Welchen Preis zahlen die Ukraine und Russland für eine Aussöhnung



In jedem Gespräch über die Zukunft beider Länder ertönen unbedingt die Stimmen der Optimisten. Eben jener Leute, die daran glauben, dass innerhalb eines Jahrzehnts eine andere Zeit die Seite umblättert und Kiew und Moskau erneut zur gehabten Form in ihren Beziehungen zurückkehren. Derjenigen, die bis zum Februar 2014 existierte. Dass die Phrase über die „Brudervölker“ nicht wie ein Schimpfwort klingt, dass Krümmungen zurechtgebogen und Verzerrungen ausgelöscht werden. Und in dem Moment wird klar, wie illusorisch derartige Stimmungen sind. Denn dafür, dass es eintritt, bedarf es solcher Erschütterungen, im Vergleich zu denen die heutigen Vorgänge wie Krimskrams wirken.

Leichen im Keller

Aller Streit ist nicht für immer, alle Schlägereien verschwinden in der Vergangenheit. Engländer und Franzosen, Franzosen und Deutsche, Polen und Ukrainer – die Geschichte der Beziehungen dieser Völker ist voll von gegenseitigen Blutbädern.

Darunter komplett kürzliche, an die sich die Generation der Großmütter und Großväter noch erinnert. Doch in jedem dieser Fälle fand eine Aussöhnung keineswegs dank einer nationalen Amnesie statt.

Warschau und Kiew wurden in vielem dank Jerzy Giedroyc zu Verbündeten, der in der Emigration die Zeitschrift „Kultura“ herausgab. Eben er, der die Konzeption der gegenseitigen Beziehungen Polens mit den östlichen Nachbarn erfand, wurde zu dem Menschen, der es vermochte die imperialen Phantomschmerzen im Bewusstsein seines Landes zu überwinden.

Wenn man von dieser Erfahrung ausgeht, dann kann man unterstellen, dass die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew ebenfalls völlig wiederaufleben werden können.

Doch das ist nur in dem Fall möglich, wenn Russland auf seine imperiale Selbstwahrnehmung verzichtet. Wenn die Ukraine als gleichwertiger Staat wahrgenommen wird, der eigenständig fähig ist, seinen zukünftigen Orbit auszuwählen.

Ist derartiges innerhalb der nächsten Jahre in Russland möglich? Eine rhetorische Frage.

Zumal eine Umformung der internen Tagesordnung in Russland für sich nichts löst. Solange auf beiden Seiten der Grenze unterschiedliche Antworten auf die Frage „Wem gehört die Krim?“ gegeben werden, ist kein Dialog möglich. Und das Problem liegt hier nicht bei den Personen: Griechenland kann so oft wie es will den Populisten Alexis Tsipras wählen. Eben jenen, der gnadenlos die Nerven Berlins und Brüssels strapaziert. Doch Alexis Tsipras entscheidet sich nicht allein öffentlich zu erklären, dass Nordzypern türkisches Territorium ist. Und dass die Türkische Republik Nordzypern im Schwebezustand bereits mehr als 40 Jahre existiert, ändert daran nichts.

Die Rücksetzung des „Krimfrühlings“ und von „Neurussland“, das Loswerden der imperialen Komplexe und der staatlichen Arroganz – das ist lediglich das Minimum, nachdem die Rede von einer Normalisierung der Beziehungen gehen kann. Wie viele Bürger Russlands sind heute bereit dem zuzustimmen?

Kriege –virtuelle und reale

Möglich ist, dass all diese Gespräche von der „Rücksetzung“ der gegenseitigen Beziehungen nur deswegen ertönen, weil für Russland selbst die Geschichte des Krieges zwischen den Ländern nur in virtueller Form stattfand.

Der Durchschnittsrusse zieht es vor zu meinen, dass sein Land keine Seite im Konflikt ist. Und das Schicksal derjenigen seiner Mitbürger, die von der Kommandoführung in den Donbass in den Kampf mit der ukrainischen Armee geschickt wurden, ist lediglich ihren Familien bekannt. Die es vorziehen zu schweigen.

Doch für die Ukraine ist der ganze derzeitige Krieg mehr als real.

Er ist in der Wahrnehmung jeder Generation vorhanden – an niemandem ging er vorbei. Sechs Mobilisierungswellen schufen eine ganze Kaste an Veteranen der Antiterroroperation (ATO) und heute vertrauen die Ukraine den Streitkräften mehr, als allen anderen Staatsorganen zusammengenommen.

Fast jeder hat entweder Verwandte oder Freunde, die an der Front waren oder an der Freiwilligenbewegung teilnahmen. Eben diese Leute werden in der nächsten Generation die Interessen der Wählerschaft bestimmen. Mehr noch werden gerade sie die gesellschaftliche Tagesordnung in der Ukraine der nächsten Jahre bestimmen.

Obendrein gebar der derzeitige Krieg noch eine weitere nicht rücksetzbare Tektonik. Deren Name – erzwungene Umsiedler.

Krim und Donbass haben das Land an die Spitze eines traurigen Ratings geführt – von nun an führt die Ukraine in der Region bei der Zahl der Binnenvertriebenen, deren Zahl anderthalb Millionen Menschen übersteigt. Ein großer Teil von ihnen beabsichtigt bereits nicht mehr in die Heimatorte zurückzukehren. Wenn jemand in Russland bereit ist, diesen Leuten zu erklären, dass man das Zickzack ihrer Schicksale rückgängig machen kann und sie wie gehabt leben werden, dann soll er es nur versuchen.

One way ticket

Die ungebremsten Optimisten kann man verstehen, so ist eben der Mensch gebaut, dass er bis zum letzten nicht an das nicht wieder gutzumachende glaubt. Immer gibt es die Hoffnung, dass man etwas kleben, sich entschuldigen oder eine Strafe zahlen kann. Doch der Hund liegt da begraben, dass es nicht immer geht.

Blut heiligt alle Konfrontationen. Nach ihr bleiben Fotografien mit Trauerbändern in den Schrankwänden, auf den Balkonen Angeln, in der Garage rostende Ersatzteile. Der Tod rückt die Gründe in den Hintergrund, sich selbst dabei in den Vordergrund führend. Der Nachruf ist nicht ob seines Inhalts wichtig, sondern aufgrund der Tatsache seines Auftauchens. Bereits heute wachsen in der Ukraine Kinder auf, die den Krieg zeichnen.

Übrigens ist es wegen eben dieses Grundes leichter die Krim in die Ukraine zu integrieren, als den Donbass. Denn die Annexion der Halbinsel verlief fast ohne Blutvergießen. Unter Berücksichtigung des oben gesagten, ist das mehr als ein ernsthafter Faktor.

Doch um einiges wichtiger ist die Tatsache, dass die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahre sowohl für Russland als auch für die Ukraine Teil nationaler Mythen wurden.

Einerseits der „Krimfrühling“ als Apotheose der imperialen Ambitionen und Bestätigung des Rechts hoheitliche Fehler zu begehen.

Andererseits der Maidan als Archetyp des Bürgeraufstands und die ATO als Unabhängigkeitskrieg selbst.

Diese Historien sind gleichpoligen Magneten vergleichbar – sie können nicht miteinander existieren, dafür sind sie fähig einander abzustoßen. Und annähern können sie sich nur in dem Fall, wenn eine dieser beiden Geschichten zurückgenommen wird.

Diejenigen, die von einer Aussöhnung sprechen, müssen sich darauf festlegen, welche der beiden.

16. Januar 2016 // Pawel Kasarin

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 944

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