Wie die Kosaken Angela Merkel zum Sündenbock machten
Einst hatte ein bekannter sowjetischer Führer die Kybernetik als käufliches Weib des Imperialismus bezeichnet. Heute haben ukrainische Leser der politischen Belletristik vollkommen Recht, die Geschichtswissenschaft als ein nicht weniger käufliches Weib des nationalen politischen „Establishment“ zu bezeichnen.
Denn dank dieser wunderlichen Wissenschaft kann man seine größten Feinde auf dem Kontinent feststellen und sie mit seinem kollektiven Charisma moralisch zerquetschen.
Stellen Sie sich dieses Bild voller Pathos vor: die Ukrainer kommen! Zum drohenden „Teutonischen Marsch“ des „gebürtigen Ukrainers“ Sergej Prokofjew.
Die Erde bebt, das deutsche Kanzleramt wird in Panik geräumt, antiukrainische Planungsunterlagen und Archive werden vernichtet.
Wir haben einen strategischen Vorteil bei historischen Manipulationen: nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Europäer aufgehört, die Geschichte für die Aufhetzung der Völker gegeneinander auszunutzen. Sie hatten es einfach satt, ein Gewehr regelmäßig zu nehmen und in den Krieg zu gehen.
Wohin ist denn dieser alte abenteuerliche Geist entschwunden, der Nachbarn zu hundertjährigen Kriegen drängte. Die sich dann später bis zu den Weltkriegen globalisiert haben. Ein totaler Geschichts- und Politikverdruss (als Vermerk für Ukrainer) führte dazu, dass die Europäer ihre Geschichte „vom Anfang an“ neu begonnen haben. Von einem leeren Blatt.
Heute treffen sich Veteranen des französischen Untergrundkampfes, der britischen Königsmarine und der Wehrmacht in aller Ruhe – können Sie sich das vorstellen?
Bei uns ist es anders. Wir sind noch immer im Krieg. Niemals kommen Veteranen der Roten Armee und der Ukrainischen Aufstandsarmee an einem Tisch zusammen. Unsere Gefühle werden von Politikern und Historikern gesteuert. Mit Beispielen aus der Geschichte seit den Jahren von Otto dem Großen können sie beweisen, dass es Paris oder Berlin sind, welche die Ukraine zum europäischen Verbund nicht zulassen.
Was soll die Regierung – enttäuscht durch diese Ungerechtigkeit – machen? Gekränkt ihre Spielzeuge sammeln und zu einem anderen Sandkasten übergehen? Dort, wo man die Zollunion sowie die Eurasisches Union formt?
Man bekommt den Eindruck, dass Polittechnologen genau diesen Übergang vorbereiten, und dadurch lässt sich gerade auch die steigende Anzahl von Artikeln in unserem Informationsraum erklären, wo erklärt wird, dass die Ukraine in Europa nicht aufgenommen wird und dass es immer so war.
Sicherlich dürfen wir die europäische Politik nicht idealisieren, genauso wie die Neigung von Politikern zu Intrigen und Verschwörungen nicht von der Hand weisen, den Einfluss von „Gasprom“ nicht minimieren, aber zuerst muss doch die Grundursache geklärt werden.
Man muss sich den Spiegel vorhalten. Entspricht das, was wir da sehen, wirklich in vollem Maße unseren Vorstellungen von einem europäischen Land? Wer ist schuld daran – Deutsche, Russen oder die Ukrainer selbst?
Wer ist hier für wen Arzt?
Und hier startet eben dieses politologische Spiel mit den Worten – es wird für die „historische“ Perspektive eines EU-Beitritts aufgrund der Römischen Verträge gekämpft, die allen europäischen Ländern ohne jegliche Ausnahme ein Beitrittsrecht gewähren.
Aber es setzt voraus, dass viele andere Kriterien erfüllt worden sind. Hat sich jemand in der Ukraine irgendwann mal um diese Kriterien bemüht?
Man braucht nicht an jeder Ecke sein eigenes europäisch Sein zu erklären. Ganz im Gegenteil, das ständige Wiederholen dieser Beschwörung zeugt davon, dass wir uns selbst davon überzeugen wollen.
Erklärungen können wir uns ersparen. Wenn man sich eine Ukraine vorstellen kann, wo man sich um ein Geschäftsklima nicht nur für wenige interne Clans kümmert, das Gerichtssystem relativ ehrlich ist und die Wirtschaft durch die Gesetzgebung mehr oder weniger gefördert wird, dann entwischt der Punkt der Integration der Ukraine den „bösen“ Politikern.
Pragmatiker aus der Wirtschaft gehen dorthin, wo Möglichkeiten für eine Entwicklung vorhanden sind. Fakten aus der Geschichte oder geographische Entfernungen sind ihnen völlig egal. Ihnen ist es gleich, ob es Singapur, Malaysia, Hongkong, Vietnam, China, Polen, Moldau, Rumänien, Brasilien, Taiwan oder Südkorea ist.
Weder Nicola Sarkozy, noch Angela Merkel, noch Wladimir Putin können Kapital- und Investitionsströme in die für uns nützliche Richtung verhindern, wenn es nicht um Ausnahmefälle eines politischen Embargos geht, aber ich bin überzeugt davon, dass die Ukraine diesem Schicksal entgeht.
Sie (die Unternehmer) werden sogar die Biographie Rurikiden (Fürstengeschlecht zur Zeit der Kiewer Rus) und den geschichtlichen Kontext des Sieges von Danylo Halyzkyj/Daniel von Galizien über den deutschen Ritterorden bei Drohiczyn nicht studieren.
Aber wenn ihr auch weiterhin Paraden spielen wollt, dann kann keiner es verbieten, an Feiertagen Ausstellungsexemplare der neusten Oplot-Panzer über den Chreschtschatyk zu treiben und heilig daran zu glauben, dass „die Rüstung fest ist und unsere Panzer schnell sind“.
Aber die Staatsmacht wird nicht durch die Dichte der frontalen Rüstung alleine gemessen. Nicht weniger wichtig für ein modernes Land sind Kennwerte wie Arbeitsplätze, Finanzen, Technologien, Lebensqualität, Fachniveau der Bürger. Die Entsendung von ausländischen Emissären in die Ukraine zur Agitation des Anbaus von Raps für Biodiesel ist nicht das Schlimme.
Wenn es Unsinn ist, schickt ein kluger Agrarunternehmer sie zurück, um auserlesenen Weizen anzubauen, und seine Regierung schafft die Quoten ab, gewährt ihm die Bedingungen dafür, dass der Ertrag in Lagern und Getreidesilos nicht verfault, sondern auf dem Binnenmarkt sowie im Ausland verkauft werden kann.
Das Schlimme ist, dass auf Feldern, 30 km entfernt von Kiew, gar nichts angebaut wird. Und wenn man sich die Mehrheit (bei wenigen Ausnahmen) der Viehzuchtbetriebe einmal ansieht. In welchem Zustand sind sie? Dabei wird Fleisch aus dem fernen Argentinien ins Land eingefahren. Es ist gar kein Fleisch, sondern eine fleischartige Substanz für Dauerlagerung.
Wer ist schuld daran?
Viele Jahre hat man unser Volk überzeugt, dass englische und japanische Spione daran schuld sind. Lawrentij Pavlowitsch Berija hat sich letztendlich auch als englischer Spion erwiesen, oder?
Und der Bürger Raskolnikow – Protagonist von Fjodor Dostojewski – kam zum Schluss, dass Bankbesitzer an allem schuld sind. Kann es sein, dass es hier um eine Hindeutung auf eine Finanzlobby geht, die Pläne für alle Krisen und Rezessionen entwickelt? So hat er die Alte mit der Axt erschlagen.
Jetzt deutet man auf die Deutschen hin – von Otto dem Großen bis zu Angela Merkel.
Verschwörungstheorien sind außerordentlich attraktiv und können für eine Zeit dem Volk erklären, warum die Verbesserung des Lebens schon heute nicht hereinbricht und die Strukturreformen nach der Einschätzung des IWF nicht umgesetzt werden.
Aber Übertreibungen vermeiden ist hier am wichtigsten. Und mit der Geschichte soll man – meines Erachtens – vorsichtiger umgehen. Behaupten, dass eine Einheit von Söldnern aus Brandenburg das Schicksal Europas bestimmte und die Ukraine in den Moskauer Staat drängte heißt – mild ausgedrückt – eine mutige Schlussfolgerung ziehen. Sogar wenn man den „hypothetischen“ Charakter der Frage: „was wäre, wenn..“ beiseite legt.
Dieser Handgriff ist verboten, denn man kann nie wissen, da es das nie gegeben hat.
Die Geschichte bewertet ein Ereignis nach den Fakten – das, was wirklich geschehen ist, und nicht das, was zu den bei bekannten Persönlichkeiten immer zahlreichen kreativen Ideen gehörte.
Der gescheiterte Aufstand von Chmelnyzkyj und seine Union mit dem Moskauer Zaren verursachten eine ganze Reihe von geopolitischen Kataklysmen – das Vordringen von Moskau in die Polnisch-Litauische Föderation.
Synchron dazu haben die Schweden den Polen einen Schlag verpasst – Militärhandlungen von Moskau auf dem Territorium des Großen Fürstentums haben sie als Bedrohung für ihre Sicherheit empfunden. Und die erwähnten Brandenburger und Siebenbürger sind Warschau in den Rücken gefallen.
Demoralisiert durch ausländische Überfälle, unterzeichnet die vor der Zerschlagung stehende Rzeczpospolita 1667 das Friedensabkommen in Andrusiv, „wonach Kiew und die Ukraine am linken Dnipro-Ufer den Russen theoretisch für 20 Jahre zugewiesen wurde, aber praktisch – für immer“ (englischer Historiker Norman Davis, „Geschichte Europas“).
Der Aufstand von Bohdan Chmelnyzkyj bracht der Ukraine leider keine Unabhängigkeit. Kiew verließ die Einflusssphäre der Polnisch-Litauischen Republik und gelang in eine andere Abhängigkeit – vom Moskauer Staat. Die Bewertung dieser „Rochade“ bleibt dem Leser überlassen.
Das Polnisch-Litauische Land war eigentlich damals eine relativ progressive Formation von zwei Staaten, was auch westeuropäische Quellen bezeugen. Das war im Grunde genommen eine Republik mit einem König an der Spitze. Der König wurde von der Szlachta (dem Adelsrat) gewählt und auch in seiner Vollmacht kontrolliert, damit die unbegrenzte Macht dem Monarchen den Kopf nicht benebelte.
So verantwortete der Sejm die Steuerfragen (und hatte damit Finanzen unter seiner Kontrolle) sowie Militärfragen (damals bedeutete das Bestimmung der Außenpolitik).
Der religiöse Kampf zwischen Orthodoxen und Katholiken war das größte Übel dieses eklektischen, aber für seine Zeit progressiven Landes.
Und es gab damals – wie auch heute – eine Menge von „Glücksrittern“, die für Geld kämpften. Unter anderem auch in der Armee von Bohdan Chmelnyzkyj. Sie waren aber kaum eine Triebkraft und Hauptursache für Siege und Niederlagen. Ich würde die Ursache innerhalb der Ukraine suchen.
Aber kehren wir in die Gegenwart zurück. Sogar wenn die Ukraine in den nächsten zehn Jahren kein EU-Mitglied wird (bitte keine theatralische Hysterie!), so kann sie die Gelegenheit bekommen, einem riesigen (500 Mio. zahlungsfähige EU-Bürger) Markt anzugehören.
Und dazu eine Perspektive, ein reiches, hochentwickeltes Land mit einer hohen Lebensqualität und Sicherheit für die einfachen Bürger zu werden. Wie Dutzende von Ländern, die keine EU-Mitglieder sind.
Geben Sie doch zu, dass man sich sogar in Paris und Berlin, wo die europäische Perspektive unseres Landes von Politikern kritisch wahrgenommen wird, wo Gas und Öl in der Tat ein mächtiger Faktor der Außenpolitik sind, völlig anders zu einem Land im Osten Europas mit einer starken Wirtschaft, einer aktiven Bevölkerung und einer professionellen Staatsführung, die diesen Riesen adäquat regiert (ich spreche hier von der Ukraine, in der Zukunft) verhalten würde!
In den letzten Jahren sind es die Ukrainer irgendwie schon gewohnt, dass man uns in Europa nicht mag und nicht erwartet. Dass keiner ukrainische Waren braucht. Es ist schwierig, das Letzte zu bestreiten.
Man muss etwas herstellen, um etwas in Europa zu verkaufen. In diesem Fall ist das Beispiel unseres historischen Partners sehr aufschlussreich. Polen gehört zu den wenigen Ländern mit einem Wirtschaftszuwachs während der Krise. Aber noch vor einigen Jahrzehnten hatten Polen praktisch keine Volkswirtschaft und „schleppten“ aus der Ukraine Farbfernseher „Elektron“, Bügeleisen, Lötkolben, Kühlschränke und andere Errungenschaften der sozialistischen Industrie heraus.
Hätte man den Polen ständig, täglich „Reinigungsklistier“ in Form von Gruselgeschichten über die Weltverschwörung gegen ihr Lang gegeben, so wären sie sicherlich auch ein Risiko eingegangen, „Informationszombies“ zu werden, die faschistische Hakenkreuze und das NATO-Bündnis gleichstellen. Und geben Sie zu, dass es besser ist, sich gar nicht daran zu erinnern, was früher zwischen Deutschen und Polen verlief.
Das Fenster der Möglichkeiten schließt sich, wenn man es nicht benutzt. Die Tür, durch die man nicht durchgeht, mauert man zu. Auf vergessenen Pfaden wächst das Gras. Unbeantwortet bleiben dabei die Hoffnungen unserer Mitbürger darauf, dass die Ukraine irgendwann mal zu einem europäischen Land wird. Nicht nur nach einem so wichtigen Merkmal wie der geografischen Lage, sondern auch nach dem Niveau der Freiheit – sowohl für Meinungen, als auch für das Unternehmertum.
Nach Lebensqualität, Gesundheitsschutz, Sicherheit und Umweltschutz. Nach Lebensdauer und Bildungsniveau. Und noch nach mehreren hundert Kriterien, die jeder sehr braucht.
Aber die Hoffnungen auf ein Leben nach europäischen Kriterien schrumpfen jeden Tag, denn ein neuer „Kampf bei Berestetschko“ steht an. Julija Tymoschenko ist in Haft. Die Menschenrechtsbeauftragte der Werchowna Rada Nina Karpatschowa (sie vertritt übrigens die Partei der Regionen) erklärte, dass der Gesundheitszustand von Julija Tymoschenko sehr schlecht ist, dass die Inhaftierte sich sogar von ihrem Bett nicht erheben kann.
Die ukrainische Regierung reagiert nicht auf diese Zeichen. Die EU spricht Klartext, dass hier kein Kompromiss möglich ist.
Die ukrainischen Kollegen, die sich des Spielraums beraubt haben, werden von Wladimir Putin mit Interesse beobachtet. Er braucht, ehrlich gesagt, gar nichts zu machen. Nur darauf hinzuweisen, dass es nach noch etwas Zögern schwieriger sein wird, sich der Währungsunion und der Euroasiatischen Union anzuschließen.
Den Ukrainern wird, wie schon im 17. Jahrhundert, die europäische Perspektive entzogen. Dabei hat sich die sogenannte „ukrainische Elite“ längst integriert. Diese Menschen erholen sich auf Sardinien, amüsieren sich in Paris, lassen sich in Berlin ärztlich behandeln, halten ihr Geld in Genf, kaufen Wohnungen in Barcelona, gründen Firmen in Wien und schicken ihre Kinder für das Studium nach London.
Aber einfache Ukrainer sollen sich ganz genau überlegen, was sie wollen. Und was sie zu tun haben. Aber das ist schon das nächste Thema. Ich will an der Stelle nur vermerken, dass die Geschichte der europäischen Nationen, die heute als „Lokomotive“ der EU gelten, nicht weniger Enttäuschungen kennt, als es heute bei den Ukrainern der Fall ist.
Und es fällt schwierig, sich vorzustellen, was mit der europäischen Zivilisation geschehen wäre, wenn ihre Psyche es nicht ausgehalten hätte und sie ihr Leben in eine Suche nach Schuldigen sowie in eine Apathie und Depression umgewandelt hätten.
Die Geschichte soll zu großen Taten anregen. Oft steht man auf einem Gefechtsfeld nur ein Schritt von einer völligen Niederlage entfernt, wenn ein Sieg kommt. Die Idee einer starken europäischen Ukraine in unseren Köpfen und unseren Handlungen soll stärker sein als Enttäuschung, Durcheinander und Zynismus, die in unserem kollektiven Bewusstsein herrschen.
22. November 2011 // Dmytro Tusov, Journalist
Quelle: Ukrajinska Prawda
Übersetzer: Mykhailo Iurchenko
Der Text bezieht sich auf den Artikel von Kost Bondarenko.