Im Oktober 1972 verurteilt mich ein Kiewer Gericht. Genau da wurde ich offiziell zu einem gefährlichen Staatsverbrecher. Nach ein oder zwei Tagen raunte mir meine Mutter bei einer kurzen Besuch über den Tisch hinweg einen Satz zu, der die anwesenden Offiziere des KGB sehr empörte: „Geduld, mein Sohn. Es vergeht ein bisschen Zeit, dann werden sie dich schon rehabilitieren.“ Sie haben mich wirklich rehabilitiert, die Staatsanwaltschaft hat mir die Mitteilung per Post geschickt. Jetzt fangen sie an, in meinem Land diejenigen meiner Mitbürger zu rehabilitieren, die nicht unter den gerichtlichen Repressionen litten, sondern deren „Schuld“ einem anderen Willen des Schicksals folgte – sie leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen. Diese Rehabilitierung erfordert Zeit und Mühe, staatsanwaltschaftliche Papiere oder die des Gesundheitsministeriums wird man hier nicht erhalten.
Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts steht in der zivilisierten Welt die Losung der psychiatrischen Deinstitutionalisierung im Mittelpunkt. Die sogenannte antipsychiatrische Bewegung hat hier offensichtlich einen ernsthaften Einfluss. In dieser Zeit hat sich die Welt – allerdings ohne uns- darauf vorbereitet, die Anzahl der Krankenstationen und Betten zu verringern. Wir hingegen stopften unsere Krankenhäuser auf sowjetische Art weiter voll mit Patienten. Ältere ukrainische Ärzte haben noch vor Augen, wie auf einem schmalen Bett zwei Kranke, einander im Grunde unbekannte Menschen, schliefen.
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich die zivilisierte Menschheit entschieden, Stück für Stück in eine neue Ära der sozialen Psychiatrie und psychiatrischen Rehabilitation einzutreten. Wir haben uns da, wie immer, verspätet. Ich möchte das ein oder andere erläutern, da nicht alle Leser die Fachausdrücke kennen.
Das Problem der Deinstitutionalisierung ist die Funktionsfähigkeit von Gebäuden. Das Problem der Rehabilitierung ist die Funktionsfähigkeit der Menschen. Deinstitutionalisierung schließt Gebäude, Rehabilitierung öffnet Leben. Deinstitutionalisierung konzentriert sich auf Zwang- und Beklemmungslosigkeit der Kranken, Rehabilitierung auf die Unterstützung der Persönlichkeit. Deinstitutionalisierung öffnete die Türen der Krankenhäuser und gibt den Kranken bei der Entlassung ein Rezept für Medikamente. Die Rehabilitation versucht, Türen der menschlichen Gesellschaft zu öffnen und den Menschen zu helfen, ein Rezept für ihr Leben zu finden.
Es gibt zwei wichtige Aspekte, die die modernen Behandelnden aus irgendeinem Grund nicht erwähnen. Verwunderlicherweise ist es ausgerechnet der überwältigende Fortschritt der Pharmakologie, der sämtliche neue medizinische Mittel schöpft, die sowohl die Deinstitutionalisierung, als auch die Rehabilitierung in der Psychiatrie erleichtern.
Im Unterschied zu den früheren, ziemlich verunreinigten psychiatrischen Medikamenten sind die heutigen weniger giftig, dafür effektiver. Sie dämpfen die Krankheit nicht und dröhnen den Kranken auch nicht zu, sondern heilen wirklich. Und außerdem, was außergewöhnlich wichtig für jede Gesellschaft ist: Sowohl die Deinstitutionalisierung, als auch die Rehabilitation erlaubt es, das Geld des nationalen Steuerzahlers radikaler und wirtschaftlicher zu benutzen. Die bittere Wahrheit lautet, dass das unser Land, die Ukraine, fast nicht betrifft. Doch das ist Inhalt eines individuellen und schwierigen Gesprächs zwischen dem ukrainische Steuerzahler und der Regierung.
Anfang des 21. Jahrhunderts, also vor nur wenigen Jahren, wurde eine transnationale Studie durchgeführt. Das Ziel dieser Studie war es, mögliche Unterschiede in Psychiatrien in Westeuropa und den postsowjetischen Ländern auszumachen. Das bedeutet konkret: Der Unterschied in der Diagnostik, in den Heilungsmethoden und in der Beurteilung der Heilungschance bei dem einzelnen Patienten.
Die Resultate der Studie zeigten: Die Diagnostik ist bei uns im Großen und Ganzen adäquat gegenüber der des Westens (in den Jahren der Sowjetunion war eine solche Übereinstimmung natürlich nicht vorhanden), die Heilungsmethoden sind ebenso adäquat (mit dem Unterschied, dass unsere Ärzte bei Verschreibung der Medikamente die billigsten nehmen müssen), doch im Hinblick auf die Beurteilung der Diagnose gibt es einen großen Unterschied: Die Ärzte im Westen erwarten eine vollständige Heilung in 80 Prozent aller Fälle, unsere postsowjetischen Ärzte in nur 20 Prozent aller Fälle.
Ich erinnere mich, dass sie alle einzig den „Normalverlauf“ einer Krankheit betrachteten, mit anderen Worten, ein- und denselben Patienten. Um ein kleines Geheimnis zu verraten: Zu der Teilnahme an der Studie in den postsowjetischen Ländern wurden die besten Ärzte eingeladen – die, die dieser Studie würdig sind, so könnte man sagen. Ich kenne jeden Einzelnen von ihnen und kann mit Überzeugung sagen: Ihr professioneller Intellekt hat sich nicht von dem der westlichen Kollegen unterschieden. Woher kommt dann ein solcher Unterschied in der Beurteilung der Prognose?
Ich erkläre es Ihnen: Bei den in die Studie eingegangenen Ländern, inklusive der Ukraine, gibt es keine deutliche Deinstitutionalisierung und keine flächendeckende Rehabilitation. So leben wir fast gänzlich ohne Institute sozialer Psychiatrie. Wir leben schlecht und teuer. So teuer, dass unsere offiziellen Wirtschaftswissenschaftler Angst haben, die realen Ausgaben für das hiesige staatliche psychiatrische System zu zählen. Oder die können es nicht. Wer kennt sie schon.
Und trotzdem: Irgendetwas ändert sich. Wir ändern uns. Die Inseln psychiatrischer Rehabilitation werden immer öfter „ernster“ genommen, nicht nur für die Dissertationen. Mal abgesehen von dem Befehl von oben. Ich denke, es ist unsere Gesellschaft selbst, die eine posttotalitäre Rehabilitation durchläuft. So Gott will, wird auch der Staat mitziehen.
1. November 2011 // Semjon Glusman
Quelle: Lewyj Bereg
Forumsdiskussionen
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