Was wir über die Krimtataren nicht wussten


Der „Krim-Frühling“ nahm den Krimtataren die Revolution und schenkte ihnen stattdessen die Konterrevolution. Aber im Unterschied zu den Ukrainern und Russen können sie nirgendwohin ausreisen – alles, was sie als Heimat empfinden, ist auf der Halbinsel konzentriert.

Die Krim-Tataren sollen an die Macht kommen, um die Probleme zwischen den Nationen zu lösen und nicht anzuhäufen, erklärte das ausführende Oberhaupt der Krim Sergej Aksjonow (die Ukraine erkennt seinen Status nicht an – LB.ua). Im Endeffekt tauchten im Parlament sogar drei Krim-Tataren auf – alle auf der Liste von „Jedinaja Rossija (Einiges Russland)“. In relativen Zahlen sind das 2,25 Prozent. Der Anteil der Krim-Tataren auf der Halbinsel liegt bei 13 Prozent.

Und hier könnte man immer einwenden, dass Nationalitäten-Quoten Bedingungen sind, dass die Welt nach anderen Regeln funktioniere, dass immanente Verhältnisse zu immanent sind, um sich an ihnen zu orientieren. Und das ist alles richtig, wenn es nicht ein aber gäbe. Hier ist es wie in dem alten Witz – manchmal stört ein ehrlicher Mensch eine ganze Gruppe dabei, sich als anständige Menschen zu fühlen.

Nationale Legendenbildung

Auf der Krim leben zwei Millionen Menschen. Von ihnen sind zweihundertfünfzigtausend Krim-Tataren. Sunniten, Hanafiten – in der Praxis heißt das, dass sie eher zu denen zählen, die mehr dulden, was als ein weltlicher Lebensstil angesehen wird, was Kleidung und Kosmetik einschließt. Der religiöse Faktor ist wichtig, aber er ist nicht der Schlüssel. Die Krimtataren sind in der Masse nur soweit Moslems, wie die Ukrainer und Russen orthodoxe Christen sind. Für die meisten Vertreter der nationalen Minderheit ist der Islam eher ein Symbol der kulturellen Isolation: keine Tücher, keine Schleier flimmern auf den Straßen der Krim-Städte vor den Augen. Nicht mal Abgesandte aus Ankara und Riad konnten ihnen die Mode nach dem radikalen Islam anerziehen – im inoffiziellen Widerstreit der Weltlichen mit den Religiösen trugen immer Erstere den Sieg davon.

23 Jahre hatten alle Angst davor, dass die Krim-Tataren kommen und alle abschlachten, aber sie kamen nicht und schlachteten nicht. Die Russen beschuldigten die Krimtataren der eigenmächtigen Landnahme, doch nach der russischen Inbesitznahme im März dieses Jahres ist selbst die Erinnerung daran irgendwie unseriös. Die Krim-Tataren waren in der Masse immer eher am Kompromiss orientiert, als Beweis dafür könnte das letzte Vierteljahrhundert dienen, in dem die Halbinsel den Bogen der Instabilität unterbrach, der sich vom Balkan zum Kaukasus spannte.

Im Übrigen ist daran Nichts verwunderlich. Die Krim-Tataren, die die Deportation und den langen Prozess der Rückkehr in die Heimat überlebten, beschäftigten sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit nichts Anderem, als sich selbst zu finden, wieder neu und unter neuen Bedingungen. Dabei hat ihnen kaum jemand geholfen, vielleicht nur deshalb, weil der ukrainische Staat selbst nicht auf Schöpfung zielte, sondern auf Zerfall. Kiew erkannte die Krim-Tataren als Instrument an, als Vorreiter seiner Interessen auf der Halbinsel. In gewisser Weise beruhte das auf Gegenseitigkeit.

Russland und die Nichtrussen

Die Krimtataren waren die einzigen Gegner der prorussischen Stimmung auf der Krim. Das ist nicht verwunderlich; Russland positionierte sich als Nachfolger der UdSSR, eben jener, die das gesamte Volk nach Zentralasien verschickte. Es ist schwer sich mit einem Land zu solidarisieren, das weiterhin darauf beharrt, dass die Deportation die Strafe für Massen-Kollaboration war. Obwohl sich die Krim-Tataren nie selbst mit der Herausgabe einer Gegenlegende zu den Geschehnissen in den Jahren 1941 -1945 beschäftigten, wie es im Baltikum oder der Westukraine geschah. Hier huldigte man nicht denen, die in den Reihen der deutschen Armee dienten, baute ihnen keine Denkmäler, man verhielt sich respektvoll gegenüber den Veteranen und dem Tag des Sieges.

Alle Versuche der prorussischen Aktivisten die Krim-Tataren aus den Zahlen der Siegernation zu verdrängen waren genauso grob, wie sie dumm waren. Das Krimtatarische historische Narrativ stimmte mit dem kollektiven postsowjetischen überein – das Thema des Großen Vaterländischen Krieges war der ideale Brückenkopf für Russland, um eine Schnittstelle mit der ethnischen Minderheit der Krim zu finden. Stattdessen beschuldigte der Generalkonsul der Russischen Förderation noch wenige Monate vor den Ereignissen des „Krim-Frühlings“ des Verrats und der Kollaboration. Und das, obwohl einer der Haupthelden des Volkes Amet-Han Sultan ist: zweimaliger Held der UdSSR, verdienter Aufklärungs-Flieger und Hauptfigur der von den Krim-Tataren selbst gedrehten Films „Chaitarma“ (Qaytarma).

Der Hauptunterschied zwischen den Krim-Tataren und den Krim-Russen bestand darin, dass Letztere prosowjetisch blieben, während Erstere schon postsowjetisch waren. Sie waren Elemente eben jener Realität, die vom Imperium mit seinem Diktat des Gemeinsamen über das Private wegdriftete. Sie waren Ausnahmen von dem System, bei dem die Krim der Anker war, die Ukraine am russischen Kai haltend. Die Ukraine riss sich los und schwamm davon. Aber der Anker blieb, zusammen mit den Krim-Tataren.

Wozu der Medschlis gebraucht wird

Wenn irgendein Dmitrij Jarosch wiederholt sagt, dass man mit Hilfe der Krim-Tataren einen Partisanenkrieg auf der Krim beginnen sollte, unterscheidet er sich wenig vom kollektiven Putin. Es ist ja auch egal, mit wessen Hilfe man eine DNR („Donezker Volksrepublik“, A.d.Ü.) auf dem Gebiet des kürzlich noch friedlichen Donezk errichtet. Denn nur die Krim-Tataren, sind für sich eine große Sache im Vergleich zur Bevölkerung der östlichen Gebiete der Ukraine. Denn in den östlichen Gebieten der Ukraine leben Menschen, die sich nicht so sehr als Ukrainer oder Russen positionieren wie als „Bewohner des Donbass“. Nach Bedarf können sie immer ihren Identitätsmarker ändern, nach Westen oder nach Osten gehen. Aber die Krimtataren können sich das nicht erlauben. Sie haben keine Heimat außer der Krim.

Der „Krim-Frühling“ zerstörte die Architektur der Pläne vieler Menschen auf der Halbinsel. Aber nur die Krim-Tataren gerieten in die Situation, in der ein zerstörtes Zukunftsbild mit der Unmöglichkeit zusammentrifft, dieser neuen Realität zu entfliehen. Darin besteht ihr Problem, jenes, das die Krim-Ukrainer nicht haben.

Dafür hatten die Krim-Tataren den Medschlis (Qırımtatar Milliy Meclisi, Parlament der Krim-Tataren – Anm. d. Übers.), das Hauptzentrum ihrer eigenständigen nichtstaatlichen Verfasstheit. Das war keine gesellschaftliche Organisation, viel mehr wies der Medschlis jedes Mal die eindringlichen Vorschläge der ukrainischen Regierung zurück, sich einen derartigen Status eintragen zu lassen. Denn das wäre für ihn eine Status-Absenkung gewesen, der Medschlis positionierte sich als ethnische Regierung. Das war ein Argument in dem Sinne und dafür, den Status von „Ureinwohnern“ zu erreichen und Anspruch auf national-territoriale Autonomie zu erheben.

In den ganzen vergangenen Jahren war gerade der Medschlis ein Verbündeter Kiews in Angelegenheiten der Krim. Bei den hiesigen Wahlen unterstützte er eine der gesamtukrainischen Politkräfte auf der Halbinsel, weshalb sie auf 10-12 Prozent der Stimmen der Krimbewohner rechnen konnte, im Austausch gegen ein paar Abgeordnetensitze für die Führer des Medschlis in der Werchowna Rada der Ukraine. Aber jetzt ist dieses System zerstört. In Russland existieren keine Zentren nichtstaatlicher Verfasstheiten, wodurch der Medschlis zerstört, aufgelöst und marginalisiert wird. Die Krim-Tataren sind nicht der Illegalität ausgeliefert, man wird ihnen Posten in der Regierung geben, wenn sie die neue Staatsbürgerschaft der Halbinsel anerkennen. Aber nicht früher.


Eben deshalb reproduziert Russland, das das alte System zerstörte, das Schema Grigorij Gorinas „Schließt Euch an, Baron!“. Die Methode Moskaus ist verständlich – Geld und Zutritt zur Macht. Alle werden sie nehmen und unterbringen, wenn sie Kadyrow und seiner öffentlichen Rhetorik gleichen. Und umgekehrt.


Mancher, wie der Ex-Vertreter des Oberhaupts des Medschlis Remsi Iljasow erhörte schon die Überredung, und wurde Vize-Sprecher. Mancher, wie das Oberhaupt des Medschlis Refat Tschubarow lehnte ab, weshalb man ihm das Recht zur Einreise auf die Halbinsel nahm. Aber in jedem Fall versucht Russland, das Verständnis von „Kim-Tataren und Medschlis“ zu zerstreuen. Deshalb gibt es für den russischen Einwohner keine Unterdrückung der Krim-Tataren, es wird nur im Verhältnis zu einer konkreten „rebellischen Organisation“ Ordnung geschaffen. Aber für den Ukrainer geht es um die Vernichtung des Systems nationaler Vertretungen, des Kurultai (Qırımtatar Milliy Qurultayı) und des Medschlis.

Außerdem sind im Verständnis vieler russischer Bürger die Krim-Tataren von der Krim und die Tataren aus Tatarstan im Grunde genau das Gleiche (obwohl das zwei völlig verschiedene Völker sind). Und für diese Bürger ist das Adjektiv „Krim…“ nur ein Geo-Tag, das den Wohnort näher bestimmt, und kein untrennbarer Bestandteil der Bezeichnung einer Nationalität. Deshalb ist es für den Russen häufig unverständlich, was für eine Selbstständigkeit und Verfasstheit Menschen wollen, die in Tatarstan einen protonationalen Staat haben. Man sagt, haben sie nicht in Kasan alles, was man auf der Krim will? Ein bequemes Muster, das niemand besonders zu enttarnen eilt.

Auf sich allein gestellt

Aber man hat den Krim-Tataren auch die gesamten letzten 23 Jahre vorgeworfen, es mit der Integration in die neue Realität auf der Krim nicht eilig zu haben. Zumindest in dem Sinne, dass sie eine Sache für sich blieben. Wobei, wenn man darüber nachdenkt, daran nichts Verwunderliches ist.

Der Grund liegt einfach darin, dass man sich in den letzten 23 Jahren nirgendwo integrieren konnte. Der oligarchische Darwinismus ist nicht nachsichtiger mit den Tataren als mit den Russen: das Herauspressen der Säfte aus den kleinen und mittleren Unternehmen und die Geringschätzung staatlicher Angestellter betraf alle gleich. Das Fehlen sozialer Lifte, die marode Politik von Beamten aller Couleur und das schnell wachsende Gefühl der Perspektivlosigkeit behagten auch niemandem.

Das gesamte letzte Vierteljahrhundert war die Krim in der Sackgasse einer eigenen Weltempfindung gefangen. Sie konnte sich nicht in der neuen ökonomischen Realität einrichten, verblieb als hilfloses, zuwendungsbedürftiges Gebiet im Verbund des Landes. Sie hatte keine Leitideen, keine Leitgedanken außer sich in eine Region einzelner Dienstleistungen zu verwandeln. In dieses Schutzgebiet zweitrangiger Nostalgie wollte man sich nicht integrieren. Nicht auf privater und nicht auf kollektiver Ebene. Die Krim-Tataren spürten das und verstanden, dass ihre östlich-islamische Tradition der gegenseitigen Unterstützung wenigstens irgendeine Garantie zum Überleben war. Integration macht nur dann Sinn, wenn die neue Qualität angenehmer ist als die alte.

Der Maidan gebar dem Land die Chance, die Ukraine nach neuen Regeln umzubauen, aber die Krim-Tataren schafften es nicht, sie zu nutzen. Der „Krim-Frühling“ nahm ihnen die Revolution und schenkte ihnen dafür die Konterrevolution. Und jetzt befinden sie sich an einem Scheideweg.

Denn jedem von ihnen ist Russland bereit folgendes vorzuschlagen: nach Gorina „schließt Euch an, Herr Baron!“. Aber schöne, schnittige und eindeutige Antworten zu geben ist nur dann leicht, wenn man ein Filmheld ist. Aber im Leben garantiert niemand einem ein Happy End. Deshalb, bevor man über jemanden urteilt, lohnt es sich ihn zuerst verstehen zu wollen.

11. Oktober 2014 // Pawel Kasarin

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1716

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