Die Ukraine am Scheideweg
Die Spezifik des Zustandes, in dem die Ukraine sich zur Zeit befindet, rückt das Problem der Korrelation zwischen Wahldemokratie und liberaler Demokratie in den Vordergrund. Dies hängt aber nicht ausschließlich mit der Parlamentswahl zusammen.
In der klassischen Demokratietheorie gibt es eine klare Unterscheidung zwischen Wahldemokratie und liberaler Demokratie. Traditionell gilt die Wahldemokratie als eine institutionelle Messlatte des demokratischen Regierens, welche die demokratischen Regime von den undemokratischen trennt und eine Voraussetzung im Aufbau der liberalen Demokratie ist. Daher besteht ein großes Interesse an der Wahldemokratie und an dem demokratischen Ablauf der Wahlen.
Jedoch behaupten heutzutage einige Demokratieforscher zurecht, dass die Entwicklung der Wahldemokratie in den westeuropäischen Staaten auf den bereits vorhandenen Pfeilern der ausreichend entwickelten Zivilgesellschaft, der institutionalisierten politischen Kräfte und Opposition sowie des entsprechenden Typus der politischen Kultur stattfand. Eine solche Gesellschaft hat die entsprechenden (demokratischen) Kriterien für die Regierungsaufstellung formuliert, die die gesellschaftliche und politische Freiheit sowie das Regime der liberalen Demokratie bewahren und fördern würden.
In einer post-totalitären Gesellschaft, in der die institutionelle Demokratiesicherung fehlt, unterscheidet sich sicherlich der Wahlverlauf wesentlich von dem in den entwickelten Demokratien. Das Problem besteht nicht nur in normativen und prozeduralen Nuancen, sondern das ganze Unglück besteht darin, dass Menschen nicht die Besten wählen, sondern die sich Ähnelnden! Dies führt bei den Wahlen in post-sowjetischen Republiken zur Popularität verschiedener populistischer, und mancherorts sogar offen extremistischer, antidemokratischer Politiker und politischer Kräfte. So braucht man für die Aufklärung über potenzielle Gefahren für unterentwickelte Demokratien nicht das enzyklopädischen Beispiel der Weimarer Republik heranziehen, sondern das Beispiel des benachbarten Weißrusslands ist wesentlich näher und klarer.
Wahldemokratie oder liberale Demokratie?
Hier ist es offensichtlich sinnvoll, sich Gedanken über die Möglichkeiten und die Zweckmäßigkeit der Anwendung bestimmter institutioneller Einschränkungen zu machen, die die unreife Demokratie vor potenziellen Gefahren schützen würde. In allen Staaten, die auf dem Transformationsweg aus dem totalitären und autoritären Zustand waren, wirkte ein System an Maßnahmen, die die Demokratisierung der Gesellschaft bezweckten (Denazifizierung, Lustration etc.). Es erinnert an antiepidemische Maßnahmen, vergleichsweise einer gesellschaftlichen Quarantäne gegen Pest, inklusive Isolation (selbstverständlich eine politische) der gefährlichen Virusträger.
Unter den Bedingungen des entwickelten autoritären Regimes verliert der Wahlprozess seinen demokratischen Charakter. Die Wahlen bilden einen Schirm, der die Macht legitimiert, die den Wahlablauf kontrolliert. Die Wahlen stellen sich faktisch als eine Volksabstimmung mit dekorativem und demonstrativem Machtkampf dar. Das Beispiel der letzten Präsidentschaftswahl in Russland bietet dafür eine treffende Bestätigung.
Deshalb redet eine ganze Reihe von Forscher von einer Krise der Wahldemokratie und davon, dass sie einen eigenen, relativ schmalen Rahmen besitzt. Was Russland angeht, handelt es sich immer häufiger um das Phänomen eines „Gentleman`s Agreement“ zwischen der Regierung und der loyalen (konstruktiven) Opposition, bei dem die Letztere gewisse Handlungsfreiheit im Austausch für gewisse Präferenzen (vor allem parlamentarische Vertretung) seitens der Regierung genießt. Es ist klar, dass so eine Beziehung zwischen der Regierung und der Opposition das Basisprinzip der politischen Wahlen, nämlich die Tatsache des politischen Wettkampfes um die Macht, verletzt. Es ist mehr ein „Kuhhandel“ als ein echter Wettkampf.
Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Art der Wahldemokratie keine Basis für tatsächlichen demokratischen Wandel bietet. Die heutigen Wahlen unterscheiden sich selbstverständlich von den Wahlen in der UdSSR, man kann sie aber auch nicht wirklich demokratisch nennen. Außer Diskreditierung gibt es wenig Nutzen für die Demokratie! Kein Wunder, dass vor dem Hintergrund dieser Art von „Demokratie“ sich die Durchschnittsbürger nach einer „starken Hand“ sehnen.
Der berühmte amerikanische Politologe S. Huntington definiert in seinem Buch „The Third Wave“ die Wahlen als ein Übergangsmechanismus von Autoritarismus zur Demokratie. Er unterstützt seine These durch historische Beispiele, wo durch den Mechanismus der politischen Wahlen ein „unerwarteter“ Sturz der autoritären Machtinhaber stattfand. Meiner Meinung nach kann man die ukrainische Präsidentschaftswahl 2004 als ein ähnliches Phänomen betrachten. Mit einer Wiederholung dieses Phänomens unter den Bedingungen der vollen Apathie und des Infantilismus, einer belogenen und degradierten Gesellschaft zu rechnen, heißt ein großer Romantiker zu sein!
Repräsentative oder delegative Demokratie?
Liberale Demokratien haben einen klaren Katalog an Kriterien ausgearbeitet, der eine Grundlage für die Abstufung der Demokratie und der durchgeführten Wahl bietet. Genau aus diesem Grund kommt eigentlich eine große Gruppe der vorbereiteten ausländischen Wahlbeobachter. Da die Beobachtung kurzfristig ist, sie kann sich nur auf die Bewertung des eigentlichen Wahlablaufs beziehen. Dabei beschränkt sich der Begriff der Wahlen und vor allem ihren Analysekriterien nicht ausschließlich auf deren Ablaufprozesse und die Wahlperiode selbst.
Viele renommierte Analysten äußern schon heute vor dem Beginn der Wahl ernsthafte Zweifel am demokratischen Wahlstandard. Das liegt vor allem an der Praxis der Isolierung der politischen Opponenten im Gefängnis für die Zeit der Wahlen. Dies ist ein Vorgehen, das nur offen undemokratischen Regimen eigen ist. Es ist offensichtlich, dass die Versuche der Regierung sich hinter den Gerichtsentscheidungen zu verstecken, nur lächerlich wirken. Wie kann man die Wahlen als demokratisch bezeichnen, wenn sich die Führerin der wichtigsten oppositionellen Macht, die vor nicht allzu langer Zeit noch von der Hälfte der ukrainischen Bürger mit ihren Stimmen unterstützt wurde, im Gefängnis befindet. Dies ist ein Beispiel dafür, dass in den Augen des westlichen Durchschnittsbürgers die heutige Regierung eher als eine Militärjunta und nicht als Demokratie erscheint.
Der Charakter der Wahlabläufe wird hauptsächlich durch das Wahlrecht und den Typus des Wahlsystems determiniert. Die Behauptung dazu, dass kein ideales (mehr oder weniger demokratisches) Wahlsystem existiert, ist axiomatisch. Moderne liberale Demokratien verwenden mit Erfolg verschiedene Typen der Wahlsysteme. Auf die Einschätzung des Demokratiegrades der Wahlen wirkt sich jedoch die Praxis der häufigen Veränderung der Wahlgesetzgebung negativ aus. Im Fall der Ukraine ist eher die Rede von einer permanenten Veränderung der Wahlgesetzgebung und der „Spielregeln“. Es grenzt an ein unfaires „Wahl-Monopoly“.
Die Notwendigkeit das proportionale Wahlsystem mit geschlossenen Parteilisten zu ändern, haben vor der Wahl alle politischen Kräfte diskutiert. Ein Verbesserungsvorschlag in demokratische Richtung wäre ein Wahlsystem mit Präferenzen, das das Monopol der Parteiführer brechen würde und den Bürger an den Prozess der personellen Aufstellung eigener Vertreter in der Regierung näher heranbringen könnte. Stattdessen ist das Mischwahlsystem durchgesetzt worden, das nicht nur das System der geschlossenen Parteilisten beibehält, sondern auch dieses System mit dem absolut diskreditierten Mehrheitswahlsystem verstärkt. Derartige Wahlregeln bestimmen faktisch ihr Ergebnis bereits vor dem Beginn. Es bleibt rätselhaft, warum die Opposition dem zugestimmt hat, außer es geht um ein weitsichtiges Kalkül für die nächste Präsidentschaftswahl und den Wunsch, für ihren Start, eine bequemere oppositionelle Platzierung einnehmen zu können.
Es ist ebenfalls schwierig, diese Wahlen, in Bezug auf das Demokratieniveau der wichtigsten Subjekte des Wahlprozesses, nämlich der politischen Parteien der Ukraine, demokratisch zu nennen. Als Parteiexperte kann ich verantwortungsvoll behaupten, dass die ukrainischen politischen Parteien sich nur hinsichtlich des Namens den politischen Parteien der Staaten mit liberaler Demokratie gleichen. Unter den Bedingungen einer fehlenden staatlichen Finanzierung (die Ukraine und Moldau sind die einzigen Staaten in Europa, die diese Empfehlung des Europarates nicht umsetzen) und der zunehmenden Kommerzialisierung der politischen Tätigkeit sind die politischen Parteien nicht zu Vertretern der Wählerinteressen, sondern der Interessen der eigenen Sponsoren, nämlich der finanziellen und industriellen Gruppen, geworden. Diese Tatsache entspricht nicht dem Kernwesen der repräsentativen Demokratie!
Von interner Demokratie in den ukrainischen politischen Parteien braucht man nicht zu reden. Die Mehrheit der Bevölkerung der Ukraine hat kein Vertrauen zu den politischen Parteien. Die Gesellschaft hält sie für Strukturen, die Macht anstreben, um eigene Geschäftsprobleme zu lösen. Die vorhandenen Umfragen zeigen viel mehr eine Ablehnung des Gegners, als die Unterstützung der konkreten Parteien, ihrer Programme und ihrer Führer. Daraus ergibt sich das Phänomen einer „Abstimmung ohne Vertrauen“. Es ist der Grund, warum manche Forscher das politische System der Ukraine nicht als eine repräsentative Demokratie bezeichnen, sondern als eine delegative Demokratie, in der die Volksvertreter keine Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wählern haben. Einer solchen Regierung mangelt es an gesellschaftlicher Legitimität und sie kann alleine deswegen nicht effizient sein.
Demokratie oder Infokratie?
Eine Analyse der heutigen Wahlen wäre ohne die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit und der Medien unvollkommen. Letztere sind mächtige Kanäle für die Prägung und Formung der öffentlichen Meinung. Praktisch befinden sie sich alle aktuell in privaten Händen und verwandeln sich während der Wahlen entweder in „elegante Verbrecher“, die ausschließlich für Geld werben oder in reguläre Parteipropagandisten (und dies sicherlich nicht für die Opposition). Es gibt keine Gleichheit der Präsentationsmöglichkeiten der Wahlsubjekte für sich selbst und ihr eigenes Programm auf dieser kommerzialisierten und seitens der Machtinhaber kontrollierten Medienlandschaft! In Abwesenheit von alternativen Informationsquellen bedeutet die Kontrolle der Medien die Kontrolle der gesellschaftlichen Meinung und damit ihrer Meinungsäußerung. Es ist eine typische Diktatur der Medien oder Infokratie.
An welchem Scheideweg befindet sich die Ukraine?
Als Ergebnis ist die Wahldemokratie ein Zeichen des Entwicklungsgrades der liberalen Demokratie. In Abwesenheit einer Zivilgesellschaft, einer zivilgesellschaftlichen politischen Kultur, von demokratisch organisierten Parteien sowie von unabhängigen und sozial-verantwortlichen Medien braucht man mit dem Entstehen einer ausgeprägten Wahldemokratie nicht zu rechnen. Daher rückt das Problem der Grundlagenentwicklung einer ausgeprägten Zivilgesellschaft mit politisch aktiven und gesellschaftlich verantwortlichen Bürgern an die erste Stelle der Rangliste. Wir müssen verstehen, dass es eine komplizierte und langwierige Arbeit ist, die nicht auf eine kurze Wahlperiode beschränkt sein kann. Diese Arbeit verlangt eine hingebungsvolle Beteiligung aller, vor allem die Beteiligung der Intelligenz, die sich unter den aktuellen Bedingungen am Rande des politischen Geschehens befindet und weder von Parteien noch von Wählern selbst gebraucht wird. Diese Tatsache erhöht die Siegeswahrscheinlichkeit der Demagogen und aller Art von Schurken.
Politische Wahlen sind der beste Test für Demokratie in der Gesellschaft. Demokratieforscher unterscheiden in der Regel freie und teilweise freie politische Systeme. Zu den Letzteren gehören die, die sich auf einem Scheideweg zwischen Autoritarismus und Demokratie befinden, tendieren aber zur Letzteren. Die bekannte internationale Forschungseinrichtung „Freedom House“ zählt dazu die Ukraine. Ich befürchte, nach der Parlamentswahl wird es dieser Einrichtung schwerfallen, die Ukraine erneut so zu bewerten! Inklusive aller Folgen, die sich daraus ergeben.
09. Oktober 2012 // Jurij Schweda, Politologe
Quelle: zaxid.net