Würde, Recht und Protest: Über die heilige Rolle des Staates und die nicht weniger heiligen Menschenrechte



Die letzten Ereignisse vor der Werchowna Rada wirbelten zum wiederholten Mal eine Welle von Emotionen und Gedanken auf. (Gemeint ist die gewaltsame Räumung des seit Oktober 2017 bestehenden Protestlagers von unter anderem Unterstützern des nach Polen abgeschobenen Michail Saakaschwilis durch die Polizei vor dem Parlament am 3. März. Dem Innenministerium zufolge wurden im Lager Waffen wie bspw. Handgranaten gefunden. A.d.R.) Sie sind vollkommen vorhersehbar, gesetzmäßig und (was wirklich traurig macht) inzwischen Alltag geworden. Unabhängig davon, ob „die Unsrigen geschlagen werden“ oder ob „die Unsrigen schlagen“, ändert sich im Wesentlichen nichts in diesen Diskussionen. Sanktionen der Richter (als ob ihnen noch irgendjemand vertraut), die Vollmachten der Minister, die Einhaltung des Prozederes – das alles ist mit Sicherheit sehr wichtig, in weiter entwickelten Gesellschaften. Aber seien wir offen – das Problem liegt nicht im Protest, nicht in der Spaltung, nicht in ihren Slogans und Aufrufen. Das Problem ist, dass ein Mensch, ausgestattet mit Macht und Gewaltmonopol, weniger Zufriedenheit mit dem Prozess an sich entwickeln könnte. Im Idealfall also Gewalt zu vermeiden, wenn sie nicht unbedingt notwendig ist. Doch solche Kapriolen passen auch besser zu entwickelten Gesellschaften, in denen es keinen Krieg und nicht zahllose niedergelassene Netzwerke des Feindes im Hinterland gibt.

Des Weiteren taucht von Zeit zu Zeit in solchen Diskussionen die Idee auf, dass unser Staat, wortwörtlich, den Bürger nicht erzogen hat. Und das ist wieder interessant. Staaten, die heute existieren oder in der Vergangenheit existierten, erzogen Steuerzahler, Soldaten, Bürokraten. Die Bürger selbst schlugen sich ihren Weg im Streit mit der Staatsmacht, dafür gibt es genügend Beispiele in der Geschichte der USA, England, Frankreich. Es gibt auch andere Beispiele (Russland, Österreich-Ungarn), wo die Staaten nicht bereit waren ihren Untertanen entgegenzukommen, die beschlossen hatten Bürger zu werden.

Daraus ergibt sich irgendwie, dass der Staat Reformen durchführen, aber keinen Bürger erziehen kann. Er kann ihn, von der Idee her, beschützen oder gleiche Entwicklungsbedingungen schaffen. Falls es diesen Bürger schon gibt und der Staat eine entsprechende Nachfrage wahrnimmt. Es ist wichtig, dass die Nachfrage nicht einfach nur existiert, sondern der Staat sie auch wahrnimmt. Doch Nachfrage ausformulieren und sie wahrnehmbar machen, das kann nicht einfach ein „Mensch“, sondern ein Subjekt. Eins, das Recht, Besitz und erheblichen Einfluss hat. Eins, das letztlich die Würde hat, über die alle so gern reden. Wenn allerdings der Bürger Subventionen hat, ein Stückchen Land ohne das Recht es zu verkaufen, kostenlose Medizin und eine „erhöhte“ Rente, von welcher „Subjektivität“ kann dann die Rede sein? Welche Rechte können in einem solchen Regime „der Feudalherr gab’s, der Feudalherr nahm’s“ existieren?

Nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung unseres Landes verfügt über eine bestimmte Subjektivität, und diese Leute kann man als vollberechtigte Bürger der Ukraine ansehen. Ihre Anfragen, Forderungen und Interessen schützt der Staat. Wozu also sollte der Staat auch noch Plebejer bedienen, von welchen nichts abhängt?

Dementsprechend ist aller Protest, der nicht die Vergrößerung des Kreises echter, nicht unechter Bürger, zum Ziel hat, ein bloßer Versuch der weniger erfolgreichen Subjekte, die erfolgreicheren von der Macht zu wegzuschieben. Falls es kein Protest gegen die Aufgabe der Ukraine an Moskau ist. Obwohl, wie die Praxis zeigt, gelingt es auch das zu vereinen. Auf der Welle des Volkszorns gelingt es dem ein oder anderen, „aus dem Sumpf zum Triumph“ emporzusteigen. Doch in der Mehrzahl der Fälle erfasst diese Methode das gleiche Kontingent Beteiligter wie beim Superlotto oder einer TV-Quizshow und erfährt ein entsprechendes Maß Mitgefühl in den Massen.

Man kann endlos lange darüber jammern, dass der Mensch für den Staat nicht zu einem Wert geworden ist. Wie auch die ukrainische Sprache, die Wälder der Karpaten, der Bernstein aus Polesien. Und könnte es anders sein? Denn der Staat ist, grob gesagt, die Gesamtheit der Bürger. Und genau sie, die Bürger, stellen einen Wert dar, sie bedienen sich der Ressourcen, des Waldes. Doch viele Leute sind nicht mehr als eine Ressource. Welcher sich, schon wieder, die Bürger bedienen. Alles logisch.

Deshalb muss man sich von einer Ressource (darunter auch einer Wahl-Ressource) in einen Bürger verwandeln. Es gibt, wie im Märchen, zwei Wege. Der erste ist der traditionelle und vertrauenerweckende: Miliz-Schule, Jugend der Partei der Regionen, Abgeordneter im Kreisrat und schwupp – losgegangen – angekommen. Der zweite würde allerdings Vertrauen unter denen erfordern, die Anspruch auf den Übergang zum Stand eines Bürgers erheben, einst nannte sich das „Kampf für Recht und Freiheit“. Was allein schon einen Kampf für größere Rechte und Freiheiten für die „Nicht-Ganz-Bürger“ nach sich zieht.

Doch Demonstrationen und Wahlen sind nur ein Instrument für alle. Es ist einfach eine Möglichkeit, nicht zweimal hintereinander einen schlechten Regierenden zu wählen. Oder um gewählt zu werden. Obwohl es viele gibt, die denken, dass es letztendlich gelingt, einen vegetarischen Schäfer für die Herde zu finden.

Schlussendlich ist die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte nicht umsonst eine reine „Deklaration“. Sie ist keine Aufforderung, kein Gesetz der Physik. Ein Mensch kann Rechte haben oder sie nicht haben. Ein Mensch – das ist noch kein Bürger. Und Gewerkschaftssitzungen sind keine Aktionärsversammlungen. Obwohl diese Illusion entstehen kann, wenn man Fernsehen schaut. Denn es rufen Leute im Studio an und machen freudig Vorschläge, wie das Gastransportsystem zu managen wäre.

6. März 2018 // Nasar Kis

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Annegret Becker  — Wörter: 863

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