Wolodymyr - mächtiger Zweig der Schuchewytschs
Ein ganzes Jahrhundert trennt uns von jenem Moment, an dem Wolodymyr Schuchewytsch, herausragender Ethnograf, Folklorist, Publizist, Pädagoge und Großvater des UPA-Kommandanten Roman Schuchewytsch (Taras Schuprynka), aus dem Leben getreten ist.
In jenen fernen Apriltagen des Jahres 1915 bewertete sein Mitstreiter Jewhen Olenyzkyj, Anwalt und Aktivist der Genossenschaftsbewegung, den Charakter dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit in einem Nachruf ohne Übertreibung folgendermaßen: „…ein Mensch mit aufrechtem und heißem Herzen ist von uns gegangen, mit starkem reinen Charakter, mit einem eisernen Willen und großer Energie, vor allem aber ein Mensch der Tat, derer es nur sehr wenige gibt unter uns, der seinen regen Patriotismus nicht durch Phrasen kundtat, sondern durch eine ganze Reihe vollbrachter Taten zum Nutzen seines Volkes.“
Wolodymyr Schuchewytsch wurde am 15. Mai 1849 im Dorf Tyschkiwzy geboren, im Karpatenvorland (Kreis Horodenka), in der kinderreichen Familie des Geistlichen Ossyp Schuchewytsch. Seine Erziehung durchlief er in den Gymnasien Kolomyja, Stanislaw und Tschernowzy, in denen ein untertäniger Geist herrschte und in denen die vom nationalen „Ich“ angeregten Fächer – ukrainische Sprache, Literatur und Geschichte – wild durcheinander unterrichtet wurden. Wegen seines ungehorsamen Charakters entließ man den jugendlichen Wolodymyr aus dem akademischen Gymnasium in Lwiw und schickte ihn zur Armee. Er diente in Budapest, Wien und Lwiw. Genau in diesen Städten erarbeite sich Wolodymyr Schuchewytsch seinen Weg zur höheren Bildung und Wissenschaft. Erst im Alter von 31 Jahren wurde er von der Realschule in Lwiw zum Professor nominiert und unterrichtete dort bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1913. Zu seinen Fächern gehörten Zoologie, Mathematik, Botanik, Mineralogie, Geologie und Physik.
Wolodymyr Schuchewytsch hat sich aber nicht nur auf das Unterrichten beschränkt. Seine gemeinnützige Energie überschritt diesen Bereich. Als Pädagoge verstand er: den Kindern bedurfte es als Reaktion auf die Polonisierung unbedingt an Schriften in ihrer Muttersprache. Aus diesem Grund war er einige Zeit als Redakteur bei der Zeitung „Dswinok“ tätig, die den Schülern die besten Werke der ukrainischen Literatur näher bringen und sie mit dem ethnografischen Erbe der Ukrainer bekanntmachen wollte. Zudem arbeitete er zehn Jahre als Redakteur beim „Utschytel“, der Zeitung der Ukrainischen Pädagogischen Gesellschaft, die Material zur Kindererziehung veröffentlichte. Unter Beteiligung des unermüdlichen Redakteurs gab die Gesellschaft eine Serie von Kinderbüchern heraus, die auch von Iwan Franko hochgeschätzt wurden. Während seiner Arbeit bei der Gesellschaft „Proswita“ vernachlässigte Schuchewytsch ebensowenig die Interessen der Kinder und gab das Lehrbuch „Wesnjanka“ und das Buch „Deschtscho pro sdorowlja“ heraus.
Es findet sich keine ukrainische Gesellschaft in jener Zeit, in der Wolodymyr Schuchewytsch nicht Organisator oder aktives Mitglied gewesen wäre. Mehrmals wurde er in die Leitungsorgane der Wissenschaftlichen Gesellschaft Taras Schewtschenko gewählt, war sogar Stellvertreter des Vorsitzenden.
Im Laufe von acht Jahren, von 1896 bis 1904, leitete Schuchewytsch die Gesellschaft „Ruska besida“. Gemeinsam mit Iwan Franko, Mychailo Gruschewskij und Ossyp Makowej erarbeitete er die neue Satzung der Organisation und gewann für sie eine ganze Reihe neuer Mitglieder. Bekanntlich hat die Gesellschaft „Ruska besida“ das erste professionelle Theater in Galizien gegründet, wofür Schuchewytsch das Repertoire ausgewählt und die Aufführungen für die Presse rezensiert hat.
Das Theater war aber nicht das einzige Kind der „Ruska besida“. 1891 wurde auf Initiative ihrer Mitglieder der Chor „Bojan“ gegründet. Schuchewytsch leitete ihn zwölf Jahre lang. Zum Chor gehörten eine Musikschule und eine Bibliothek. Ähnliche Gesellschaften entstanden in Przemyśl, Kolomyja, Snjatyn, Stanislaw (dem heutigen Iwano-Frankiwsk) und anderen westukrainischen Städten. 1905 gründete der Kompositor Mykola Lyssenko auf Rat von Schuchewytsch die Gesellschaft „Bojan“ in Kiew. Auch sein Traum davon, dass die Zeit kommen wird, in der „die Bojany von beiden Seiten der Grenze aufeinandertreffen und mit allen vereinigten Kräften ein grandioses Programm erstellen“, sollte sich erfüllen. Als 1901 das 10-jährige Jubiläum der Gesellschaft gefeiert wurde, schlug Schuchewytsch die Gründung eines „Bundes der Gesangs- und musikalischen Gesellschaften“ vor (was nach etwa zwei Jahren auch geschah). Es war dieser „Bund“, der die erste ukrainische Musikschule gegründet hat – das Höhere Musikinstitut (Wysschi musykalny institut) in Lwiw. Der „Bund“ selbst aber wurde schon kurze Zeit später in die Musikalische Gesellschaft Mykola Lyssenko umgewandelt.
Eine große Aufmerksamkeit widmete Schuchewytsch der ethnografischen Forschung und der Organisation von Museumsausstellungen. Bereits in seiner Jugend, seit einer botanischen Forschungsreise durch die Karpaten im Jahr 1873, studierte er das Huzulengebiet. Der Pädagoge und Gelehrte Schuchewytsch war beeindruckt vom ungewöhnlichen Kolorit des alltäglichen Lebens, der Folklore und Volkskunst der Huzulen. Ein eindringliches Resultat seiner jahrelangen Forschung wurde die fünfbändige Monographie „Huzulschtschyna“ (1899-1908). In ihr wird praktisch jeder Bereich abgedeckt – Wirtschaft, Handwerk, Nahrung, Kleidung, Bräuche, Religion, Lieder, Sprichwörter, Überlieferungen, Volksmedizin.
Wie der Historiker Petro Arsenytsch in seinem Buch „Rod Schuchewytschej“ betont hat, war Wolodymyr Schuchewytsch „der Erste unter den Ethnografen, der die Gesamtheit der Musikinstrumente der Huzulen beschrieben hat – die Geige, das Zimbal, die Flöte, die Maultrommel, die Hirtenflöte und andere“. Für diese Leistung wurde er zum ordentlichen Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft T. Schewtschenko gewählt, zum Mitglied der Österreichischen Gesellschaft der Völkerkundler und zum Mitglied der Ethnografischen Gesellschaft Tschechiens.
Schuchewytsch sammelte zudem huzulische Handwerkserzeugnisse für verschiedene Ausstellungen und Museen. Auf einer Ausstellung zu Textilhandwerk in Lwiw und Ternopil im Jahre 1887 präsentierten einige Huzulen ihre Kleidung und Fragmente einer Hochzeit zu Pferd. Auf einer Landwirtschaftsausstellung in Krakau wurde Schuchewytsch für seine huzulischen Exponate mit der Silbermedaille ausgezeichnet. Einige Zeit später (1890) zeigte er auch auf einer Ausstellung in Wien mehr als 300 Exponate, eine Kollektion, die sich großer Beliebtheit erfreute. Der Österreichisch-Ungarischen Kaiser Franz Joseph I. selbst besuchte eine von Schuchewytsch 1894 in Lwiw organisierte Ausstellung huzulischer Arbeiten.
Der unermüdliche und akribische Forscher war auch beteiligt an der Gründung einer Reihe von Museen in Galizien. Zehn Jahre lang war er Mitglied des Rates im Gewerbemuseum Lwiw. 1901 wurde in eben diesem Museum mit seiner Hilfe eine Abteilung mit den Exponaten aus dem Huzulengebiet eingerichtet. Daneben war er außerdem beteiligt an der Gründung und Entwicklung des Museums der Wissenschaftlichen Gesellschaft T. Schewtschenko und des Ukrainischen Nationalmuseums, dessen Gründer der Metropolit Andrej Scheptyzkyj gewesen ist. Schuchewytsch übergab dieser Einrichtung ethnographische Sammlungen aus Pokutien und dem Huzulengebiet: Irdenwaren, gestaltete Ostereier, Stickereien und viele Fotografien. Selbst in seiner eigenen Villa in Lwiw richtete er in einem der Zimmer ein Museum huzulischer Kunst ein.
Als 1914, zum Beginn des Ersten Weltkrieges, Lwiw von russischen Soldaten eingenommen wurde und die Mehrzahl der ukrainischen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur die Stadt verlassen haben, blieb Wolodymyr Schuchewytsch dort. In einem Ersuchen an den Grafen Scheremetjew bat er um den Erhalt der ukrainischen Kultur-, Bildungs- und Wirtschaftseinrichtungen sowie darum, die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche und die ukrainische Sprache nicht zu verfolgen.
Dadurch aber verärgerte er die Okkupationsverwaltung. Die Polizei begann Schuchewytsch nachzuspüren, doch gelang es seiner Frau Hermina ihn zu verstecken. Dennoch riefen diese Erlebnisse und eine Erkältung bei ihm eine Krankeit hervor, an der Wolodymyr Schuchewytsch am 10. April 1915 verstarb. Seine pädagogischen und wissenschaftlich-etnografischen Errungenschaften aber haben ihre Spur in der ukrainischen Geschichte hinterlassen.
Neben all dem zogen Wolodymyr Schuchewytsch und seine Frau Hermina, die eine bekannte Aktivistin für die Emanzipation der Frauen werden sollte, noch fünf Kinder groß. Ossyp-Zenon Schuchewytsch (der Vater des Kommandanten der UPA Roman Schuchewytsch), Kreis-Kommissar der West-Ukrainischen Volksrepublik und Richter. Darija Schuchewytsch (nach der Hochzeit Starosolskaja) wurde Pianistin, Organisatorin der Frauenbewegung, Herausgeberin der ersten Zeitschrift für Frauen in Galizien. Iryna-Sofija Schuchewytsch (Roschankowskaja), Mitglied im Chor „Bojan“ in Lwiw. Wolodymyr Schuchewytsch, der als Ingenieur und Architekt in Jugoslawien gearbeitet hat. Taras Schuchewytsch, Pianist und Professor am Höheren Musikinstitut Mykola Lyssenko in Lwiw, dem späteren Konservatorium.
19. Juni 2015 // Roman Jakel
Quelle: Dserkalo Tyschnja