Werden in Kiew noch 107 alte Gebäude legal abgerissen?


Am Tag vor Neujahr, in der Nacht vom 29. zum 30. Dezember, wurde in der Sagaidatschnyj 1b ein 100 jähriges Haus abgetragen. Die Historiker sind empört: Die Hauptstadt, sagen sie, verlor eine wahrhaftig architektonische Perle. Doch die Initiatoren des Abrisses – Bauherren, die hier die Errichtung eines Business-Zentrums planen – zur Verantwortung zu ziehen, ist unmöglich: 2009 verlor das Gebäude den Status eines Architekturdenkmals und mit ihm eine bestimmte Immunität.

Bei der Verwaltung zum Schutz des Kiewer Kulturerbes wurde Lb.ua dazu gesagt: In den letzten fünf Jahren lehnte das Kulturministerium es bei 107 Objekten des Kulturerbes ab, den Denkmalstatus zu gewähren. Einen Teil von ihnen hat man bereits abgerissen. Es stellte sich heraus, dass es eine Vielzahl von Methoden gibt, das Gesetz zu umgehen und für jedes beliebige Architekturdenkmal das Recht zum Abriss zu erhalten.

Ein Monopol auf Denkmäler

Die erste, einfachste Methode – Geduldig warten, bis das Gebäude in einen baufälligen Zustand gerät und dann es selbst zerstören. Solche Beispiele gibt es in Kiew zu Hunderten, wenn nicht gar zu Tausenden. In den Wohnhäusern Nr. 17 und 19 auf der Turgeniewskaja klaffen Löcher statt Fenstern. Eingeschlagenes Glas, eingestürzte Zwischendecken und Dächer, baufällige Balkons. In dem gleichen Zustand ist das Haus des Erfinders des Hubschraubers Igor Sikorski auf der Jaroslawyi Wal 15b. Von dem 1904 errichteten Gebäude blieb nur eine Hülle.

Zweitens – Wenn die Zeit des Bauherrn begrenzt ist, hilft eine Frage bei der Lösung der Angelegenheit. „Das Haus kann aus der Liste der Denkmäler entfernt werden, wenn bewiesen wird, dass es seine Authentizität verloren hat“, erklärt der Vorsitzende des Kulturausschusses des Kiewer Stadtrates Alexander Briginets, „Dafür reichte es oft, den Experten genügend materiell zu motivieren.“ Dann „bemerkt“ dieser, dass das Gebäude umgebaut oder aufgestockt wurde und damit jetzt keinen architektonischen Wert mehr besitzt.
Ausgerechnet dies geschah mit dem Haus auf der Sagaidatschnyi 1b. Wie LB.ua der Leiter der Denkmalschutzabteilung der HV für den Schutz des kulturellen Erbes Sergei Korbin berichtete, stand der Bau viele Jahre auf der Warteliste für die Aufnahme in das Register (wie „ein kürzlich entdecktes Denkmal“), aber als sich 2009 fremde Hände danach ausstreckten, hielt das Gebäude der „Prüfung“ nicht stand. Die Experten versicherten, dass es keinen Wert mehr darstellt.

Folglich brach das Bauunternehmen „Sitko-Podol Kiew“, das von den Massenmedien mit dem jetzigen Leiter des SBU Waleri Choroshkowski in Verbindung gebracht wird, mit der Zerstörung des alten Gutshauses keinerlei Regeln. Sogar mehr als das, der Meinung einiger Architekten nach vollbrachte es sogar eine gute Tat.

„Dieses Haus ist absolut gewöhnlich und hat bereits seit langem keinen Wert mehr. Es wurde einige Male umgebaut und hat einen großen Teil der originalen Fragmente bereits in den 70er verloren“, versichert die Architektin Larissa Skorik. Und sie fügt hinzu: “Dort, wo es stand, rutscht der Untergrund. Ein Befestigen ist nicht möglich, da der Abstand zwischen Gebäude und Hang zu gering ist.“. Unter Verweis auf ein maßgebliches Gutachten des Instituts für Bau beteuert Skorik, dass es keine andere Art gab, den Hang zu stabilisieren. „Niemand wird einfach nur 9 Meter hohe Mauern bauen, nicht für dieses Geld“, ist Skorik überzeugt, „aber ein neues Haus zu bauen, welches dabei die Funktion einer Stützwand erfüllt, das hat Sinn.“

Außerdem sah der Kiewer Haupt-Architekt Sergei Zelowalnik in den 60er Jahren auf der Sagaidatschnyi noch etwa 20 solcher Gebäude. „Sie waren baufällig und hatten nicht die großstädtischen Ausmaße“, versichert der Architekt, „als man die Metro baute, hat man sie abgerissen und der Postplatz erschien in neuen Farben.“ Und er vermutet: Das Haus des Architekten Kasanski hatte man einfach deswegen nicht abgerissen, weil die Schaufel des Baggers nicht reichte oder weil es den Abhang gegen die Gefahr des Abrutschens schützte.

Es gibt noch einen 3. Weg, die gewünschte Immobilie zu bekommen (oder das Land unter dieser). „Im Gesetz ist vorgesehen: Das Gebäude wird aus der Liste der Privatisierungen herausgenommen, wenn es in Folge von Naturgewalten oder anderer unvorhergesehener Ereignisse wie z.B. Erdbeben, Brand oder Beschuss zerstört worden ist“, erklärt der Leiter der Abteilung für Denkmalschutz Sergei Korbin. Es ist offensichtlich, dass ein Erdbeben sich nicht bestellen lässt, mit einem Brand dagegen ist es einfacher. So ergab es sich z.B. mit dem Haus des Architekten Fjodor Oltarshewski, errichtet Ende des 19. Jahrhunderts, in der Luteranskaja 32. Es brannte übrigens dreimal: Im April 2006, im Februar 2007 und im Mai 2008.

Außerdem vergibt man den Denkmalstatus manchmal auch Gebäuden, die diesen nicht verdienen, so der Abgeordnete Aleksander Briginez, um „seinen Verkaufswert für zukünftige Käufer zu steigern“. Einem „Nichts“ den Denkmalstatus zu entziehen ist einfacher als einem echten Schatz. Und der Käufer glaubt zudem, dass man das Haus extra für ihn aus dem Register „beschafft“.

Der Meinung des Abgeordneten nach würde eine Popularisierung der städtischen Sehenswürdigkeiten helfen, die Situation zu verbessern, zum Beispiel mit der Schaffung einer virtuellen Karte Kiews mit Informationen über alle ungewöhnlichen Bauten.

„Verlorene“ Häuser

Um zu verstehen, welche Gebäude nach dem auf der Sagaidatschnyi mit dem Abriss an der Reihe sind, versuchte Lb.ua eine Liste der Gebäude zu organisieren, die aus dem staatlichen Register des nationalen Kulturbesitzes in den letzten Jahren ausgeschlossen worden sind. Es stellte sich als ein Buch mit sieben Siegeln heraus. Weder in der Hauptverwaltung zum Schutz des kulturellen Erbes noch in der Architekturhauptverwaltung führ man eine solche Liste. LB.ua hofft nun noch auf eine Antwort einer entsprechenden Anfrage an das Kulturministerium.

Es hinterbleibt der Eindruck, dass die Beamten ein Gebäude, ist es erst einmal aus dem Register entfernt, sofort vergessen und sich nicht weiter um dessen Schicksal und seinen Anspruch auf die Bezeichnung als Denkmal kümmern. In allen Einrichtungen, die für den Schutz des Kulturerbes verantwortlich sind, ist man völlig ratlos. „Wenn solch eine Liste existieren würde, dann wäre es sinnvoll, diese sorgfältig zu verstecken.“, bemerkt der Leiter der Abteilung der HV für Denkmalschutz und den Schutz des Kulturerbes Sergei Korbin ironisch. Das ist durchaus verständlich, wäre so eine Liste doch der leibhaftige Beweis der korrupten Methoden, in Folge derer viele hauptstädtische Sehenswürdigkeiten zerstört werden.

In Privatgesprächen bestreiten die Beamten natürlich nicht die Fakten „umstrittener“ Ausschlüsse von Villen und Gütern aus den Registern, aber ein schriftliches Niederlegen dessen wird verweigert.

„Fast alle bemerkenswerten Gebäude in Kiew sind entweder verunstaltet – ausgebaut, aufgestockt, umgebaut – oder abgerissen“, verallgemeinert die Architektin Larissa Skorik. „Nehmen Sie z.B. die Bolshaja Shitomirskaja – Sehen Sie sich jedes Haus an, an dem das Schild ‘Architekturdenkmal, Gesetzlich geschützt’ hängt, sie alle sind entstellt durch sogenannte Totalsanierungen und Wohnungen, an die man Balkone und ‘Schwalbennester’ angebaut hat.“ Die Architektin ist sich sicher: Schuld an der Verschandelung der Stadt ist Ruslan Kucharenko (ehemaliger Leiter der Kiewer Hauptverwaltung für den Schutz des Kulturerbes, wartet derzeit im Lukjanowsker Untersuchungsgefängnis auf seine Verhandlung). „Alles verdanken wir unserer Verwaltung zum Schutz des Kulturerbes, die 20 Jahre lang ununterbrochen von Ruslan Kucharenko geleitet wurde“, beschuldigt ihn Skorik, „er ließ zeitweise Denkmäler aus dem Register verschwinden, aber zurück dahin gelangten sie nie wieder“.

In der Verwaltung schützt man Kucharenko nicht besonders. „Ruslan Iwanowitsch war mein Vorgesetzter, daher war er mir keine Rechenschaft schuldig, über seine Angelegenheiten weiß ich nichts“, erklärt Sergei Korbin achselzuckend.

„Ohne Diktaphon“ hört man auch andere Meinungen: Man sagt, Kucharenko war ein zu kühner Verfechter der Denkmäler, dafür büßte er nun. Man sagt, gerade deswegen kam es in der ihm rechenschaftspflichtigen Verwaltung zu einer außerplanmäßigen Revision, wobei Fehlbeträge in Höhe von 640.000 Griwna entdeckt wurden. Später erhöhte sich die Summe drastisch auf 2,215 Mio. Griwna.

Im Übrigen veränderte man vor kurzem für Ruslan Kucharenko den in letzter Zeit so „populären“ SGB-Paragraphen 364, Abs.2: „Missbrauch des Amtes oder der Dienstvorschriften, was zu schwerwiegenden Konsequenzen führte“, wofür 5-8 Jahre Haft drohen.

„Verurteilte“?

Der Abriss des Hauses auf der Sagaidatschnyi erschreckte nicht nur die Kiewkenner und Journalisten, auch normale Kiewer waren mit Unruhe erfüllt ob der Verteidigung alter Stadtvillen. Als erstes erinnerte man sich an das Schloss des Barons, auf dem Jaroslawowyi Wal 1 (wo schon lange das Schild „Zu verkaufen“ hängt). In der Stadtverwaltung überzeugt man sich wirklich: Das Haus ist ein anerkanntes Architekturdenkmal, das nichts ertragen musste, den Eigentümern erlaubte man nur, die Villa zu renovieren, aber weder etwas umzubauen noch abzureißen.
Das gleiche betrifft auch das „Schokoladenhäuschen“ (Shelkowitschnaja ul.) und das „Schloss Richards“ (Andrejewski Spusk). Diese Gebäude sind zur Zeit außer Gefahr. Dabei ist in Anbetracht ihrer „Bekanntheit“ der Wert der alten Bauten sogar höher als der 30stöckiger Hochhäuser, die an deren Stelle errichtet würden. Eine andere Sache sind die wenig bekannten Denkmäler, deren Zahl sich nach Informationen der HV zum Schutz des Kulturerbes auf fast 5000 beläuft. Wie bereits gesagt, existiert eine Liste der Objekte, die aus dem Register entfernt worden sind, nicht, dafür hat sich herausgestellt, dass es eine Liste der Objekte gibt, denen es nicht gelang, in das Register aufgenommen zu werden – die Bauherren „erwischten“ sie auf dem Weg dorthin.

In einem Auszug aus der schriftlichen Antwort Sergei Novgorodskis (Leiter der Verwaltung für den Schutz des Kulturerbes) an Alexander Briginez heißt es: „… in der Zeit von 2005 bis 2010 lehnte das Ministerium für Kultur und Tourismus der Ukraine die Aufnahme von 107 Objekten in das Register des Kulturerbes ab.“. Darunter befindet sich das kürzlich abgerissene Haus auf der Sagaidatschnyi, die Kiewer Radrennbahn (B. Chmelnizki 58-60) – die im März 2009 abgerissen wurde, damit sie nicht den Bau von Wohnhochhäusern stört – wie auch das Haus, in dem Alexej Shol lebte (Krasnoarmeiskaja 35, abgerissen im Februar 2009, an seiner Stelle will man ein Hotel für die EM 2012 errichten).

Ebenso in der Liste aufgeführt ist das Gebäude des Mädchengymnasiums auf der Resnizkaja 2/32, wo das „Business-Zentrum der Klasse A – Maria“ errichtet werden soll.

Die alte Fabrik „Keramplit“ (Meshigorskaja 85) ist ebenfalls nicht unter die Denkmäler gekommen. Augenscheinlich deswegen, weil das Land unter ihr teilweise einem Bauunternehmer gehört, der ein Büro- und Handelszentrum bauen will.

„Heiße Punkte“

Außer den oben genannten Gebäuden nennen Kiew-Kenner noch andere „heiße Punkte“. So ist zum Beispiel sich der Historiker Michail Kalnizki sicher: Bald kann die Stadt das Gebäude in der Gogolewskaja 8 verlieren, in dem Boris Grintschenko lebte.

In das Register ist es ebenfalls nicht gekommen, es entspricht nicht den Kriterien. „Das Haus, das mit der Biographie Boris‘ Grintschenkos verbunden ist, besitzt offensichtlich einen Wert. Und seine Authentizität war gestern noch unbestritten. Was ist geschehen? Kann ein Grund der gegenwärtige klägliche technische Zustand des Gebäudes sein? Aber wofür gibt es dann eine Renovierung, um Denkmäler in Ordnung zu bringen?“, empört sich der Historiker.

Die Aktivisten der der Bürgerinitiative ??„Wir erhalten das alte Kiew“ ??verweisen auf das Gutshaus Murashko (Malaja Shitomirskaja 12a). Die Bewohner des Hauses bemühen sich bereits seit 1996 auszuziehen, befasst damit ist die HV der Wohnungsgesellschaft KGGA. Dies geschieht angeblich zum Zwecke der Sanierung der Häuser 12a, 12b, 14a und b. Diese Gebäude befinden sich in der von der UNESCO geschützten Zone der Anlagen der Sophienkathedrale, was eine Sanierung ausschließt, lediglich wissenschaftliche Restaurationen sind möglich.

Es wurde eine schlimme Tendenz aufgedeckt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in einigen Jahren feststellen werden: Alle 107 Objekte, die nicht in das Register des Kulturministeriums aufgenommen worden sind, haben sich in Geschäft- und Handelszentren oder Hotels verwandelt.

13. Januar 2011 // Marija Rydwan

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzer:   Andre Müller  — Wörter: 1860

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