägungen diktiert wird. Aber Moskau reagiert sensibel, wenn es um die Beziehungen des Westens zur Ukraine geht, und bestimmte Länder der EU berücksichtigen diesen Umstand. Ein Beispiel war die Absage der NATO gegenüber der Ukraine und Georgien hinsichtlich eines Aktionsplans zur Vorbereitung eines Beitritts auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008. Gerade europäische Staaten, einflussreiche EU-Mitglieder, sprachen sich dagegen aus.
– Hinsichtlich der NATO ist das verständlich – das ist eine Frage der Sicherheit. Aber inwiefern bedroht Russland eine Annäherung der Ukraine mit der Europäischen Union oder aber ein EU-Beitritt der Ukraine?
А.U.: Als aufschlussreich erweist sich diesbezüglich die Wende Moskaus in seinen Beziehungen zur Europäischen Union im Anschluss an den Beginn der EU-Ostpartnerschaft im Jahr 2009. Die politischen Eliten Russlands haben sofort begonnen, Brüssel als Konkurrenten hinsichtlich des Einflusses auf diesen Teil des postsowjetischen Raumes zu betrachten. In Russland lebt noch immer die Idee einer „Sammlung der Länder“ – der Wiederherstellung irgendeines, wie auch immer gearteteten Imperiums, wenn auch womöglich nur informeller Art. Daher, so befürchte ich, wird mit dem Grad der Annäherung der Ukraine an die Europäische Union auch die Spannung zwischen der EU und Russland steigen. Es sei denn, innerhalb Russlands finden selbst Veränderungen statt, und es entwächst den früheren Paradigmen – hört auf, sein nationales Interesse an die Wiederherstellung seiner früheren Einflussphären zu knüpfen.
– Betrachtet man das Dreieck EU-Ukraine-Russland, stellt sich die Situation nicht gerade optimistisch dar: Russland ist gegen einen Beitritt der Ukraine in die EU, die Europäische Union ist ebenso nicht bereit, momentan darüber zu reden, in der Ukraine selbst regen sich Bedenken an der Aufrichtigkeit der Staatsorgane bezüglich einer Eurointegration. In welcher „Ecke“ dieser Dreieckskonstellation sollten vorrangig grundlegende Veränderungen stattfinden, damit sich die Situation radikal verändert?
А.U.: Es wäre nicht schlecht, wenn in allen dreien Veränderungen stattfinden würden. Die EU sollte die Ukraine als potenzielles Mitglied betrachten, Russland sollte von seinem imperialen Paradigma abrücken, und in der Ukraine muss man ernsthafter zu europäischen Werten stehen. Selbstverständlich ist ein solches Szenario momentan nur schwer vorstellbar. Aber die Welt verändert sich manchmal schnell. Noch vor drei Jahren war es schwer vorstellbar, dass die Ukraine von der EU einen Aktionsplan zur Herstellung von Visafreiheit bekommen würde. Möglich ist, dass wir uns in weiteren fünf Jahren in einer vollkommen anderen Situation wiederfinden, vor allem, wenn das Assoziierungsabkommen unterschrieben und implementiert wird. Die momentan wichtigste Aufgabe besteht in der Vollendung der Arbeit an diesem Abkommen. Das allein würde bereits eine neue Realität schaffen.
– Die Ukraine strebt die Erwähnung einer EU-Beitritts-Option im Assoziierungsabkommen an. Ist dies tatsächlich so entscheidend?
А.U.: Ich denke ja. Das Zögern der EU, die heute durch eine Vielzahl von internen Problemen innerhalb der Union geplagt wird, ist vollkommen verständlich. Darüber hinaus sind die Türkei und westlichen Balkan-Staaten bereits auf der Liste der Beitrittsländer. Eine Erweiterung dieser bereits langen Liste durch die Ukraine ist aus psychologischer Sicht nicht einfach. Trotzdem könnten, meiner Meinung nach, die europäischen Führungspersönlichkeiten ihre Bedenken überwinden und einer Aufnahme der Beitrittsoption in die Präambel des Assoziierungsabkommens zustimmen. Insgesamt verpflichtet dies zu wenig – die Türkei besitzt heute den Status eines Beitrittskandidaten der EU, aber die Frage nach ihrer möglichen Vollmitgliedschaft ist bis heute nicht beantwortet. Ohnehin ist die Perspektive einer Mitgliedschaft für die Ukraine (wie auch für jeden anderen europäischen Staat) in Artikel 49 des EU-Vertrages bereits implizit festgehalten. Insofern brächte diese Formulierung im zukünftigen Assoziierungsabkommen substantiell nichts neues. Auch wäre eine formale Beitritts-Option für die Ukraine im Interesse der EU selbst – wenn man die langfristigen Ziele der EU und das geopolitisches Gewicht der Ukraine bedenkt.
– Jedoch kann man wohl kaum hoffen, dass hier nach der Einräumung der Beitritts-Option für die Ukraine augenblicklich proeuropäische Reformen, das heißt eine reale “Europäisierung”, angegangen werden?
А.U.: Es versteht sich von selbst, dass nichts auf die Schnelle geht. Aber dennoch würde sich das politische Klima verändern, die Einstellung sowohl der Elite als auch der Gesellschaft insgesamt. Eine EU-Beitrittsperspektive wäre eine klare langfristige Zukunftsvision hinsichtlich der Entwicklung des ukrainischen Staates. Für die Ukraine und ihre Bürger wäre dies aus psychologischer Sicht wichtig.
– Am 1. Juli begann die EU-Präsidentschaft Polens. Stellt dies einen der Bestimmungsfaktoren für eine erfolgreiche Beendigung der Verhandlungen zum Assoziierungs- und Freihandelsabkommens dar?
A.U.: Ja, es ist eine glückliche Fügung, dass gerade Polen in der abschließenden Phase der Verhandlungen der EU vorsitzen wird. Aus meiner Sicht besteht das größte aussenpolitische Problem der Ukraine in der mangelnden Aufmersamkeit seitens der EU-Mitgliedsstaaten ihr gegenüber. Aber Polen betrifft dies nicht. Deshalb kann Warschaus EU-Präsidentschaft nutzbringend und ergiebig für die Beziehungen der EU zur Ukraine sein.
– In einem unlängst erschienen Bericht prognostiziert Freedom House, dass die Länder der früheren UdSSR, darunter auch die Ukraine, in eine Sackgasse steuern – wenn die Obrigkeit lediglich mit Hilfe einer Revolution abgelöst werden kann, da demokratische Verfahren nicht funktionieren. Ist das realistisch?
А.U.: Die Befürchtungen von Freedom House sind berechtigt. Sollte sich alles entsprechend eines Worst-Case-Szenarios entwickeln, könnte sich die Situation tatsächlich als auswegslos gestalten. Ein neuer Volksaufstand wie der von 2004 wäre unvermeidbar. Jedoch könnten dieses Mal Massenaktionen zivilen Ungehorsams zu einer regionalen Segmentierung oder sogar zum Zerfall des Landes führen. Im Gefolge der Anwendung dubioser „politischer Technologie“ hat es eine Zunahme der Polarisierung der ukrainischen Gesellschaft im letzten Jahr gegeben. Daher könnten neue, ursprünglich entweder gegen das Regime gerichtete oder aber es unterstützende Demonstrationen sich in de-fakto staatszersetzende Aktionen verwandeln. Es würden Bewegungen zu Tage treten, in welchen nicht mehr konkret politische Forderungen vorherrschen, sondern tiefergehende zivilisatorische, nationale oder ethnische Ideologien dominieren, die eine Kompromissfindung erschweren oder sogar unmöglich machen. Das würde eine explosive Situation schaffen.
– Die Ukraine beging vor kurzem den zwanzigsten Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Angesicht der schwierigen Situation hinsichtlich Demokratie, Menschenrechte, der Energieversorgung, der Unsicherheit unter den Bürgern bezüglich ihrer Zukunft – was konnten die Ukrainer an diesem Tag feiern? Worauf können sie stolz sein?
А.U.: Ungeachtet aller Schwierigkeiten, können die Ukrainer auf die Entstehung und das Überleben des ukrainischen Staates stolz sein – wie auch auf die beeindruckende Wiedergeburt der ukrainischen Kultur. Ebenso bemerkenswert ist es, dass die Ukrainer bisher bewaffnete Konflikte in ihrem Land zu verhindern wussten, was in Russland (im Nordkaukasus), Jugoslawien, Zentralasien, Moldowa und auch im Südkaukasus nicht gelang. Darüber hinaus verhinderten die Ukrainer eine neue Diktatur, wie sie beispielsweise in Weißrussland oder in einigen zentralasiatischen Republiken entstanden sind. Diese und weitere Leistungen machen die Ukraine noch immer zu einem besonderen Staat im postsowjetischen Raum.
Das Gespräch führte Anatoli Marzinowski am 23. August 2011.
Quelle: Geopolitika
Die Übersetzung wurde von Andreas Umland redigiert.
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