Wie schrecklich ist der Teufel des Konsumbooms für die Zahlungsbilanz?
Es bleibt noch mehr als ein Monat bis zum Jahreswechsel, aber Handelsketten und Banken haben schon ziemlich aktiv mithilfe der Werbung (v.a. über TV-Spots) begonnen den Konsumentenrummel vor den Feiertagen anzuheizen. Einige „Verführer“ bieten ganz traditionell u.a. einen „Nullprozentkredit“ an und schon fast hundertprozentige Preisrabatte auf Kühlschränke, Fernseher und Mikrowellen.
Laut einer von der Beratungsgesellschaft „Deloitte“ durchgeführten Umfrage beabsichtigen Ukrainer durchschnittlich 3.665 Hrywnja (ca. 333 €) pro Familie für Neujahrseinkäufe auszugeben, was 23,4% mehr als im Vorjahr sein würde. Das sticht schroff gegen die Tendenzen in Europa ab, mit dem uns zu vergleichen und mit dessen Wohlstand zu rechnen wir, Ukrainer, uns angewöhnt haben (allerdings musste man ihn in den letzten Monaten ernsthaft anzweifeln). In Griechenland z.B. wird ein Rückgang der Neujahrsausgaben um 22% erwartet, in Portugal um 7,3% und in Italien um 2,3%. Wie die Urheber der Untersuchung anmerken, diese besondere Dynamik in der Ukraine werde nicht nur durch die Inflation und einen Anstieg des Verbraucherpreisindexes bedingt, sondern auch die Volkssitte allen Schwierigkeiten zum Trotz ausgelassen zu feiern.
Es sei daran erinnert, dass von Januar bis Oktober der Warenumschlag im ukrainischen Einzelhandel um 14,1% im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum in 2010 gewachsen ist. In den zehn Monaten wurden 36,8% mehr Automobile erworben (175 Tausend). Zum Jahresende erwarten die Verkäufer von Haushaltstechnik und –elektronik eine Erhöhung ihrer Umsätze um 20 bis 30 Prozent (um 5 bis 5,5 Milliarden USD).
Auch Banken tragen dazu bei. Während des laufenden Jahres haben sie Konsumkredite im Durchschnitt bis fast 1 Mrd. USD pro Monat vergeben; während des letzten Jahres um das Eineinhalbfache weniger. Proportional hochgerechnet könnte die Bevölkerung im November und Dezember Konsumkredite von 2,5 bis 3 Mrd. USD erhalten (entsprechender Zeitraum in 2010: ca. 1,5 Mrd. USD).
Die Eigenart des derzeitigen Konsumbooms besteht darin, dass der Erwerb verschiedener Waren für viele Ukrainer als eine Art „Antikrisenmaßnahme“ gilt. Um im Schwall der zweiten Krisenwelle nicht die ohnehin schon ziemlich mageren Ersparnisse zu verlieren, versuchen unsere Landsleute sie wenigstens in etwas anzulegen. Da für Großerwerbungen wie Immobilien das Geld für gewöhnlich nicht reicht, konzentrieren sich viele Menschen eben auf Konsumgüter. Auch wird schon im Fernsehen über eine boomende Nachfrage nach Goldschmuck berichtet. Allerdings stellen schon die Autoren dieser Beiträge fest, dass es nicht die beste Art und Weise ist, seine Ersparnisse zu erhalten. Beim Erwerb von Juwelierartikeln aus Edelmetallen zahlt man noch nämlich für ihren künstlerischen Wert einen satten Aufschlag, der aufgrund der langsamen Umschlagsgeschwindigkeit dieser Waren ziemlich willkürlich ist. Deshalb kann man Schmuckartikel später sehr selten zu einem Preis über dem des Altgoldes umsetzen. (Eine Ausnahme bilden nur seltene Fälle, in denen die Erzeugnisse wirklich einen hohen künstlerischen Wert haben.) Und auch die Zusammensetzung dieses Altgolds hat selten einen hohen Materialgehalt, so dass Verluste aus Anlagen dieser Art durchschnittlich mindestens die Hälfte des Kaufwertes betragen.
Traditionell kann ein Hoch der Konsumaktivität sich ernsthaft auf die Inflation auswirken. Allerdings hat die Zentralbank nach einer ziemlich lang anhaltenden Periode der Großzügigkeit, vom Frühlingsende bzw. Sommerbeginn des laufenden Jahres an, den Geld- und Kreditmarkt in eine sehr enge Zange genommen.
Im Endeffekt ist es den gemeinsamen Bemühungen der Zentralbank und der Regierung gelungen, das Wachstum der Verbraucherpreise spürbar zu begrenzen (von Januar bis Oktober betrug es 4,2% und 5,4% über den Jahreszeitraum hinweg). Und zum Jahresende hin, wie bereits mehrfach angekündigt wurde, wird die Inflation sogar geringer als in der Haushaltsprognose der Regierung ausfallen (8,9% von Dezember bis Dezember).
Deshalb bereitet jetzt eine mögliche Ausweitung des „Loches“ in der Handelsbilanz bekanntlich die Hauptsorge. Dieses könne das zerbrechliche Gleichgewicht innerhalb der ganzen Zahlungsbilanz stören und damit den Wechselkurs negativ beeinflussen.
In den ersten drei Quartalen des laufenden Jahres, so sei erinnert, betrug das Handelsbilanzdefizit 9,151 Mrd. USD, was fast zweimal soviel ist, wie in der entsprechenden Periode in 2010, und nur um ein Drittel weniger als zwischen Januar und September 2008. Die Ursache: das Wachstumstempo der Importe überholt das der Exporte. Allerdings behaupten einige Experten, dass tatsächlich das physische Volumen der für Konsum verwendeten Importe, im Unterschied zum Einkaufswert der Energieträger, wenn auch wächst, dann nur um sehr unbedeutende Raten. Und die Tatsache, dass die amtliche Statistik eine Erhöhung des Importwerts anzeigt, sei im Wesentlichen mit einer Erhöhung des Zollwerts eines Großteils des grenzüberschreitenden Warenverkehrs zu erklären (wegen der Notwendigkeit die Einnahmen in den Staatshaushalt zu erhöhen).
Zur Zeit stellen Energieträgerimporte die höchsten Risiken für die Zahlungsbilanz dar. Es sei erinnert, dass „Naftogas“ in den letzten zehn Monaten ca. 10 Mrd. USD an „Gasprom“ für den blauen Treibstoff überwiesen hat. Dabei, so die amtliche Statistik, betrug der negative Handelsbilanzsaldo z.B. für den Posten der Beförderungsmittel 630 Mio. USD in drei ersten Quartalen, der Haushaltstechnik – 447 Mio. USD und der Erzeugnisse der Möbelindustrie – 10 Mio. USD. Die Indikatoren sprechen, wie es heißt, für sich. Sie sind einfach unvergleichbar.
Wenn es Kiew also dennoch gelingen sollte, die versprochene Vereinbarung mit Russland über eine bedeutende Senkung des Einkaufswerts für russisches Gas zu erreichen, sollte sich die Lage wirklich stabilisieren.
Ferner achtet man in der Zentralbank darauf, dass bei einer Analyse der Wechselkurserwartungen nicht nur der Zustand des Außenhandelsumschlags, sondern auch der Zahlungsbilanz insgesamt berücksichtigt wird. Für das laufende Jahr nämlich, so die Zentralbankprognose, soll der Saldo der letzteren einen, wenn auch nicht überwältigenden, Überschuss aufweisen. In den letzten Tagen hat der Zentralbankpräsident Sergei Arbusow noch einmal öffentlich versichert, dass „nichts den Wechselkurs bis Jahresende erschüttern könne“.
Wenn aber auch mit dem laufenden Jahr alles mehr oder weniger klar ist, und Experten zugeben, dass mindestens bis zum Neujahr die Wechselkursstabilität kaum etwas Ernsthaftes bedroht, wie geht es weiter? Wird die Zentralbank etwa in der Lage sein mit einer unentwegt eisernen Hand auf den Geld- und den Kreditmarkt zu drücken ohne das Risiko einzugehen die volkswirtschaftliche Aktivität völlig abzuwürgen, die ohnehin schon zu hinken begonnen hat?
Die Politik setzt nun auf eigene Investitionsprojekte. Im Besonderen wird im Rahmen der Erfüllung des von der Regierung verabschiedeten Entwicklungsprogramms der Binnenproduktion die Umsetzung von 159 Innovationsprojekten im Gesamtwert von mehr als 349 Mrd. Hrywnja (ca. 31,7 Mrd. €) vorgesehen.
Auch beabsichtigt das Kabinett, wie neulich Premierminister Nikolai Asarow erklärte, zwischen 2013 und 2015 die jährlichen Importwachstumsraten auf 9 bis 9,5% abzusenken, und gleichfalls ein durchschnittliches Exportwachstum von nicht weniger als 7 bis 10% pro Jahr zu ermöglichen.
Im Endeffekt, will man dem Premierminister glauben, wird es die Möglichkeit geben ein nachhaltig positives Handels- und Dienstleistungssaldo auf einem Niveau von 1,5 bis 2 Mrd. USD bis zum Jahr 2015 zu erreichen.
In einem speziell ausgearbeiteten Plan der Maßnahmen zur Vermeidung des Außenhandelsdefizits der Regierung, der am 26. Oktober in Kraft getreten ist, empfahl das Kabinett der Zentralbank „eine Erhöhung des Niveaus der Konsumkreditvergabe zu vermeiden“, indem die Anforderungen an eine Vergabe von Konsumkrediten „unter Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit der natürlichen Person des Kreditnehmers“ verschärft werden.
In demselben bereits erwähnten Plan stellte das Kabinett die Notwendigkeit „ eines Einsatzes der Prioritätsfinanzierung der Entwicklung des Realsektors der ukrainischen Wirtschaft“ fest, indem „Kreditmittel aus der Sphäre der Konsumkredite in die Sphäre der Produktion umgeleitet werden.“ Außerdem, bekräftigte die ukrainische Regierung ihre Absicht Zinskosten für diejenigen Kredite zu subventionieren, die „in die Entwicklung oder Organisation der Produktion“ fließen. Diese Erklärung wirkt ziemlich unzuverlässig in Anbetracht dessen, dass sie nicht mit konkreten Taten der Regierung einhergeht. Zum Beispiel, im Haushaltsentwurf für 2012 wurden nur einige Hundert Millionen Hrywnja für die Förderung des Wohnungsbaus vorgesehen. Eine Aktivierung dessen würde wiederum einen positiven Synergieeffekt auf eine Reihe von anderen Sektoren der ukrainischen Wirtschaft auslösen. Dazu würde auch die ukrainische Metallproduktion gehören, die Nachfrage nach deren Erzeugnissen im Ausland bereits im Sinken begriffen ist.
Bei den Banken sind die Initiativen zu einer Begrenzung der Kreditvergabe naturgemäß nicht sehr beliebt. Sie haben mehrfach angezweifelt, dass diese Maßnahmen den Zustand der Handels- und der Zahlungsbilanz verbessern würden.
Der Mitglied des Lenkungsrates der Zentralbank, oberster Berater der ukrainischen Zweigstelle der „Alfa-Bank“ Roman Speck, meint, dass die Regierung, im Gegenteil, Banken von der Kreditvergabe an Unternehmen abbringen und de facto zu einer stärkeren Betätigung auf anderen Märkten (u.a. für Konsumkredite) zwingen würde – der Nichtrückerstattung der Umsatzsteuer an exportierende Unternehmen wegen. Die Steuer wird im Voraus eingenommen. „Die Bank kann Mittel für ein neues Projekt zur Verfügung stellen, kann aber nicht finanzielle Engpässe des Kreditnehmers beleihen. Der Gesamtzustand unserer Volkswirtschaft führt dazu, dass wir in andere Sektoren, also weg von Unternehmen gedrängt werden, mit denen wir jedoch gerne zusammenarbeiten würden“, sagt er.
Dabei, fügt er hinzu, wird eine Abkühlung der Konsumkonjunktur die ukrainische Wirtschaft nicht vor Konsumimporten schützen, während im Schattensektor bedeutende Warenvolumina umgesetzt werden. Und eine viel effektivere Maßnahme wäre der Kampf der öffentlichen Hand gegen diese „grauen“ Importe. Der entsprechende Punkt in dem von der Regierung verabschiedeten Plan existiert übrigens auch: „Einsatz moderner Mittel der Zollkontrolle und der Durchführung der Zollwertermittlung aller Kategorien importierter Waren“, „Aufbau und Einsatz eines automatisierten Risikosteuerungssystems bei der Durchführung von Zollverfahren“, und so weiter. Die Frage ist nur, wann es gemacht wird. Wenn es überhaupt irgendwann mal gemacht wird.
Und die Zentralbank? Laut Direktorin der Hauptabteilung für Geld- und Kreditpolitik Jelena Scherbakowa, bei der Frage der Eindämmung der Konsumkreditvergabe, ist die Bankenregulierungsbehörde zu einem Kompromiss bereit, „mit dem jeder leben kann – die Zentralbank einerseits und das Bankensystem andererseits.“
Noch haben die Zentralbank und die Marktteilnehmer sich nicht auf ein Kompromissmodell einigen können. Allerdings ist der Bankenhüter von seinem ursprünglichen Standpunkt bereits abgewichen, als er von der Absicht abrückte, Finanzinstitutionen den Status einer Spezialbank zu verleihen und dafür die Erfüllung der gängigen Vorschriften im doppelten Ausmaß zu verlangen.
Im Austausch dafür, sei erinnert, schlug die Zentralbank die Norm „des insgesamt erlaubten Umfangs der Konsumkredite“ vor. Dieser würde als Verhältnis des Portefeuilles der vergebenen Konsumkredite zum Stammkapital berechnet werden und 300% nicht überschreiten dürfen. Außerdem plante der Bankenhüter Beförderungsmittel aus der Liste der möglichen Pfandgegenstände als Reserven für Kredite der natürlichen Personen herauszunehmen und Konsumkrediten, die für den Erwerb von Importwaren verwendet würden, Ausfallrisiken von 200% zuzuschreiben. Freilich stieß auch diese Variante auf die Kritik der Geschäftsbankenwelt.
Während Politik und Privatwirtschaft sich hitzige Debatten liefern und nach Kompromissen rangen, schafft die Annäherung der zweiten Krisenwelle und mit ihr die Abkühlung der ukrainischen Konjunktur offensichtliche Risiken auch für den Konsumboom im Land, was wahrscheinlich auch zu einer konsequenten Verkleinerung des Konsumkreditmarktvolumens führen wird. Ein markantes Symptom dessen ist im Besonderen das verminderte Interesse internationaler Einzelhandelsketten für den ukrainischen Markt. So rutschte die Ukraine, laut einer Untersuchung des Immobiliendienstleisters CBRE, in der Kategorie der Entwicklung des Einzelhandels vom Platz 17 im Jahr 2011 auf den Platz 23 im Jahr 2012.
Zu einer Verminderung ihrer Geschäftstätigkeit auf dem ukrainischen Markt wird die ausländischen Tochterbanken im Besonderen auch eine Erhöhung der Forderungen an das Kapital ihrer europäischen „Mütter“ beitragen. Berücksichtigt man die Schwierigkeit neue Ressourcen anzulocken, gehen Experten von einem „Deleveraging“ als möglichst realistischem Szenario aus; oder einer Verminderung des Kreditportefeuilles. Dieser Prozess hat in Osteuropa im Grunde genommen schon begonnen. Und ob ein Mittel gefunden wird ihm entgegenzuwirken, ist die große Frage.
25. November 2011 // Wassilij Passotschnik
Quelle: Serkalo Nedeli