Wann ist Russland falsch abgebogen?
Immer mehr Menschen in der Welt begreifen: Russland ist nicht wie alle anderen.
Es tauchte scheinbar im Heute mit dem aggressiven Gestern auf. Ein Land, das Nachbarn überfällt, die ganze Welt bedroht, von Angst lebt und darin seine Größe sieht.
Wann wurde Russland zu dem, was es ist?
Wann ist es falsch abgebogen?
Versuchen wir hier auf diese Frage zu antworten.
Einige der westlichen Politiker mussten erst die Ruinen der ukrainischen Städte und Dörfer mit eigenen Augen sehen, um zu begreifen, inwieweit inadäquat dieses Land geworden ist.
Sie sind sich daher sicher, dass das „falsche“ Abbiegen am 24. Februar 2022 geschah, als Putin den großflächigen Angriff auf die Ukraine von Süden, Osten und Norden begann.
Das ist eine sehr bequeme Version für diejenigen, die bis zum letzten Moment freundschaftliche und geschäftliche Beziehungen mit Putin aufrecht erhalten haben.
Das trotz der Tatsache, dass bereits fast acht Jahre nach der Besetzung der Krim, der Eroberung eines Teils der Gebiete Donezk und Luhansk vergangen sind und tausende Menschen und nicht einmal nur Ukrainer ermordet wurden. Erinnern Sie sich nur an den von russischen Terroristen abgeschossenen Passagierflieger MH17.
Doch die Abkehr der Russischen Föderation von einem normalen Land, das gemäß den internationalen Regeln und Normen handelt, geschah nicht einmal im Jahr 2014. Denn nicht erst in dem Jahr hat es frech und offen das internationale Recht verletzt, indem es einen Krieg gegen einen souveränen Staat entfachte.
Erinnern Sie sich an die Aggression gegen Georgien 2008.
Obgleich Putin schon ein Jahr früher auf der Münchener Sicherheitskonferenz offen seine Ziele erklärt hat, Russlands Rolle in der Welt wiederherzustellen und dabei seinen Einfluss im postsowjetischen Raum zu erneuern.
Und im Jahr 2005 hat er, einige Monate nach dem Sieg der Orangen Revolution erklärt, dass der „Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war“.
Also hat Putin nie versteckt: Das Ziel seiner Außen- und Innenpolitik ist es die Folgen dieser „Katastrophe“ zu überwinden, die Welt wieder in die Situation von vor 1991 zu versetzen.
Dann ist die Russische Föderation vielleicht vom demokratischen Weg abgekommen, indem sie Wladimir Putin zum Präsidenten machte?
Fraglos hat der KGBler an der Spitze des Staates persönlich einiges für die Rückkehr zur UdSSR unternommen.
Also ist der 31. Dezember 1999, seitdem Putin Russland regiert (zuerst als geschäftsführender Präsident, danach als Ministerpräsident und danach erneut als ewiger Präsident), ein Wendepunkt in der Geschichte dieses Landes.
Jedoch bestimmt Putin die Stimmung in der Gesellschaft nicht – er passt sich eher an diese an und nutzt sie.
Doch die irreversiblen Änderungen in der Demokratie in Russland begannen schon vorher.
Vielleicht während der massiven Fälschungen und Manipulationen bei den Präsidentschaftswahlen 1996?
So wurde die zweite Amtszeit für Boris Jelzin organisiert und die Russen schwiegen.
Nein, noch eher.
1994 entfachte der Kreml den Krieg gegen die Tschetschenen, welche die Unabhängigkeit anstrebten.
Der damalige Präsident der Russischen Föderation, der damals für viele in der Welt mit dem Kampf für Freiheit assoziiert wurde, derjenige, der den kommunistischen Putsch in Moskau drei Jahre vorher zum Scheitern brachte, eben der Boris Jelzin beschloss, das Streben des stolzen kaukasischen Volkes nach Freiheit in Blut zu ertränken.
Doch noch vor diesem Krieg hat der Präsident der Russischen Föderation angesichts der Drohung die eigene Macht zu verlieren auf das eigene Volk geschossen.
Im Oktober 1993 erließ Jelzin inmitten einer politischen Krise, eines Konflikts mit dem russischen Parlament, das seine Abberufung von den Pflichten des Staatsoberhaupts ankündigte, ein Dekret über die Auflösung des gesetzgebenden Organs.
Der Unwillen der Abgeordneten die verfassungswidrige Entscheidung des Präsidenten umzusetzen, trieb Jelzin zur Anwendung von Gewalt.
Das Parlament und die es verteidigenden Bürger wurden von Panzern zusammengeschossen.
Nach offiziellen, wahrscheinlich zu niedrigen, Schätzungen, kamen dabei etwa 150 Menschen um.
Es sieht so aus, als ob diese Handlungen zum letzten Massenprotest der Russen gegen die verbrecherische Staatsmacht wurden, bei der sie den Mut zeigten, die Ordnungskräfte zu stoppen.
Seit dieser Zeit endeten alle Aktionen zivilen Ungehorsams mit massenhaften und beinahe endlosen Verhaftungen der Protestierenden.
Die gewaltsame Auflösung des Parlaments im Oktober 1993 wurde in Russland und der Welt zwiespältig aufgefasst. Denn einerseits sah das wild und brutal aus, doch andererseits waren die politischen Gegner Jelzins die Kommunisten und andere für Demokraten inakzeptable Charaktere.
Vielleicht lohnte es sich für die weitere demokratische Entwicklung, mit ihnen gerade so umzugehen?
Derweil sehen wir, wie der mit Hilfe von Panzern errungene Sieg im politischen Konflikt Jelzins, die Russische Föderation vom demokratischen Weg abbrachte.
In der Ukraine wurde eine ähnliche politische Krise (ein Konflikt zwischen Präsident und Parlament) auf andere Art gelöst: mittels vorgezogener Wahlen des gesetzgebenden Organs und des Staatsführers. Präsident Krawtschuk verlor die Macht, doch die Ukraine wahrte die Demokratie.
Zur gleichen Zeit endeten die „Flitterwochen“ der Russen mit der Freiheit innerhalb von zwei Jahren. Dieses Mal dauerten sie länger als 1917, als sie vom Februar bis Oktober andauerten.
Danach bewegte sich das Land auf dem für Russland gewohnten Pfad der Freiheitsbeschneidung: eine zweite Amtszeit für Jelzin, der zweite Krieg gegen Tschetschenien und die bis auf die Grundmauern vernichtete Hauptstadt Grosny, die Wahl Putins, die sich als ewig erwies, der Krieg gegen Georgien, der sich als nächster erwies und der Krieg gegen die Ukraine, der für Russland der letzte sein wird.
Die Ukraine wird siegen, denn wir sind nicht nur nicht ein Volk – wir sind ein komplett anderes Volk.
Denn die Ukraine ist nicht Russland. Wir errichten unseren Staat auf dem Fundament der Freiheit, die das Basiselement unserer Mentalität ist. Stattdessen wird Russland erneut zum Zentrum der unfreien Welt des Planeten.
Das ist erst einmal alles. Bis zu den nächsten Treffen im Strudel der Geschichte.
Ruhm der Ukraine!
17. August 2022 // Wolodymyr Wjatrowytsch, Historiker, Parlamentsabgeordneter von Petro Poroschenkos Partei Europäische Solidarität, ehemaliger Chef des Instituts für nationales Gedächtnis
Quelle: Ukrajinska Prawda