Warum sie nicht zur Wahl gegangen sind
Um zur Wahl zu gehen, braucht man keinen Grund – es ist die Pflicht aller Bürger und Bürgerinnen, es ist eine Chance auf ein besseres Leben, das ist unsere Teilnahme am politischen Leben des Landes. Aber jetzt, wann der letzte Wähler das Wahllokal verlassen hat und dieser Text keinen negativen Einfluss auf die Wahlteilnahme mehr ausüben kann, haben wir uns entschlossen, einige Meinungen der Menschen zu veröffentlichen, die nicht zur Wahl gegangen sind. Warum haben sie keinen Gebrauch aus ihrem Wahlrecht gemacht?
Menschen nennen dazu ganz unterschiedliche Gründe. Besonders kreativ sind die Meldungen in Twitter. Ich zitiere einige zitierfähige. „Als Befürworter einiger Postulate des „Projekts Venus“ werde ich alle Erscheinungen der heutigen Macht ignorieren und nicht zur Wahl gehen :)“ (agassi@agassi70). „Ich werde nicht wählen gehen, dies widerspricht meiner epikurischen Einstellung und stört, die Ataraxie zu erreichen“. (Emmi Fara Fauler@foreva_ololo). Oder ein Kommentar aus der Ukrainskaja Prawda: „Ich werde überhaupt nicht zur Wahl gehen, weil ich am Sonntag traditionell betrunken sein werde“.
All diejenigen, die ihre Wahlpflichten bei den heutigen Wahlen vernachlässigen, kann man grob in zwei großen Gruppen einteilen – die, die enttäuscht sind, und die nicht umgemeldet sind.
Die nicht Umgemeldeten gehen nicht wählen, weil sie am Wahltag nicht bei ihrer Anmeldeadresse sein können. Zum Beispiel erklärt unser Kollege Andrej Janizkij seine Nichtteilnahme an den Wahlen so:
„Ich bin wahrscheinlich zum ersten Mal in meinen 29 Jahren nicht wählen gegangen. Hauptgrund ist die Abschaffung der Wahlscheine. Ich lebe seit fünf Jahren in Kiew, aber angemeldet bin ich immer noch in Sewastopol. Um wählen zu können, müsste ich drei Tage lang auf der Reise zu meiner Anmeldeadresse sein oder viel Geld für ein Flugticket ausgeben. Am Wahltag arbeite ich normalerweise, deswegen habe ich immer Gebrauch von dem Recht gemacht, in einer anderen Stadt zur Wahl zu gehen. Zu dem Zweck war ich rechtzeitig auf der Krim und besorgte mir einen Wahlschein. Diesmal hat die ZWK (Zentrale Wahlkommission) mir dieses Recht grundlos genommen.
Ich sehe aber keineswegs eine große Tragödie darin. Die große Politik beginnt nicht im Parlament, sondern bei uns selbst (in unserer Familie, im Haus, im Stadtviertel). Und die Wahl findet nicht alle fünf Jahre statt, sondern jeden Tag. Mit unserer täglichen Arbeit wirken wir mehr auf das Land, als mit unserer Wahlentscheidung. Ich habe keine Illusionen bezüglich der Regierung. Ich habe kein Vertrauen zu Politikern. Und meine Hauptaufgabe als Bürger sehe ich in der Kontrolle über die Politiker als Journalist.“
Und hier sind die Auszüge aus einem populären Blog bei denen, die enttäuscht sind. Der Blogeintrag wurde auf ipress veröffentlicht und der Autor ist Mamai.
„…Ich werde nicht zur Wahl gehen, weil ich weiß, dass meine auf so eine Art abgegebene Stimme nichts wert ist. Sie ist nicht den Buchweizen und die Regenschirme wert, welche die Kandidaten so gerne verteilen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie kann man all dieses Zirkus mit ihren „Einigen“, „Verbesserten“ und „Träumern“, die ihre Verachtung gegenüber den Menschen nicht einmal verstecken, als Wahl bezeichnen. Ich bin überzeugt, dass keiner von denen eine die Möglichkeit von Reformen in Betracht zieht, um ein normales Leben im Lande zu schaffen – es liegt einfach nicht in ihren Interesse.
Ich werde nicht wählen, denn in ein oder zwei Wochen vergessen alle diese Wahl! Denn die Massenmedien werden weiterhin die Lapsus von Janukowitsch als Nachrichten verkaufen. Denn die Leute werden wieder zu Hause die Regierung kritisieren und die Preise werden steigen. Denn junge Familien werden wieder Wohnungen mieten ohne jegliche Hoffnung auf ein eigenes Zuhause. Und die „Gewinner“ werden hohe Zäune um ihre neuen „Schlösser“ bauen lassen.
Und ich glaube, dass jeder, der zur Wahl geht, schon weiß, dass es nichts ändern wird.
Aber die verdammte „Hoffnung“ lässt uns glauben wie in der Kindheit an den Nikolaus oder Weihnachtsmann und ab der Volljährigkeit an die Wahlen und eine andere Demokratie.
P.S. Ich gehe nicht wählen und ich bin nicht stolz darauf, ich halte es einfach nicht für nötig.“
„Man muss wählen gehen und nicht zu Hause vorm Fernseher sitzen oder bei Facebook. Die Gesellschaft muss bürgerlich aktiv und bewusst sein.“
Zum gleichen Thema: „Weit verbreitet ist die Psychopathie, bei der der Mensch nicht im Stande ist, ein einfaches Argument zu verstehen: ʹich bin nicht zur Wahl gegangen, weil meine Stimme nichts entscheidetʹ“ (bodhi-name.livejournal.com).
Und solche Menschen – mit oder ohne Erfahrung mit Wahlen, die nicht bekommen haben, was sie wollten, nämlich „Verbesserungen“, und keinen Sinn mehr in den Wahlen sehen, gibt es sehr viele. Sie schreiben von Sinnlosigkeit, Hilflosigkeit und Vergeblichkeit der Teilnahme an Wahlen. Apropos die, die gewählt haben, schreiben das Gleiche…
Fünf Gründe zu wählen oder nicht zu wählen nennt unser anderer Kollege Andrej Wodjanoj:
„Ich wäre wählen gegangen und hätte meine Stimme der Partei abgeben, die ich die letzten acht Jahre bei allen Wahlen unterstützt habe, wäre nur der Parteivorsitzende nicht Wiktor Juschtschenko, sondern zumindest Walentin Naliwajtschenko.
Ich wäre wählen gegangen, hätte ich gegen alle abstimmen können. Leider wurde mir diese Möglichkeit genommen. Es gibt natürlich eine Möglichkeit, eigene Position zu demonstrieren, den Stimmzettel ungültig zu machen, dies gehört aber nicht zu meinen Prinzipien.
Ich wäre wählen gegangen, um einen Direktkandidaten zu wählen. Aber mich stört das Anmeldeverfahren, bei dem die Anmeldung mich streng an die Stadt bindet, in der ich seit Jahren nicht mehr lebe, und es dauert mehr als zehn Stunden, bis ich dorthin komme. Mir ist es einfach zu schade, so viel Zeit dafür zu investieren.
Ich wäre wählen gegangen, wäre die Ukraine nicht immer noch im 20.Jahrhundert gewesen und hätte die elektronische Wahlabstimmung eingeführt.
Ich wäre wählen gegangen, hätte es nicht so viele „hätte/wäre“ gegeben.“
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Die Wahlen in der Ukraine ähneln einem Fußballspiel – man kann für das ein oder andere Team fiebern, aber man muss ihm auch systematische Fehler verzeihen. Dabei bietet sich die Möglichkeit an, einmal in vier Jahren das Team mit der eigenen Stimme zu unterstützen. Und während einige mitfiebern, die Resultate der Exit Polls verfolgen und virtuelle Rauchkörper ins Lager der Opponenten werfen, beschäftigen sich die anderen mit den eigenen Sachen und machen sich keine Sorgen darüber, dass sie nicht an den Wahlen teilgenommen haben.
28. Oktober 2012 // Wiktorija Gerassimtschuk