Das Syndrom von Mukatschewe - Warum der Ukraine tatsächlich der Zusammenbruch droht
Der Vorfall von Mukatschewe (bewaffnete Zusammenstöße unter Beteiligung des Rechten Sektors am 11.07.2015; Anm.d.Ü.). brachte einen ganzen Haufen lokaler Probleme ans Licht. Innerhalb von ein paar Tagen verwandelte sich der stille Winkel der Ukraine (hier gemeint: Transkarpatien, die Oblast, in der Mukatschewe liegt; Anm.d.Ü.) in den Augen der Gesellschaft in eine Enklave des Verbrechens. Kriminelles Handwerk, mächtige quasifeudale Clans, Auseinandersetzungen von Banditen einige Medien tauften Transkarpatien schon den „Gebirgs-Donbass“. Am auffälligsten ist jedoch die Unfähigkeit der Regierungsgewalt. Es scheint, dass man nur stark pusten muss – und unser Staat bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Fangen wir mit dem klinischen Bild an. Zuerst einmal ist die Geografie selbst schon sehr verlockend für Schmuggler. Allerdings ist die Kriminalisierung der Region nicht ohne die stillschweigende Duldung der Strafverfolgungsbehörden oder ihrer Unfähigkeit, für Ordnung zu sorgen, möglich. In diesem Sinne ist es nicht so wichtig, was der transkarpartische Trupp des Rechten Sektors wollte – den Schmuggel zu beenden oder der lokalen Mafia ein Stück vom Glück zu entreißen (Medienberichten zufolge ging es letztendlich um eine Erhöhung des Anteils der bisherigen 25 Prozent, A.d.R.).
Zweitens zeigt das Versagen der Sicherheitskräfte auch, dass sich eine Gruppe von Schwerbewaffneten auch ruhig in Transkarpatien bewegte und agierte. Es ist eine Sache, heimlich eine Fahne in der Nähe der lokalen Polizeistation aufzustellen, und eine andere, im Jeep mit einem Maschinengewehr auf dem Dach durch die Stadt zu fahren. Es ist erstaunlich, dass in Uschhorod noch nicht die „Volksrepublik“ ausgerufen wurde.
Drittens ist es bezeichnend, dass zum bezwingen von einer Gruppe von zehn bewaffneten Personen bei Mukatschewe Einheiten von der Nationalgarde, Spezialeinheiten des SBU und hohe Beamte aus Kyjiw gesandt werden mussten. Es sieht danach aus, dass es in ganz Transkarpatien nicht genügend Sicherheitskräfte gibt, oder dass ihre Loyalität bei der Kyjiwer Führung in Zweifel gezogen wird. Es ist erschreckend zu denken, was eine Truppe aus 20-30 Kämpfern hätte anrichten können.
Viertens ist allein die Existenz eines pseudofeudalen Clans ebenso eine enttäuschende Diagnose. Wenn die Regierung in den Regionen von offiziellen Strukturen zu inoffiziellen Strukturen übergeht (Mafia, Bandenbildung, einflussreiche Familien usw.) bedeutet dies, dass es dort keine Regierung gibt. Dies ist nur unter den Bedingungen einer vollständigen Lähmung der Regierungsgewalt, die anderen jetzt loyal ist oder die einfach nur abseitssteht und traurig seufzt, möglich.
Was den Rechten Sektor angeht, lohnt es sich, eine Bemerkung zu machen. Das Erscheinen des Rechten Sektors auf dem Maidan ist eine Antwort der Gesellschaft auf das dysfunktionale Verhalten der Sicherheitskräfte – genauso wie der Aufruhe in Wradijiwka (Anfang Juli 2013 aufgrund einer Gruppenvergewaltigung, bei der zwei der Täter Polizisten waren und es schien, dass diese straffrei bleiben würden, Anm.d.Ü.) und ähnliche Vorfälle. Der Rechte Sektor wurde auch durch die Sicherheitskräfte zur militärischen Organisation. Genauer gesagt dadurch, dass im Frühling 2014 die Schwäche der ukrainischen Sicherheitskräfte mit einer Beteiligung von freiwilligen Einheiten kompensiert werden musste.
Jedenfalls geht es nicht nur um den Rechten Sektor und Transkarpatien. Heute wird der Staat mit dem Rechten Sektor konfrontiert, aber morgen wird an seiner Stelle vielleicht eine gewöhnliche kriminelle Gruppierung stehen. Und dass der Skandal in Mukatschewe geschehen ist, ist nicht verwunderlich. Wenn eine Katze bellt, ist es eine Überraschung. Wenn jedoch auf dem Körper eines Aussätzigen schreckliche Geschwüre auftreten, ist es eine traurige Unvermeidlichkeit.
Was soll in dieser Situation die ukrainische Regierung tun? Es gibt eigentlich nicht so viele Optionen. Die einfachste Strategie ist es, den Status quo zu aufrechtzuerhalten, und nur ein paar kosmetische Maßnahmen in den skandalträchtigsten Fällen vorzunehmen. Ohne an den regionalen kriminellen Machenschaften und Interessenkonstellationen zu rühren, kann man die Loyalität der örtlichen Kriegsherren erhalten. Indem die Regierung die Grenzen ihres Einflusses in den Regionen anerkennt, kann sie Zeit gewinnen und das Problem den Nachfolgern übergeben.
Auf lange Sicht hin endet es jedoch mit dem Verlust der Kontrolle über das Land. Die Nichteinmischung Kyjiws in das Leben des Donbass führte dazu, dass die Regionalen (Politiker und Anhänger der Partei der Regionen; Anm.d.Ü.) zwei Oblaste zu ihren beiden Fürstentümern (und ein Sprungbrett für die Rache) machten. Im kritischen Moment konnte Kyjiw nicht mit der Loyalität der dortigen Regierungsorgane und Strafverfolgungsbehörden rechnen. Deshalb kann die Verzögerung zur Dezentralisierung führen – jedoch nicht nach dem Plan der Regierung, sondern entsprechend des Appetits der örtlichen Kriegsherren, Clanschefs und Baronen.
Eine andere Variante ist es, die Löcher zu flicken und in jedem Fall hart mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu reagieren. Es scheint, dass die Regierung genau eine solche Strategie für Transkarpatien gewählt hat. Jazenjuk wies an, alle Mitarbeiter des Zolls in Transkarpatien zu entlassen, Awakow ernannte einen neuen Leiter des Innenministeriums und Poroschenko schickte Hennadij Moskal (ehemaliger Gouverneur des Luhansker Oblasts und derzeitiger Gouverneur von Transkarpatien; Anm.d.Ü.) nach Transkarpatien. Es ist jedoch zu früh, um endgültige Schlüsse zu ziehen. Wie wir am Beispiel der Schießerei auf dem Maidan gesehen haben, können laute Versprechen, die Kriminellen zu bestrafen, auch einfach nur Versprechen bleiben.
Ein situatives Reagieren ist die effizienteste Verhaltensweise. Die Region Riwne mit ihrem Bernstein-Raubbau, Transkarpatien mit seinem illegalen Holzeinschlag von Wäldern, die von Schmugglern bewohnten Regionen – der nächste Skandal kann überall passieren. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass man die Kriminalität nicht nur bekämpfen muss, wenn etwas Skandalöses passiert ist. Von der Regierung nicht kontrollierte Gruppierungen – wie sie sich auch nennen mögen – sollten entwaffnet werden, ohne zu warten, bis sie eine Schießerei anfangen. Das gleiche gilt auch für Schmuggler, Kriminelle in Uniform und alle anderen, de versuchen, die Macht an sich zu reißen.
Wenn man dazu kommt, das Problem ernsthaft zu lösen, dann muss man zur Erneuerung der staatlichen Autorität im Land mit einer systematischen Reform der Machtstrukturen beginnen. Es ist nicht genug, die Führung in den Regionen zu ersetzen. Es ist zu wenig, Patrouillen durch stilvolle Polizisten zu ersetzen. Es genügt nicht, einfach nur die Behörden in den Regionen auszuwechseln – die Machtstrukturen brauchen eine komplette Erneuerung des Personals sowie eine Ausbildung, die den aktuellen Aufgaben entspricht. Mit wem soll man ein „erfahrenes Personal“ ersetzen? Zumindest mit Veteranen der ATO. Wenn man es irgendwie schaffte, die Kampfkraft der Armee wiederherzustellen, dann kann man auch mit der Miliz arbeiten.
Solange, wie es bei der Anordnung des Staats keine effektiven Machtstrukturen gibt, sind alle Reformen zum Scheitern verurteilt, und das Land wird zerfallen. Wenn der Regierung zuverlässige Instrumente entzogen werden, kann selbst ein Bandit mit dem Gewehr, kann auch ein selbsternannter Baron, der die örtliche Polizei gekauft und seine dynastische Verbindung mit dem Staatsanwalt eingegangen ist, seine Macht ausrufen. Solange die Ukraine unter relativ komfortablen geopolitischen Bedingungen lebte, konnte sich der Verfall über Jahrzehnte hinziehen. Aber jetzt kann die Führungslosigkeit zu einem Zusammenbruch des Staates führen. Es bleibt zu hoffen, dass man dies in Kyjiw versteht.
15. Juli 2015 // Hryhorij Schwez
Quelle: Zaxid.net