Die Ukraine unter der Kuratel der Kreditgeber



In den letzten Tagen taucht das Thema des Zahlungsausfalls der Ukraine immer häufiger in den Medien und den Analystenkommentaren auf. Vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Kennwerte und unter Berücksichtigung der Entwicklung des bewaffneten Konflikts im Osten sehen solche Prognosen durchaus berechtigt aus.

Zahlungsunfähigkeit

Die Nachrichten über die wirtschaftliche Lage im Land könnten einen in die Depression treiben: der Rückgang des BIP von 7-8 Prozent nach vorläufigen Schätzungen, die Inflation bei 24,9 Prozent, die Abwertung der Hrywnja um fast Hälfte nach dem offiziellen Wechselkurs der NBU (Nationalbank der Ukraine) und um fast zwei Drittel Schwarzmarktkurs, die Devisenreserven der NBU für das Jahr 2014 sind von 20,4 Milliarden Dollar auf 7,5 Milliarden Dollar (und das sind nur 50 Tage der Importe der Ukraine) zurückgegangen usw. Etwas abseits steht der Handelsbilanzüberschuss in Höhe von 293 Millionen Dollar in elf Monaten des Jahres 2014, aber es ist eine ganz logische Reaktion des Außenhandels auf eine Abwertung in dieser Größenordnung.
 

200920102011201220132014
Wechselkurs USD/UAH7,9857,96177,98987,9937,993 15,7685
BIP, Mio. $114.555137.484164.460176.559182.026100.000 (erw.)
Wirtschaftswachstum, %-15.1+4.2+5.2+0.3+0.0-8 (erw.)
Index der Industrieproduktion, %-21.9+11.0+7.3-1,8-4.3-10.7
Verbraucherpreisindex, %+12.3+9.1+4.6-0.2+0.5+24.9
Erzeugerpreisindex, %+14.3+18.7+14.2+0.3+1.7+31.8
Staatsverschuldung, Mio. $39.81354.29859.22464.49573.16269.795
Auslandsverschuldung, Mio. $26.64734.76037.47538.65937.62038.792
Handelsbilanz, Mio $-5.733-9.309-14.214-15.848-13.652293 (11 M.)
Haushaltseinnahmen, Mio. $26.26230.22239.37243.29542.43522.637
Haushaltssaldo, Mio $-4.100-7.910-2.358-6.209-8.035-4.639
Devisenreserven der NBU, Mio. $26.505 34.57631.79524.54620.4167.533
Arbeitslosigkeit, %9,68,88,68,17,710 (erw.)

(erw.) – erwarteter Wert zum Jahresende; (11M) – die Daten für 11 Monate des Jahres 2014

Dieser negative Stand der Dinge ist in erster Linie durch externe Faktoren verursacht: Die Bevölkerung der Krim sowie der Regionen Donezk und Lugansk waren im Jahr 2013 zusammengenommen 18,8 Prozent der Bevölkerung der Ukraine (4,3 Prozent – Krim, 9,6 Prozent – Donezker Oblast 4,9 Prozent – Lugansker Oblast). Für das Jahr 2012 belief sich das Gesamtbruttoregionalprodukt dieser Gebiete auf dieselben 18,8 Prozent (nur mit einem anderen Verhältnis: 3,1 Prozent – Krim, 11,7 Prozent – Donezker Oblast, vier Prozent – Lugansker Oblast). Außerdem soll man berücksichtigen, dass das Land im Jahr 2015 ohne einen signifikanten Produktanteil dieser Regionen auskommen muss, während im Jahr 2014, vor allem in der ersten Hälfte, die Wirtschaften dieser Regionen – mit Ach und Krach – aber einen Beitrag für die gemeinsame ukrainische Sparbüchse leisteten.

Die Staatsverschuldung der Ukraine, die zu 61,7 Prozent in Fremdwährungen nominiert ist, erreichte Ende 2014 einen Wert von 1100,6 Milliarden Hrywnja. Dies entspricht etwa 70 Prozent des BIP (offizielle Daten über das BIP im Jahr 2014 wurden noch nicht veröffentlicht, aber ich erwarte einen Betrag im Bereich von 1,5 bis 1,6 Billionen Hrywnja). Seien wir ehrlich – es ist keine kritische Höhe der Staatsverschuldung in der modernen Welt.

Die Finanzlage ist ungesund, aber nicht kritisch (nach den Maastricht-Kriterien sollte die Staatsverschuldung eines Landes die 60 Prozent des BIP nicht überschreiten). Zum Beispiel erreichte die Staatsverschuldung Griechenlands zum Zeitpunkt der Teilabschreibung von Schulden durch die privaten Gläubiger im Jahr 2011 170 Prozent im Verhältnis zum BIP. Dennoch ist die aktuelle ukrainische Staatsschuldenkrise mehr eine Liquiditäts- als Kreditkrise: unter den Bedingungen einer kriegsähnlichen Zeit, der zerstörten Infrastruktur der östlichen Regionen, des fallenden BIP und der fieberhaften Versuche, die Wirtschaftsreformen durchzuführen, braucht die Ukraine das Geld für die Aufrechterhaltung der Anti-Terror-Operation und die Wiederbelebung der Wirtschaft.

Um die Bonitätskennzahlen des Staates zu berechnen, ist es auch sinnvoll vor allem auf die externe direkte und garantierte Staatsverschuldung zu achten (38792 Millionen Dollar.). Denn für die Nationalbank der Ukraine ist es relativ einfach das notwendige Volumen an Hrywnja zu finden oder im extremen Fall zu drucken, um die rechtzeitige Zahlung der Inlandsverschuldung zu sichern. Wenn man versucht, einige Indikatoren für die Kreditfähigkeit (Verhältnis der Schulden zum Einkommen) mit Berücksichtigung verschiedener Wechselkurse von Dollar zu Hrywnja zu berechnen, wird deutlich, wie sehr der Stand des Devisenmarktes der Schlüssel zur finanziellen Stabilität des Landes im Moment ist.
 

1 USD = 15,77 UAH1 USD = 15,87 UAH1 USD = 17,0 UAH1 USD = 20,5 UAH
Staatsverschuldung gesamt, Mio. $69.79569.625 67.85963.625
Staatsverschuldung gesamt, Mio. UAH1.100 5661.104 9111.153 5971.304 319
Schuldenobergrenze des Haushalts 2015, Mio. $74.58374.10869.18057.369
Verhältnis von der Staatsverschuldung zur Schuldenobergrenze des Haushalts 2015, %93,694,098,1110,9
Verhältnis von der Staatsverschuldung zum erwarteten BIP 2014, %69,870,173,282,7
Verhältnis von der Staatsverschuldung zu den Haushaltseinnahmen 2015, %231,2232,2242,4274,1
Auslandsverschuldung, Mio. $38.79238.79238.79238.792
Haushaltseinnahmen 2015, Mio. $30.18329.99127.99623.217
Verhältnis von der Auslandverschuldung zu den Haushaltseinnahmen 2015, %128,5129,3138,6167,1
Verhältnis von der Auslandverschuldung zu den Devisenreserven der NBU, %515,0515,0515,0515,0

In den Berechnungen wurden folgende Daten benutzt: (1) der offizielle Währungskurs der NBU (Nationalbank der Ukraine) am 01.01.2015 = 15.768556 UAH/USD; (2) der offizielle Währungskurs der NBU am 28 .01.2015 = 15.869445 UAH/USD; (3) der in den Haushalt 2015 eingetragene Währungskurs von Dollar zu Hrywnja = 17.0 UAH/USD; (4) der durchschnittliche Währungskurs des inoffiziellen Bargelddevisenmarkts laut den Berichten von mehreren Internetseiten = 20.5 UAH/USD. Alle Beträge der Staatsverschuldung sind für den 01.01.2015 genannt.

Wie kann man aus dem Schuldenloch herauskommen?

Die schwierige finanzielle und wirtschaftliche Lage im Land und der Bedarf der Ukraine an zusätzlichen Kapitalzuführungen sind zweifellos. Anderenfalls werden die niedrigen Devisenreserven des staatlichen Regulators und die Aktivität der Importeure die Hrywnja zu weiterer Abwertung führen. Experten, die empfehlen, eine teilweise oder vollständige Zahlungsunfähigkeit zu erklären, argumentieren damit, dass die Unfähigkeit auf den internationalen Kapitalmärkten Geld zu leihen das Land zu einem Haushaltsüberschuss zwingen wird, was nach ihrer Ansicht, die Finanzlage der Ukraine sanieren wird.

Doch welchen Preis wird das Land durch Abwertung und Arbeitslosigkeit zahlen, bevor die Sanierung der Finanzlage erlaubt, das Geld, das für das Wachstum der Wirtschaft nötig ist, zu investieren, und wie lange wird die Erholung von den Folgen eines Staatsbankrotts dauern?

Die galoppierende Abwertung, die wir in der zweiten Jahreshälfte 2014 beobachteten, ist sowieso zum Teil das Ergebnis der negativen Konjunkturerwartungen, während klare Signale darüber, dass es keinen Staatsbankrott geben wird, und vom Anstieg der ausländischen Investitionen (d.h. Der Deviseneinnahmen des Landes) die Spannungen auf dem ukrainischen Devisenmarkt wesentlich reduzieren könnten. Durch das Erklären der Zahlungsunfähigkeit würde die Ukraine die negativen Erwartungen des Marktes bestätigen und als Ergebnis könnte die Hrywnja noch einen Abwertungssprung machen. Wird die ukrainische Wirtschaft ohne ausländische Investitionen (neue Werke und Unternehmen, Investitions- und Betriebskapital etc.), ohne ausländische Technologien (Ausstattung und Innovationen) und Handelskredite schnell wachsen können? Und werden die ausländischen Investoren ihr Kapital einem Land anvertrauen, das nicht nur Konfliktgebiete im Osten und im Süden mit einem starken Nachbarstaat hat, sondern sich auch bei den ersten Schwierigkeiten weigert, Schulden zu bezahlen?

Ein Zahlungsausfall an sich ist die Nichterfüllung der Finanzschuldverschreibungen gegenüber dem Gläubiger. Wenn der Kreditgeber nichts dagegen hat, den Fälligkeitstermin aufzuschieben, dann spricht man von einer Umstrukturierung; wenn ein anderer Kreditgeber, der dem Land vertraut, das Geld für die Rückzahlung dieses Kredits gibt, dann ist es eine Refinanzierung. Das heißt, um nicht in den Zahlungsausfall zu geraten, muss man nicht unbedingt die Mittel zur Rückzahlung der Darlehen haben, aber es ist wichtig, alle Übereinkommen im Voraus zu treffen. Die Zahlungsunfähigkeit (die Ratingagenturen bezeichnen diese normalerweise als technischen Zahlungsausfall) ist dabei immer noch vorhanden, aber es wird keinen Zahlungsausfall geben. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung hängt natürlich vollkommen von der Entscheidung der Kreditgeber ab.

Für die Ukraine ist es äußerst wünschenswert den Zahlungsausfall nicht zuzulassen. Denn sonst werden die ausländischen Kapitalmärkte für einige Jahre (im Durchschnitt zwischen zwei und fünf) für das Land geschlossen bleiben. Ausländische Investitionen in die Wirtschaft dürfte es höchstwahrscheinlich auch nicht geben oder sie kommen in relativ kleinen Mengen. All dies wird die Chancen für wirtschaftliches Wachstum des Landes begrenzen. Zudem ist das Verhältnis von der Staatsverschuldung zum BIP noch nicht so kritisch und das Wachstumspotenzial der Wirtschaft mehr als hoch.

Die Ukraine braucht Wege, um ihr Potenzial zu entwickeln und das BIP des Landes zu erhöhen. Dann wird sogar eine noch höhere Staatsverschuldung nicht kritisch erscheinen. Ein vollständiger oder teilweiser Zahlungsausfall ist für die Ukraine heute genauso eine temporäre Lösung von Problemen wie die Refinanzierung bestehender Schulden.

Eine endgültige Lösung des Problems der hohen Staatsverschuldung der Ukraine kann nur das sein, über was ich Anfang 2014 sprach: ein rasantes Wirtschaftswachstum, bei dem das prozentuale Verhältnis der Staatsverschuldung zum BIP durch das BIP-Wachstum gesenkt wird und durch einen Haushaltsüberschuss Schulden rechtszeitig getilgt werden.

Die Sicherstellung des Wirtschaftswachstums und des BIP des Landes ist die Hauptaufgabe für alle Machtebenen in der Ukraine.

Das Jahr 2015 wird ein Lackmustest dafür sein, zu definieren, wie hoch der Grad der Unterstützung der Gesellschaften, die nach Demokratie streben, durch die westliche Zivilisation ist, sowie ob die ukrainische Wirtschaft fähig ist, die Folgen des Verlustes der Krim und des Donbass als Subjekte ihrer eigenen Wirtschaft zu überwinden. Auf der einen Seite ist es unmöglich, George Soros zu widersprechen, dass für die EU die finanzielle Unterstützung der Ukraine eine Investition in ihre eigene Verteidigungsfähigkeit ist. Sie ist eine Art Unterstützung einer Pufferzone gegen, wie sich herausstellte, einen aggressiven Nachbar. Auf der anderen Seite bin ich mir mehr als sicher, dass es für die Europäische Union nicht nur nicht wünschenswert, sondern auch unzulässig ist, die Ukraine als ein bodenloses schwarzes Loch zu haben, in welchem Jahr für Jahr alle Bemühungen des Westens, die Wirtschaft der Ukraine zu sanieren, ohne angemessenen Effekt unwiederbringlich versinken werden.

Der Westen fordert Reformen in der Ukraine nicht nur zum Abhaken, sondern damit die aktivsten Schichten der Bevölkerung die Möglichkeit bekommen, das Land unter wettbewerbsfähigen Bedingungen zu entwickeln. Die Reformen sind kein Selbstzweck; sie sind nur die erste Stufe, der erste Schritt, der erste Punkt des Plans auf dem Weg zur westlichen Zivilisation durch die Entwicklung der Zivilgesellschaft, das Wirtschaftswachstum und das soziale Wohlbefinden. Der Westen ist bereit, der Ukraine eine Angel zur Verfügung zu stellen, wird aber nicht jeden Tag mit Fisch füttern. Die Ukrainer, darunter die Machthaber, müssen lernen, diesen Fisch selbst zu fangen.

30. Januar 2015 // Serwer Sadykow, Finanzanalytiker

Quelle: LB.ua

Übersetzerin:   Halyna Schweizer  — Wörter: 1828

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