Wie viel kostet schlechte medizinische Behandlung?


Ende der 1960er Jahre landete ein amerikanischer Tourist in Moskau mit einem gewöhnlichen Passagierflug , der direkt zum Zentralbüro des KGB der Sowjetunion weiterfuhr. Dort erklärte er: „Ich bin Offizier des amerikanischen Geheimdienstes. Ich möchte nicht in den USA leben. Bitte gewähren Sie mir politisches Asyl.“

Können Sie sich vorstellen, welche unerwartete Freude die KGB-Führung verspürte: Der Amerikaner war tatsächlich ein CIA-Offizier! Die Begeisterung der Mitarbeiter des Komitees für Staatssicherheit der Sowjetunion verflog leider jedoch schnell, da es sich bei dem Flüchtling um einen schwer kranken Mann handelte, der ihnen nur miserable Informationen liefern konnte. Eigentlich direkt hatten die Moskauer Ärzte ihm die Diagnose „Schizophrenie“ gestellt. Der Unglückselige, der kategorisch ablehnte in die USA zu seiner Frau und Tochter zurückzukehren, wurde in einem psychiatrischen Krankenhaus nahe Moskaus untergebracht, wo er unter russischen Namen etwa 20 Jahre verbrachte. „Sicherheitshalber“ haben die dortigen Ärzte ihn keiner Behandlung unterzogen, die KGB-Offiziere aber haben sehr bald das Interesse an ihm verloren.

In den frühen Jahren der Gorbatschow-Ära reiste eine Delegation der Amerikanischen Psychiatrischen Assoziation ein, um die Einhaltung der diagnostischen Kriterien im psychiatrischen System der Sowjetunion zu überwachen. Einige sowjetische Dissidenten wurden damals noch als „psychisch kranke Kriminelle“ in gesonderten psychiatrischen Kliniken des Innenministeriums der UdSSSR „behandelt“. Die Amerikaner sollten die Situation objektiv beurteilen, sich mit den Opfern des psychiatrischen Missbrauchs treffen sowie deren Tätern, sowjetischen Psychiatern. Der KGB war selbstverständlich wie immer außen vor gelassen; ein Treffen mit den Auftraggebern der Verbrechen war nicht vorgesehen. Geleitet wurde die amerikanische Delegation von Dr. Lauren Ross, Professor für Psychiatrie in Pittsburgh. Er war es, der mir von seinem Auftrag erzählte: Er sollte sich mit dem geflohenen CIA-Offizier treffen, ihm Fotografien von seiner Frau und Tochter überreichen und im Namen der Familie vorschlagen, so schnell wie möglich zurück nach Hause zurückzukehren. Nachdem er den Kranken besucht hatte, erzählte mir Dr. Ross: „Das erste Mal habe ich einen unter Schizophrenie leidenden Menschen gesehen, der niemals Medikamente verabreicht bekommen hatte. Ungeachtet dessen, dass seine Diagnose keine Zweifel offen lies. Unglaublich…“

Nicht zufällig habe ich diesen längst vergangenen Vorfall so ausführlich geschildert. Er charakterisiert in gewisser Weiser die heutige Situation in der Ukraine. In der einfach immer noch keine Unterteilung der sozialen Psychiatrie existiert (bitte lassen Sie sich nicht von den zahlreichen Dissertationen zu diesem Thema täuschen), wo der ambulante psychiatrische Dienst des Gesundheitssystems fast vollkommen zugrunde gerichtet ist. Und so wurde im Jahr 2004 von der Ukrainischen Psychiatrischen Assoziation zusammen mit dem Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie und dem Institut für Psychiatrie der Stony-Brook-Universität (USA) die groß angelegte, einmalige multidisziplinäre Studie zur Häufigkeit einer psychiatrischen Pathologie unter der ukrainischen Bevölkerung abgeschlossen. Die Ergebnisse haben Eindruck hinterlassen. Eines für diesen Artikel erwähnenswerte ist Folgendes: Von den Einwohnern der Ukraine, die auffallend von der psychiatrischen Norm abweichen, haben lediglich 20 Prozent ärztliche Hilfe in Anspruch ersucht. Die übrigen 80 Prozent haben deswegen noch nie einen Arzt konsultiert.

Und so leben wir – schlecht. Es ist weder besonders vernünftig noch klug oder richtig, wie wir leben. Und wir erklären diese absolut niedrige Lebensqualität mit der Armut des Staates. Damit, dass dieser nicht genügend finanzielle Mittel zur Modernisierung des psychiatrischen Systems, zum Aufbau von sogenannten sozialpsychiatrischen Einrichtungen und zum Einsatz neuer, effektiver Medikamente hat. „Wir haben kein Geld!“, erklären uns, den treuen Steuerzahlern, die Reichen und Gutbetuchten, die sich noch niemals einen Fuß in eine solche medizinische Einrichtungen gesetzt haben, in der wir uns behandeln lassen. Unter ihnen auch diejenigen, die ihr riesiges Vermögen aus schmutzigen pharmazeutischen Geschäften gemacht haben, durch gigantische Bestechungsgelder oder ähnliches. Ob ich Namen kenne? Natürlich kenne ich die. Allerdings nur einige. Dies alles, mit Ausnahme der Namen, Beträge und Banken, ist aber auch den Mitarbeitern des ukrainischen Sicherheitsdienstes bekannt, nur dass diese sich schon lange nicht mehr ihrer Pflicht bewusst sind, dem ukrainischen Volk zu dienen, und wohl auch nicht mehr bewusst werden.
Wir zahlen Steuern. Von diesen Steuergeldern werden Medikamente gekauft. In der Regel, die schlechtesten und am wenigsten wirkungsvollen, mit schwerwiegenden Nebenwirkungen. Solche Medikamente werden uns zuzahlungsfrei verschrieben. Uns werden kostenfrei Medikamente verschrieben, die in zivilisierten oder auch nur etwas zivilisierten Ländern schon lange keinen Einsatz mehr finden. Medikamente der Geschichte der psychiatrischen Praxis angehören. Und uns wir gesagt: „Wir haben kein Geld. Unsere Steuergelder reichen nicht aus, um die Qualität des Gesundheitswesens zu verbessern!“. Doch niemand erklärt, warum die neuen, wirksamen Medikamente für psychische Erkrankungen in den ukrainischen Apotheken drei- bis viermal soviel kosten wie in Österreich, Belgien, oder Argentinien. Einiges andere wird ebenso wenig erklärt.

Wir zahlen Steuern. Von den Steuergeldern werden Lehrbücher herausgegeben. Unter anderem auch Lehrbücher für Medizinstudenten und Psychiater. Auf Ukrainisch versteht sich – das ist die wichtigste Anforderung. Es handelt sich um Lehrbücher minderer Qualität, die sowohl stilistisch als auch inhaltlich an Sowjetzeiten erinnern. In jedem beliebigen Medizinbuch zum Thema Psychiatrie, welches in Englisch, Deutsch oder Französisch verfasst wurde, findet sich ein gesondertes Kapitel über die wirtschaftlichen Aspekte des Problems. Der Leser erfährt: Die dargelegten Behandlungsmethoden und die Befolgung der beschriebenen sozialen oder institutionellen Neuerungen bringt wirtschaftlichen Gewinn mit sich! Das ist ein gewichtiges Argument, oft das vorherrschende.

Zur Information des Lesers meines Artikels: Wir Ukrainer erkranken genauso häufig wie alle anderen Bewohner dieses Planeten. So auch an Schizophrenie. Diese schwere (doch mittlerweile in bestimmten Fällen auch heilbare Krankheit) kommt hierzulande ebenso häufig vor wie bei den Einwohnern von Honduras, Polen und Japan. Allerdings sind die Heilungschancen bei uns gering, zumindest unter diesen Bedingungen, bei denen es nicht mal effektive Medikamente gibt. Die jährlichen Kosten, die im Zusammenhang mit der Krankheit entstehen, wurden in den USA bemessen und belaufen sich auf 18,5 Milliarden Dollar für unmittelbare Ausgaben des Gesundheitssystems und 46,5 Milliarden Dollar für mittelbare Ausgaben (auch indirekte Kosten genannt). An dieser Stelle bitte ich den Leser innezuhalten und sich die Zahlen nochmals vor Augen zu halten: die indirekten Kosten sind mehr als doppelt so hoch wie die höchst angenommenen medizinischen Kosten. Und wie sieht das bei uns in der Ukraine aus? Wir haben keinen blassen Schimmer. Es interessiert keinen. Wir kennen weder die Höhe der direkten noch der indirekten Ausgaben. Im Jahr 2002 gab die Ukrainische Psychiatrische Assoziation eine Übersetzung des auf Englisch erschienen Buchs „The Economic Evaluation of Mental Health Care“ heraus. Dort sind bis ins kleinste Detail sowohl die direkten als auch die indirekten Ausgaben aufgeführt. Aber es stimmt natürlich: Die Armen brauchen das Geld gar nicht erst zählen, das können die Reichen tun.

Es sind die Ökonomen im Ministerium, die unsere Gelder nicht erfassen wollen. Und nicht können. Um nur einige Ausgaben zu nennen, die in der finanziell schlecht gestellten Ukraine nicht erfasst sind. In den Krankenhäusern werden schon seit langem total veraltete Medikamente verabreicht. Billige natürlich. Solche, die die Krankheit und den Kranken vielmehr betäuben, als dass sie ihm eine Chance auf ein normales Leben ermöglichen. Vor einigen Jahren stellte ein schwedischer Kollege, der eine ukrainische Psychiatrie besucht hatte, fest: „In den ukrainischen Einrichtungen geht es ruhig und friedlich zu. Bei uns dagegen herrscht unaufhörlicher Lärm und Aufruhr…“. Aber was kostet uns diese Ruhe und Friedlichkeit?

Im Jahr 1991 besuchte ich im britischen Broadmore ein Gefängniskrankenhaus für psychisch Kranke, die ein Verbrechen begangen haben. Als ich den Saal betrat, in dem die Patienten arbeiteten (sie reparierten Computer und Fernseher), habe ich nicht einen mit den neurologischen Nebenwirkungen gesehen, die für unsere Krankenhäuser so typisch sind. Weil sie alle gute, neuartige Medikamente verabreicht bekamen. Und die von den archaischen Medikamenten zerstörten Lebern und Nieren, was kostet die Behandlung dieser Nebenwirkungen den ukrainischen Steuerzahler? Das ist nicht bekannt, die Ausgaben werden von einer völlig anderen Stelle zugeordnet und haben keine Verbindung zur Psychiatrie. Und Tuberkulose, die Geißel unserer Gefängnisse und stationären psychiatrischen Einrichtungen, wie viel unserer hart erarbeiteten Hrywnja geben wir für diese Folgeerscheinung aus? Auch das ist nicht bekannt, derartige Berechnungen gibt es in der Ukraine nicht. Und was ist mit den unmittelbaren sozialen Folgen: die Unmöglichkeit zur Rückkehr ins Arbeitsleben, die Zahlung der Behindertenrenten, der Zerfall von Familien und so weiter? All diese und weitere Folgekosten sind wir nicht in der Lage zu berechnen. Obwohl die Methoden bekannt und beschrieben sind. Und das Verschreiben zweier oder mehrerer gleichgerichteter Medikamente, der billigen, archaischen? Was kostet eine solche, manchmal auferzwungene Therapierung?

Es geht mir nicht um Mitgefühl oder Empathie. Für diejenigen, die die Fäden in der Hand haben, zählen solche Argumente nicht. Ich spreche von Geld. Ich, als ukrainischer Steuerzahler und professioneller Arzt, möchte nur zu gerne erfahren: Was kosten uns die billigen Medikamente wirklich? Darauf gibt es keine Antwort – und wird es auch nicht geben.

Na ja, was soll’s, ich bin gewohnt, dass meine Fragen unbeantwortet bleiben. Solange ich denken kann, habe ich Fragen gestellt, ohne Antworten zu bekommen.

25. November 2011 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:    — Wörter: 1452

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