Was geschieht in der Ukraine und mit der Ukraine?
Revolution und Krieg mit Russland haben den Prozess der Nationenbildung beschleunigt.
Dieser Titel wurde in Anlehnung an ein Werk von Serhij Maslach und Wassyl Schachraj gewählt, das die beiden Ideengeber der ukrainischen Eigenständigkeit an Lenin adressierten, als die bolschewistische Aggression gegen die Ukraine Ihren Höhepunkt erreichte. In der heutigen Zeit wäre es sinnlos, etwas Ähnliches an Putin zu schreiben. Sinnvoll hingegen wäre es, wenn sowohl die ukrainische Elite als auch die interessierten Vertreter der breiten Öffentlichkeit die Prozesse im Land besser begreifen würden.
Pessimisten sind der Meinung, dass der unzureichend modernisierte, ineffektive und korrumpierte ukrainische Staat bald zugrunde geht. Der wirtschaftliche Verfall, beschleunigt durch die russische Aggression, treibt die Ukraine in den Abgrund. Optimisten hingegen verzeichnen einen beispiellosen Anstieg von Patriotismus, gesellschaftlicher Selbstorganisation und Zusammenhalt. Beide Interpretationen sind lückenhaft und widerspiegeln nur einen Teil der Realität. Was geschieht denn in Wirklichkeit? Die Besonderheit der jetzigen Situation in der Ukraine besteht darin, dass sich gleichzeitig drei Prozesse abspielen.
Involution
Zum Einen sind wir Zeugen einer Involution: Wir erleben den Verfall und Auflösung des institutionellen Erbes der Sowjetunion. Besonders deutlich sieht man diesen Verfall am Beispiel von zwei grundlegenden Institutionen: dem Staat und seiner Verfassung. Ein Indiz für die Rückentwicklung des Staates sind fehlende Kontrolle über sein Territorium und Bevölkerung sowie Verlust der Monopolstellung bei der Ausübung staatlicher Befugnisse. Der ineffektiven und korrumpierten Regierung ist es nicht gelungen, die Aggression einzudämmen, den Separatismus zu unterdrücken und den wirtschaftlichen Verfall zu überwinden. Die meisten UdSSR-Nachfolgestaaten haben allerdings selbst ihr eigenes Todesurteil unterschrieben, indem sie das nicht überlebensfähige Modell der Sowjetunion übernommen haben, so der US-amerikanische Soziologe Georgi Derluguian. Im Grunde genommen sind solche Staaten nur eine Kopie der ehemaligen Sowjetunion, die allerdings kleinere Ausmaße und schlechtere Qualität als das Original hat.
Nach dem Zerfall der UdSSR erfolgte schnell der Machtwechsel von der sowjetischen Nomenklatur zu den neuen ukrainischen Polit-Clans, die Besitz über das Land ergriffen haben. Nun hatte die Geschäftswelt Einfluss auf die politischen Entscheidungen gewonnen. Dies geschieht, wenn die herrschenden Kreise sich nicht an die Spielregeln halten wollen oder können und diese ständig ändern. Informelle Abmachungen wie Korruption, Vetternwirtschaft und Klientelismus gewinnen dann die Oberhand über formelle Regelungen wie Verfassung und Gesetze.
Die Rückentwicklung der ukrainischen Verfassung begann vermutlich noch in der Nacht ihrer Unterzeichnung. Die systematische Verletzung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit, selektive Gesetzesanwendung, Rechtsverstöße und Missachtung des Gesetzgebungsverfahrens zeugen von verfassungsrechtlicher Involution. Die Machtwechsel scheinen keinen Einfluss auf diese Missstände zu haben. Das beste Beispiel dafür, dass immer noch nicht selten politisch motivierte und nicht legitime Entscheidung getroffen werden, ist das Gesetz über den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat.
Die oben geschilderten Überlegungen deuten darauf hin, dass der Zerfall des Kommunismus im postsowjetischen Raum schon drei Jahrzehnte andauert. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess in Russland und in der Ukraine voranschreitet, ist allerdings nicht gleich. In der Ukraine wird der Verlauf durch zwei Entwicklungen beschleunigt, die in Russland entweder eingedämmt werden oder nicht stattgefunden haben.
Revolution
In der Ukraine erleben wir gerade eine Revolution. Sie brach aus, obwohl sie weder vom Westen noch von Russland oder von der ehemaligen ukrainischen Opposition gewollt war. In der Gesellschaft bildete sich eine kritische Masse, die das Land neu gestalten wollte. Im Zuge der politischen Revolution erfolgte der Machtwechsel. Jetzt ist es an der Zeit, dass auch der soziale Bereich von politischen Errungenschaften profitiert. Doch die Führungsschicht leistet Widerstand: Mit Ihrem Reformplan versucht sie, die Revolution aufzuhalten. Wenn unsere politische Elite keine tiefgreifenden Reformen durchführt, verliert sie nicht nur die Macht, sondern gefährdet auch die Existenz des Staates. Darauf setzt Putin, der mit Hilfe von Medwedtschuk und seinen anderen Agenten die Situation weiterhin zuspitzen wird.
Evolution
Die russische Aggression führte zum Zerfall eines postsowjetischen Pseudostaates, löste aber diametral andere Prozesse in der Gesellschaft aus: Ihren Aufstieg und Wandel. Wie jede Veränderung, können diese Prozesse vom geplanten Kurs abweichen und unvorhersehbare Konsequenzen haben. In erster Linie führt es zur Entstehung neuer Formen politischer Einflussnahme und sozialer Interaktion sowie zum Wertewandel. Wenn die Wahlbeteiligung sinkt, steigt das Interesse an Protestbewegungen. So nahm an der Orangen Revolution 17-18 Prozent der Bürger teil. Bei der Revolution der Würde waren schon etwa 20 Prozent beteiligt. Obwohl den materiellen Werten in der ukrainischen Gesellschaft immer noch die größte Rolle zukommt, sind 10-15 Prozent der Bevölkerung Träger anderer postmaterieller Werte. Sie waren die treibende Kraft der Revolution. Mit dem ehrenamtlichen Engagement konnte viel erreicht werden, weil die Menschen horizontale Netzwerke gebildet haben.
Revolution und Krieg mit Russland haben den Prozess der Nationenbildung beschleunigt. Nach der Krim-Annexion und dem Kontrollverlust über Teile des Gebiets Donezk sank der Anteil von Russen und russischsprachigen Ukrainern auf den unter Kontrolle der Ukraine befindlichen Gebieten. Die Anzahl der ukrainischsprachigen Bevölkerung stieg dagegen. Die Ukraine erlebt gerade eine gesellschaftliche Konsolidierung und hat eine Chance, ein vollwertiger nationaler Staat zu werden.
Die oben aufgeführten Tatsachen müssten von Stärke der Zivilgesellschaft zeugen. Jedoch mündete die schnelle Einsatzbereitschaft in Krisenzeiten nicht in Umwandlung des Maidans in eine breite gesellschaftliche Bewegung, die das Schicksal des Landes in die Hand nehmen kann. Der Maidan hat in Konfrontation mit Janukowitsch gesiegt, verliert aber im Kampf mit anderen Politikern. Aktivisten, die ins Parlament eingezogen sind, sind nun in fünf unterschiedlichen Fraktionen. Erfahrene Funktionäre hindern sie an horizontaler Kooperation und fordern die Einhaltung der Fraktionsregeln.
Die Tatsache, dass Proteste schnell organisiert werden können, aber breite gesellschaftliche Veränderungen nicht herbeigeführt werden können, zeugt von Kinderkrankheiten der ukrainischen Zivilgesellschaft. Einerseits gibt die positive gesellschaftliche Dynamik zu hoffen, dass diese spontane Gesellschaft sich besser organisiert. Andererseits aber kann der unbefriedigte Wunsch nach Veränderungen zu einer neuen Revolution führen. Davon zeugt die große Anzahl der Proteste, die schon nach dem Sieg des Maidans stattgefunden haben. So war die Anzahl der Proteste im Zeitraum zwischen August und Oktober 2014 zwei bis dreimal so hoch wie vor dem Maidan.
Was haben wir im Endeffekt?
In Anlehnung an eine Analogie aus der Medizin ist unser Staat unheilbar krank, während unsere Gesellschaft gesund ist. Revolution musste die Auflösung der Institutionen und Strukturen beschleunigen, die wir von der Sowjetunion geerbt haben. Dieser Prozess wird aber von der parasitären politischen Klasse aufgehalten, die wieder an der Macht ist. Für sie ging die Revolution am Wahltag zu Ende und das ist wahrscheinlich ihr größtes Problem.
Gesellschaftliche Erwartungen, Unzufriedenheit und Proteststimmungen steigen. Daher sind grundlegende Reformen die einzige Chance für die neuen Machthaber, die Situation unter Kontrolle zu halten. Allerdings schließen sich Reformen und Machterhalt in der jetzigen Konstellation gegenseitig aus. Einleitung der Reformen führt zum Machtverlust. Ihre Verschleppung führt zum Verlust des Staates.
Die Politiker verfolgen eine typische Strategie der Parasiten, die einen gesunden Wirt befallen und seinen Blut trinken, solange es möglich ist. Für die politischen Parasiten spielt der Wirt eine kleinere Rolle als dessen Blut: Der Verlust der Macht ist für sie das größere Übel als der Verlust des Staates, der diese Macht sichert. Solange Macht einen größeren Wert als der Staat darstellt und die ukrainische Elite einen Nährboden für Projekte anderer Staaten bildet, muss die Gesellschaft sich selbst reinigen und Ihre Wunden heilen, um geheilt zu werden und in einem gesunden Körper zu wachsen.
01. Januar 2015 // Jurij Mazijewskyj
Quelle: Zaxid.net