Ukraine-Litauen: Der Geist der großen Geschichte



Wir haben vieles gemeinsam, tatsächlich aber keine gemeinsame Grenze. Dafür gibt es eine ungebrochene geistige Nähe. Viele Ukrainer wundern sich, wenn sie hören, dass wir über einige Jahrhunderte hinweg mit den Litauern in einem Staat lebten.

„…Für eine gewisse Zeit“, schrieb Michail Dragomanow, „bestanden in der osteuropäischen Ebene Beziehungen, die gut für die Ukrainer und die gesamte Zivilisation waren. Ab dem 13 Jahrhundert bestanden enge föderale Verbindungen zwischen den Litauern an der Memel und den Weißrussen an Düna und Dnjepr. Im 14. Jahrhundert kamen zu dieser Vereinigung auch die Ukrainer zwischen Pripjat, Dnjestr und Desna hinzu; und diesem vereinigten Staat des Geschlechts der Gediminas gelang es den Tataren die Ebene zwischen Bug und Dnjepr abzuringen und die slawische Kolonialisierung bis hin zum Schwarzen Meer, dem Land der alten Tiwerzen und Ulitschen voranzutreiben.“ M. Dragomanow glaubte, dass wenn diese Beziehungen noch zwei, drei Jahrhunderte überdauert hätten, „das Schicksal Osteuropas ein völlig anderes gewesen wäre, wahrscheinlich glücklicher als jetzt. Doch dieses Gleichgewicht zerstörten die Expansion Polens nach Osten sowie die Besetzung der Ufer des Schwarzen Meeres durch die Türken.“

Der Wind der Geschichte, mal freundlich, mal kalt, wehte über die unüberwindbaren Weiten der Steppe und die malerische Vielfalt unseres Gebietes und veränderte sie physisch, aber auch im Geiste. Und Kiew wandelte sich von der Hauptstadt eines großen Imperiums, das unter Wladimir dem Großen und Jaroslaw dem Weisen bestand, zu einem Verwaltungszentrum unter den Wojewodschaften des großen Litauischen Fürstentums.

In der Analyse all dieser Umstände unterstützt Orest Subtelnyj, der Autor des populären Buchs „Ukraine.Geschichte“, im Gegensatz zu Michail Dragomanow die Meinung, dass gerade im 14. Jahrhundert „die historischen Ereignisse sich in eine für die Ukraine ungünstige Richtung entwickelten. Gerade in einer Periode ihres politisch-ökonomischen und kulturellen Verfalls begannen sich ihre Nachbarn zu erheben, Litauen, Polen und Moskau…Fas 80 Jahre galt der Titel des Herrschers über die ukrainischen Länder den Mongolen und Tataren. Aber selbst im Verlauf ihrer kurzen Herrschaft machte der ständige Streit in der Goldenen Horde den Mongolen das unmittelbare Regieren der hiesigen Gebiete unmöglich. Auf diese Weise wartete die Ukraine wie eine überreife Frucht auf ihren nächsten Eroberer. Unter den Ersten, die diese Möglichkeit nutzten, waren die Litauer.“

Das kleine Litauen, das die Vielzahl der örtlichen Probleme überwand, verwandelte sich in das Großfürstentum Litauen, das bald den Höhepunkt seiner Macht erreichte. Die Menschen widersetzten sich nur zu Beginn den Ankömmlingen aus dem Baltikum. Mit der Zeit, als klar wurde, dass – wie Michail Gruschewskij bezeugte – die „Litwiner“ nicht Willkür walten ließen bei der Inbesitznahme der neuen Erde, „altes nicht anrühren“ und nicht ihre eigenen Ordnungen einführen „sich völlig dem örtlichen Leben anpassen“ wollen und sogar die kulturelle „Überlegenheit“ ihrer Schützlinge anerkennen, viele ihrer Werte achten und teilen, nahm die gemeinsame Existenz einen verhältnismäßig zivilisierten Charakter an. Viele Fürsten aus der Dynastie Gediminas nahmen das Christentum an. Dies wurde auch dadurch begünstigt, dass der Anteil der slawischen Ethnie an der Bevölkerung im Großfürstentum Litauen fast 90 Prozent betrug. M. Gruschewskij nannte diesen Staat den rechtmäßigen Nachfolger der Kiewer Rus und des Galizisch-Wolhynischen Fürstentums.

Es ist verständlich, dass all diese historischen Wendungen die vielen, vor allem ukrainischen, Forscher nicht einmütig zurücklassen können. Umaner Heimatkundler empfanden zum Beispiel die Unterordnung unter die Litauer als „progressive Erscheinung, zumal sie vom Joch der Goldenen Horde befreite, Altukrainisch den Status einer Staatssprache erhielt und obwohl die Dorfbevölkerung Steuern zahlen musste, waren diese deutlich geringer als zu Zeiten der Herrschaft der Goldenen Horde.“ Über die hohe Bedeutung der Nutzung der altukrainischen Sprache als offizielle Staatssprache schrieben litauische Historiker, insbesondere S. Zinkevičius. Das sprachliche Litauen kannte noch kein Schrifttum und die „Herrscher Litauens, indem sie Ordnung in die Vereinigung der Länder brachten, verwendeten deren (unsere – W.T.) Schriftsprache. Sie bedienten sich ihrer auch, um Verbindungen zu anderen Ländern im Osten zu halten, so, wie sie die lateinische Sprache zur Verständigung mit den Ländern des Westens nutzten. Später vergrößerte sich ihre Bedeutung noch. Denn zur Regulierung eines großen Staates kamen die Machthaber nicht mehr mit mündlichen Befehlen aus, sie mussten aufgeschrieben werden.“

Mehr noch: die erste Litauische Ordnung (Verfassung) wurde im Original 1529 in altukrainischer (ruthenischer) Sprache verfasst. Später sind noch zwei Überarbeitungen, von 1566 und 1588, bestätigt.

Die Bedeutung des kulturellen Einflusses der „ruthenischen Sprache“ beschrieb der polnische Poet Jan Paszkiewicz (Anfang des 17. Jahrhunderts) in einem seiner Gedichte:

Polen blüht das Latein,
Litauen blüht das Ruthenisch,
Ohne das Eine
Kannst du in Polen nicht sein,
Ohne das Andere
Bist du in Litauen ein Witz.

Es ist wohl so, dass die Litwiner (Litauer) gerade damals zu der Erkenntnis kamen, dass eine vollständige Schriftsprache notwendig ist.

Das bereits lange vorher existierende Schrifttum bestätigt der bekannte Historiker und Archäologe Michail Brajtschewskij ausgehend von Verträgen mit den Byzantinern, die „wie bekannt ist von den Verhandlungspartnern auf „zweisprachigen“ Seiten geschrieben wurden. Die Historikerin Natalija Polonskaja-Wassilenko meint, dass sich die ukrainische Kultur auf einem höheren Niveau befand als die litauische.

Die Historikerin Raissa Iwantschenko schrieb: „Die Rus-Ukraine, die sich als Teil des Litauischen Fürstentums fand, errichtete schnell ihre Kirche, ein System der administrativen Verwaltung nach den Gesetzen der „Russkaja Prawda“ (Rechtssystem der Kiewer Rus, A.d.R.), nach denen sich auch der Litauischen Staat richtete. Sodass das System der Staatsregierung auf dem gesamten ukrainischen Territorium traditionell blieb, es änderte sich nur die Dynastie der herrschenden Fürsten: statt der Kiewer Rurikiden übernahm das Geschlecht der Gediminas den Thron.“

Kommt nicht daher unsere hartnäckige, überhaupt nicht geografische, vermutlich aber psychologische Einteilung in Ost und West? Und auch unsere Sympathie für die baltischen Völker, besonders für die Litauer, die gute Erinnerungen in den ukrainischen Gebieten zurückgelassen haben ohne den traditionell bitteren Okkupations- und Kolonisations-Beigeschmack.

Es lohnt sich zu betonen: Litauen und die Ukraine taten damals die für sie, jeder für sich, wichtigsten und ewig feindlichen Angreifer auf die ukrainische Erde auf: sowohl die polnische Herrschaft mit ihrem unbändigen Appetit auf feudale, nationale und religiöse Beeinflussung, als auch Moskau mit seinem strikten Kurs des „Zusammenschlusses der russischen Länder“. Litauen erstreckte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Livland (das heutige Lettland) bis Tscherkassy, das heißt, es bestand aus den heutigen Ländern Belarus und Ukraine. Es war vorwiegend orthodox. Ernsthaft geschwächt wurde es durch den Krieg mit den Moskowitern Ende des 15. Jahrhunderts. Dies war einer der Gründe für den Zusammenschluss mit dem Königreich Polen (Lubliner Union von 1569).

In der Föderation, der Rzeczpospolita (Polen-Litauen – Anm. d. Übers.), dominierte das katholische Polen. Es gab eine Zeit („Schwedische Sintflut“ 1665), in der der litauische Magnat Janusz Radziwiłł und sein Bruder Boguslaw gegen König Jan II Kasimir auftraten und zur Zerschlagung der Union tendierten. Doch diese Vereinigung existierte, wenn auch nicht ohne Probleme, 225 Jahre (bis 1795). Und am 1. Juli 2009, anlässlich ihres 440. Jubiläums, fanden in Lublin sogar Feierlichkeiten unter Beteiligung von Vertretern Polens, Litauens, Belarus und der Ukraine statt. Jedes Volk hat natürlich seine eigenen Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit. Die Teilnehmenden der Jubiläumsversammlung stellten sie als einen Weg „Von der Lubliner Union zur Europäischen Union“ vor. Für die Ukrainer war das am ehesten die Erinnerung daran, wie man damals die „Litwiner“ im Grunde genommen von der ukrainischen Erde vertrieben hat. Die Ukraine selbst fand sich ohne alle Rechte unter der Führung des neuen Herrn wieder. Die Reste ihrer Autonomie wurden vernichtet. Die polnischen Magnaten kolonisierten unser Land aktiv. So kam es, dass der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko eines der Jubiläen der Polonisierung unserer Heimat „feierte“. Obwohl man sich natürlich, wenn man im Labyrinth der Geschichte umherirrt, nicht über unerwartete oder sogar schwindelerregende Wendungen wundern muss. Der geniale Taras Schewtschenko, dessen künstlerisches Leben eng mit Vilnius verbunden ist, schrieb:

Es breiteten sich die Konföderierten aus
Über Polen und Wolhynien
Über Litauen und Moldawier
Und über die Ukraine…

Ende des 16. Jahrhunderts. wurde das ukrainische Gebiet einer echten polnischen Expansion und Kolonisierung unterzogen. Und 1795, nach der abermaligen Teilung von Litauen und Polen, wurde es für lange Zeit dem Russischen Imperium unterstellt.

Es versteht sich von selbst, dass die Bevölkerung unseres Landes unter der Herrschaft verschiedener, zumeist nicht ukrainischer, Machthaber endlose heftige politische, religiöse, soziale und ethnische Konflikte durchlebte. Hinzu kommt, dass von den drei ursprünglichen Herren nur die Vertreter des putin’schen Moskau bis heute versuchen, uns in einer festen Umarmung zu halten, groben Spott mit unserer „Unabhängigkeit“ treibend. In kritischen Situationen, besonders in der Zeit der Ukrainischen Volksrepublik (1917-1920) und jetzt, zeigt Russland sein bösartiges Gesicht in Gestalt oder Physiognomie der imperialen „Russischen Welt“, bemüht, die „ukrainische Frage“ mittels Krieg und Okkupation zu lösen.

Und das Großfürstentum Litauen, das nicht grundlos als gemeinsamer Ukrainisch-Litauischer Staat galt, verschwand nach und nach in der Dunkelheit und mit ihm in bedeutendem Maße auch die respektvolle, „europäische“ Haltung gegenüber allem Ukrainischen. Im Vergleich des Lebens der Ukrainer unter der Herrschaft verschiedener Machthaber glaubt eine erdrückende Mehrheit der Forscher, dass die Litauer Periode die am wenigsten schmerzhafte war.

Wir haben vieles gemeinsam, tatsächlich aber keine gemeinsame Grenze. Allerdings gibt es eine ungebrochene seelische Nähe. Und das ist außerordentlich wichtig. Die letzten paar Jahre gaben den Ukrainern und Litauern die Chance, ihr freundschaftliches Verhältnis unter völlig unerwarteten Bedingungen zu erfahren; als innere und äußere Feinde den selbstverständlichen Aufstiegsprozess der Ukraine in die Europäische Gemeinschaft torpedierten. Und unser Staat zeigte sich in der Lage, kriegerisch dem Aggressor in Form des nächsten „strategischen Partners“ zu widerstehen.

„Europa muss verstehen: Russland unternimmt den Versuch, die Nachkriegskarte und –Grenzen neu zu zeichnen. Die Erste wird die Ukraine sein, dann Moldawien und am Ende könnte es bis zu den Ländern des Baltikums und nach Polen gehen. Russland handelt gegen internationale Standards, hält seine Verpflichtungen nicht ein und das bedeutet, dass Moskau zur Bedrohung für ganz Europa wird.“ Diese strikte, kompromisslose Position Litauens vertrat dessen mutige Präsidentin Dalia Grybauskaitė mehrfach bei binationalen und internationalen Treffen.

Das ist ein mustergültiges Beispiel gegenseitiger Achtung, Solidarität und guter Nachbarschaft.

8. Dezember 2017 // Wladimir Tschornyj

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1635

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