Vitali Klitschko: Die Ukraine am Abgrund – Ein wirtschaftlicher oder ein moralischer Bankrott?
Um zu erfahren, wie die ukrainische „Elite“ lebt, muss man aufmerksam die Nachrichten aus dem Ausland verfolgen. So ist das ganze Land kürzlich sehr nachdenklich darüber geworden, inwieweit es einträglich ist, sich mit Wohltätigkeit zu beschäftigen.
Für einen Menschen, der für Geld aus dem städtischen Budget vermeintlich den Alten „hilft“, ist es normal, Schmuck im Wert von 4,5 Millionen Euro zu tragen. Und wenn die Vertreter der städtischen Administration Informationen über einen Raubüberfall an der Bürgermeistertochter dementieren, so ist diese Summe für sie wohl einfach keine so große. Um das Geld tut es ihr wohl nicht leid.
Naja, Gott sei mit ihr. Es geht hier auch nicht um die Tochter des Stadtvorstehers, sondern um Prinzipien. Genauer gesagt um ihre Abwesenheit.
Ich will und werde nicht in fremden Geldbörsen herumwühlen und erörtern, wer aus welchem Grund in Paris war. Mich bringt etwas anderes auf: Trotz der Fülle an Informationen aus den französischen Medien, von Polizei und Augenzeugen über diesen unordinären Vorfall versucht man uns mal wieder an der Nase herumzuführen. Dafür gibt es einen Grund – die Lüge ist zur Gewohnheit und zur Norm unter den „Eliten“ geworden.
Heute ist viel von der Wirtschaftskrise die Rede, aber mit dem schlimmen Wort „Bankrott“ kann man uns schon lange nicht mehr schrecken. Wir haben uns daran gewöhnt. Aber wenn es uns bis vor kurzem durch Unterstützung des IWF noch gelang, die Hosen oben zu behalten, so sagen Sie mir: Wer soll das Land vor diesem zweiten, moralischen Bankrott bewahren?
Der Vorfall mit den Brillianten ist bezeichnend. Er unterstreicht das stets aktuelle Sprichwort, dass der Fisch vom Kopf her stinkt. Und wenn die Schlüsselunternehmen am Rande der Existenz stehen und das Land nur deswegen in Milliardenschulden versinkt, damit die Politiker sich die Taschen füllen können, dann bedeutet dies, dass das System nicht funktioniert. Es führt das Land an den Abgrund.
Der moralische Verfall der Gesellschaft hat seinen Höhepunkt erreicht. Und die Avantgarde dieses Prozesses ist eine Pseudoelite, die uns ihre verdrehten Werte aufzuoktruieren versucht.
Diese Leute arbeiten in staatlichen Posten und deklarieren minimale Einkünfte, schämen sich dabei aber nicht im Geringsten, Bentleys und Rolls Royce zu kaufen, die das Jahres–, ja Lebenseinkommen des normalen Ukrainers bei weitem übersteigen.
Für sie ist die Arbeit des Beamten ein Geschäft. Denn es ist bekannt, dass fast alle Führungspositionen in Ministerien und Behörden käuflich sind. Und die Politiker sehen die eigene Karriere einzig als Möglichkeit zur persönlichen Bereicherung.
Die Idee des Dienstes am Staate, der Sorge um seine Interessen steht lange nicht an erster Stelle auf der Liste ihrer Motivationen.
Die Ukraine steckt im Sumpf der Korruption. Zwei Drittel des Staatsbudgets befinden sich im Dunkeln. Die Steuerbehörden suchen – anstatt Geld für das Budget zu sammeln – nach „richtigen“ Schemen für bestimmte Persönlichkeiten. Und dies selbstverständlich nicht umsonst.
Die Rechtsschutzorgane schließen die Augen vor den „Streichen“ der Oberen, weil sie selbst in deren „Schuld“ stehen. An den Gerichten bemüht man sich zu „säen“ und nicht gerechte Entscheidungen zu treffen. Die Angelegenheit des Richters Swaritsch (Richter aus Lwiw, bei dem im Hause säckeweise Dollar gefunden wurden) zieht sich schon über ein Jahr, obwohl die Schuldigen in jedem zivilisierten Land schon längst das bekommen hätten, was sie verdienen.
Im Ausland drängt man Politiker schon bei der kleinsten Andeutung eines Skandals zum Rücktritt. In der Ukraine verkrallen sie sich in ihren Sesseln, selbst wenn es offensichtliche Beweise für ihre Vergehen gibt.
Ich idealisiere den Westen nicht. Aber dort gibt es eine klare, moralische Grenze, die in erster Linie von der Gesellschaft selbst festgelegt wird. Überschreitest du sie, so verantworte dich vor dem Gesetz.
In der Ukraine halten sich viele nicht mit solchen „Formalitäten“ auf. Sie wollen eine einfache Sache nicht verstehen: Wer einmal lügt, der tut es auch ein zweites Mal. Wer einmal stiehlt, wird es auch weiter tun.
Deswegen gehört das, was in Europa ein Verbrechen ist, bei uns zur Normalität. Im Ergebnis bin ich überzeugt, dass 90% der heutigen Abgeordneten, Minister und sonstigen, höheren Beamten den Test auf ein moralisches Recht, in der Politik zu sein, nicht bestehen würden.
Sie haben ihre eigene –verdrehte – Werteskala. Entscheidend ist, sich „reich“ zu kleiden, auf „weltliche“ Veranstaltungen zu gehen und ins Fernsehen zu kommen. In der ganzen Welt bemühen sich die wirklich einflussreichen Leute, Geschäftsmänner und Politiker, sich nicht hervorzutun, sich zwar mit Stil zu kleiden, aber bescheiden.
Sich großtun ist ein Zeichen des schlechten Tons. In der Ukraine ist das eine Sache des Stolzes. Anstatt sich mit den staatlichen Problemen zu beschäftigen, geben die Politiker Fernsehinterviews über das „glamouröse Leben“.
Ihre Kinder – die goldene Jugend – amüsieren sich in vollen Zügen. In beängstigender Regelmäßigkeit fahren die Sprösslinge der „Elite“ mit ihren teuren Wagen auf unseren Straßen und Gehwegen Menschen an und werden dafür nicht zur Verantwortung gezogen.
Sagen Sie mir: Wo sind ihre moralischen Prinzipien? Ich persönlich will nicht, dass solche Jungen und Mädchen, die im Leben nichts durch eigene Arbeit erreicht haben, nur aufgrund der Geldbörse ihrer Eltern an ernsthafte, staatliche Posten kommen und unseren Kindern davon erzählen, dass „der Mammon sowohl das Gute als auch das Böse besiegt“.
Und es ist traurig dabei zuzusehen, dass das ganze Land, anstatt diesen Leuten ihren Platz zu zeigen, sich langsam in das Leben nach ihren Maßstäben fügt. Ja, die Ukrainer verfügen über ein hohes Maß an Geduld. Aber wenn wir ehrlich sind, stößt es doch bei vielen schon an seine Grenzen.
Die Amoralität der ukrainischen Gesellschaft und im Besonderen jene ihrer „Elite“ ist offensichtlich. Darüber muss man unbedingt sprechen und den Leuten zeigen, dass es ein anderes Verhaltensmodell gibt.
Es gibt doch in der Ukraine eine echte „Intelligenz“, die gute Ideen befördert. Und das ist schon eine Frage an die Topmanager der Fernsehkanäle: Warum strömen auf unsere Kinder von morgens bis abends Schund, Geschmacklosigkeiten und Schmutz auf Bestellung ein, anstatt das Vernünftige, Gute und Ewige zu säen.
Wir brauchen keine Pseudo-, sondern eine echte Elite. Wir haben auch heute viele kluge, gebildete, ehrliche und anständige Leute.
Man darf nicht auf den totalen Zerfall des Staates warten, sondern muss frühzeitig handeln.
Handeln mit neuen, gesunden Kräften, Intellekt und hohen, moralischen Werten, bei denen Ehre, das Schicksal der Heimat und Professionalität höher stehen als Bereicherung durch einen beliebigen Wert. Die Zukunft des Landes und unserer Kinder hängt von Ihnen ab.
24. Februar 2010 // Vitali Klitschko
Quelle: Ukrainskaja Prawda