Wie lange?



Im März 1991 wurde in der UdSSR eine ungewöhnliche soziologische Untersuchung durchgeführt. Auf die Fragen „Für wen halten sie sich, für einen Menschen der europäischen oder der asiatischen Kultur?“ und „Halten sie Russland für ein europäisches oder ein asiatisches Land?“ zählten sich Leute mit höherer Bildung und Besitzer großer häuslicher Bibliotheken bedingungslos zu den Europäern, wobei sie gleichzeitig davon ausgingen, dass Russland ein Land asiatischer Kultur ist. Dabei wurde die asiatische Kultur als Synonym für mangelnde Entwicklung und Zurückgebliebenheit verstanden. Der Anteil der Russen, die sich der europäischen Kultur zugehörig fühlten, machte 28 Prozent aus. Bei den Balten waren es von 62 bis 79 Prozent – je nach Republik. In der Ukraine wurde diese Untersuchung leider nicht durchgeführt.

Es wäre interessant, eben diese Fragen 24 Jahre später einer anderen Generation von Russen zu stellen. Wie würden sie heute antworten? Natürlich sollte man sich daran erinnern, dass 1991 die Furcht vor ehrlichen Antworten in Russland viel geringer war als heute. Über uns selbst wissen wir mehr.

Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben in vielen von uns den Wunsch genährt, Europa zu werden und das Andauern des kriegerischen Konflikts mit Russland wird die europäischen Bestrebungen der Ukrainer unzweifelhaft noch verstärken. Damals in den ersten Jahren, in denen in der UdSSR demokratische Freiheiten gewährt wurden, diskutierte die intellektuelle Elite ernsthaft ein Thema, das von der bekannten Literatin und Wissenschaftlerin Marietta Tschudakowa als „Bequemlichkeit der Gewalt“ bezeichnet wird. Viele Schriftsteller und Philosophen fragten: Kann man denen recht geben, die sagen, dass es in den Jahren der sowjetischen „Stagnation“ leichter war zu arbeiten, dass der Verzicht der Hoffnung auf baldigen Erfolg und unverzügliche berufliche Anerkennung die besten Voraussetzungen zur Vervollständigung eines Manuskripts waren? Seitdem sind Jahre vergangen, inzwischen wurde eine Generation abgelöst… und das Thema ist verschwunden, hat sich aufgelöst. Der hungrige Künstler, der als Heizer arbeitende Poet – sie haben aufgehört Helden unserer Zeit zu sein.

Eine Elite kann man genauso wenig zielorientiert heranbilden wie einen Intellektuellen. Sie bilden sich als Antwort auf ein entsprechendes Bedürfnis in der Gesellschaft. In der neuen postsowjetischen Gesellschaft gab es eine Nachfrage nach primitiven Schutzgelderpressern und Devisen-Prostituierten. Nichtsdestotrotz sind ohne jegliches gesellschaftliches Bedürfnis auch Intellektuelle herangereift. Das Pech ist nur: diese klugen und sozial aktiven jungen Leute ziehen es vor, in einer anderen, für sie bequemeren Gesellschaft zu leben – der europäischen oder nordamerikanischen.

Dasselbe gilt für den Patriotismus. Der offizielle „Karriere-Patriotismus“ ist zusammen mit den sowjetischen Mythen gestorben (gemeint ist ein dekorativer Patriotismus, mit dem sich u.a. (die sowjetischen) Staatsdiener „von der Tribüne herab“ schmück(t)en – A.d.Ü.). Er wurde von einem ziemlich primitiven ethnischen Patriotismus abgelöst, der sich bei näherer Betrachtung ebenso als karrieristisch entpuppt. Die aufrichtige, schöpferische und vom Gefühl durchdrungene Beziehung zum eigenen Land, hat sich allmählich in Richtung des unaufrichtigen und korrupten Staats selbst bewegt. Die Symbole der sowjetischen Zeit sind verschwunden, nicht aber ihre Wertstrukturen, nicht die Konstruktion der Wirklichkeit. Poeten und Schriftsteller, die – von den sowjetischen Behörden unbehelligt – ehemals Lenin, die KPdSU und das System die Kollektivwirtschaft rühmten, stellten sich rasch an die Spitze der „nationalen Idee“. Die Reaktion der neuen intellektuellen Jugend der Ukraine war Abwendung. Leider haben sich manche auch vom ganzen Land abgewendet.

Herr Kutschma, der sich heute für den „besten Präsidenten der Ukraine“ hält (so hat er sich in einem Gespräch mit einem meiner guten Bekannten stolz genannt), brachte das Land an den Rand eines Bürgerkriegs. So gierig war er auf eine dritte Amtszeit als Präsident… Doch es siegte der gesunde Menschenverstand und das Land beruhigte sich. Hunderttausende junge Ukrainer, die 2004 an den aktiven Straßenprotesten teilnahmen, glaubten an eine bessere Zukunft für sich und die Ukraine. Leider hat es wieder keine bessere Zukunft gegeben. Der untaugliche Präsident Juschtschenko hat Janukowitsch geholfen, an die Macht zu kommen. Die ukrainische intellektuelle Jugend verließ das Land. Für immer. Das sagte mir ein talentierter junger Mann, der davon träumte, an der aktuellen zeitgenössischen biologischen Forschung teilzuhaben: „Mein Land hat keine Zukunft. Ich möchte ihr Schicksal nicht wiederholen, nehmen sie es mir nicht übel.“ Ich habe es ihm nicht übelgenommen. Ich habe alles verstanden.

Und plötzlich – ein Wunder. Unerwartet, hell, aufrichtig. Studenten liefen auf die Straße, um nur das eine zu sagen: „Wir wollen nach Europa!“. Das weitere ist bekannt. Dann der Krieg. Seltsam, unerklärt. Aber real.

Und wieder ein Wunder: bei völliger Nichtbeteiligung des impotenten ukrainischen Staates und seiner Politiker, die sich an den Studenten festsaugten, haben sich die Ukrainer als echte Bürger gezeigt! Wie Experten bestätigen, ist der Strom an jungen Leuten, die sich ins Ausland absetzen, allmählich zu einem Rinnsal geworden. Viele von ihnen haben die Route geändert und fahren in den Osten der Ukraine. Ihr Land zu verteidigen.

Alles, was ich oben dargelegt habe, ist bekannt. Eine Banalität. Doch es gibt eine Frage, die sich die Ukrainer immer häufiger stellen: wie lange werden die, die an die Macht gekommen sind, noch vorgeben, dass sie das Land führen? Heute verdeckt die Staatsmacht ihre Impotenz (oder aktive Unlust) mit Worten über die Priorität des Krieges und die damit verbundenen Probleme. Obwohl unsere Führung, wenn wir ehrlich sind, auch zum Krieg im Osten keine Beziehung hat. Nicht sie kleidet und bewaffnet den ukrainischen Soldaten.

Also – wie lange?

6. Februar 2015 // Semjon Glusman – Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Dienstes für Strafvollzug der Ukraine

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Helena Maier  — Wörter: 882

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